Kahl, Wolfgang, Die Staatsaufsicht.

* Entstehung, Wandel und Neubestimmung unter besonderer Berücksichtigung der Aufsicht über die Gemeinden (=Jus Publicum, Beiträge zum öffentlichen Recht 59). Mohr (Siebeck), Tübingen 2000. XXII, 656 S. Besprochen von Franz-Ludwig Knemeyer. ZRG GA 119 (2002)

Knemeyer20010405Kahl Nr. 10255 ZRG 119 (2002) 86

 

 

Kahl, Wolfgang, Die Staatsaufsicht. Entstehung, Wandel und Neubestimmung unter besonderer Berücksichtigung der Aufsicht über die Gemeinden (= Jus Publicum 59). Mohr (Siebeck), Tübingen 2000. XXII, 656 S.

 

Nicht alle Tage besteht Veranlassung, eine öffentlich-rechtliche Habilitationsschrift in der Zeitschrift der Savigny-Stiftung für Rechtsgeschichte zu rezensieren. Zwar weisen vornehmlich öffentlich-rechtliche Dissertationen und Habilitationsschriften nicht selten rechtshistorische Einleitungsteile auf, sie beschränken sich aber regelmäßig auf Marginalien. Gerade der rechtshistorisch interessierte Habilitations- oder Doktorvater wird seinen Schülern raten, sich bei derartigen Einleitungen – in Dissertationen gerne auch zur Auffüllung des Umfanges eingesetzt – Zurückhaltung aufzuerlegen. Nirgends sind Dissertationen so leicht angreifbar wie in ausführlichen rechtshistorischen „Einleitungsteilen“.

Vor diesem Hintergrund ist es ein besonderes Vergnügen, die Augsburger Habilitationsschrift von Wolfgang Kahl – Schüler Reiner Schmidts – zu rezensieren. In der Erkenntnis des gerade im letzten Jahrzehnt deutlich werdenden Wandels im Verständnis der Staatsaufsicht, zielt die Arbeit Wolfgang Kahls auf eine Neubestimmung der Staatsaufsicht. Ausgehend von der Befehlsaufsicht im Subordinationsverhältnis, mit der sich die Rechtshistorie in Teil 1 und 2 (S. 1-345) eingehend befasst, entwickelt er – einem neuen Verständnis entsprechend – eine „Kooperativeaufsicht im Koordinationsverhältnis“ (Teil 3, S. 347-568). Schon die Angabe der Seitenzahlen vermittelt die Bedeutung für die in dieser Rezension im Vordergrund stehende rechtshistorische Aufarbeitung der Staatsaufsicht.

Im Anschluss an eine allgemeine Einführung geht die Arbeit im ersten Teil der Entwicklung der Staatsaufsicht von der frühen Neuzeit bis zum Nationalsozialismus nach (über 200 Seiten) und verfolgt Kahl im zweiten Teil auf nahezu 100 Seiten Entwicklung und Wandel „Von der Rechts- zur Vertrauensaufsicht“ (Knemeyer) unter der Überschrift „Die Staatsaufsicht als Teil der Verfassungs- und Verwaltungsgeschichte der Bundesrepublik Deutschland“.

Sieht man Staatsaufsicht als Korrelat der Selbstverwaltung, so zeigt die historische Entwicklung sehr deutlich den Wandel des Staatsverständnisses und der Position namentlich der Kommunen im Staat. Sie zeigt die Kuratelfunktion der Aufsicht und die wechselvollen Bestrebungen nach Eigenständigkeit der Kommunen im Staat bis hin zur Position gesellschaftlicher Unabhängigkeit und den Rückfall in Kuratelpositionen. Sie zeigt aber auch die Ausdifferenzierung der modernen Staatsaufsicht bis hin in die Sondersituation der „Staatsaufsicht unter dem Einfluss des totalitären Führerprinzips“.

Vor diesem rechtshistorischen Hintergrund ist die Entwicklung der Staatsaufsicht in den ersten 50 Jahren der Bundesrepublik Deutschland besonders gut nachzuvollziehen. War doch die Interpretation und Sichtweise der Staatsaufsicht in den ersten Jahrzehnten maßgeblich vom Prinzip der Kontinuität – der Anknüpfung an die Entwicklungen der ersten Jahre der Weimarer Zeit – bestimmt. Sie musste dies sein, da auch das Selbstverwaltungsprinzip und die Garantienormen in der Verfassung in ihrer Auslegung davon gekennzeichnet waren.

So ist dann in der über 600 Seiten zählenden Habilitationsschrift keine Zeile der rechtshistorischen Hinführung nur „lückenfüllend“ oder gar überflüssig. Die vielfältigen Diskussionen heutiger Tage können mit der Arbeit Wolfgang Kahls auf ein voll und ganz tragfähiges Fundament gestellt werden.

Seine „Dogmatik der kooperativen Staatsaufsicht“, die er im dritten Teil entwickelt, baut er konsequent aus der Analyse der historischen Erkenntnisse auf Grund der Feststellung begrenzter Leistungsfähigkeit des tradierten hierarchisch-bürokratischen Staatsaufsichtsmodells. In diesem Modell wird immer wieder die Einheit der Verwaltung und des Staates betont, die Staatsaufsicht als Band (Scharnier) zwischen dem Staat und dessen rechtsfähigen Verwaltungseinheiten gesehen. Der Staatsaufsicht kommt in so weit Verklammerungsfunktion zu, sie dient der Kompensation der durch die Dezentralisation hervorgerufenen Steuerungsverluste. Ihre Wurzeln findet die Staatsaufsicht im Demokratieprinzip, dem Rechtsstaatsprinzip und dem Selbstverwaltungsprinzip. Ihre Ausübung sieht Wolfgang Kahl in binnenadministrativen Kooperationsprozessen, so wie er das Prinzip der kooperativen Staatsaufsicht als Spezialfall des umfassenderen Grundsatzes des kooperativen Dezentralismus einordnet. Die Aufsichtspraxis steht für ihn „ganz im Zeichen von Verflechtung, Interaktion und Gespräch zwischen partnerschaftlich koordinierten Akteuren. Aufsicht und Kooperation sind damit zu einer dialektischen Einheit verschmolzen“. (S. 571). In gemeinsamer Aufgabenverantwortung – und im Ergänzungsverhältnis zur gerichtlichen Kontrolle – liegt die Entscheidung über das ob und das wie des Tätigwerdens im Ermessen der Aufsichtsbehörden. Den Aufsichtsprozess sieht Wolfgang Kahl dynamisch-prozedural gegliedert in drei von einander zu scheidende Phasen: die Vorklärungsphase, die Korrektur- und Berichtigungsphase und die Zwangsphase.

Dieses wohl gebaute, dogmatische Gerüst wird sicher in der Folgezeit der Diskussion unterzogen werden. Als Kommunalrechtler sehe ich, trotz der Betonung von Kooperation, eine der wesentlichen Funktionen der Staatsaufsicht – die Schutz- und Förderungsfunktion – ein wenig vernachlässigt. Für den Rechtshistoriker bedeutsam erscheint (allein) der Beweis, dass aus einer umfassenden und tiefgreifenden, auch die Erklärungshintergründe berücksichtigenden, historischen Analyse ein in sich geschlossenes System entwickelt werden kann.

Ein gutes Beispiel für die nicht selten doch mehr ins Abseits gestellte rechtshistorische Forschung.

 

Würzburg                                                                                           Franz-Ludwig Knemeyer