Kannowski, Bernd, Bürgerkämpfe und Friedebriefe. Rechtliche Streitbeilegung in spätmittelalterlichen Städten
DunckerKannowski20010915 Nr. 10460 ZRG 119 (2001) 31
Kannowski, Bernd, Bürgerkämpfe und Friedebriefe. Rechtliche Streitbeilegung in spätmittelalterlichen Städten (= Forschungen zur deutschen Rechtsgeschichte 19). Böhlau, Köln 2001. XL, 208 S.
In seiner in Frankfurt am Main als Dissertation angenommenen verdienstvollen Untersuchung über Bürgerkämpfe und Friedebriefe, die den gesamten deutschsprachigen Raum umfaßt, behandelt Kannowski städtische Bürgerunruhen vorrangig der Zeit von 1250-1450 und die zeitgenössischen Wege zur Befriedung und Beendigung dieser Unruhen. Daraus ergibt sich die schon im Titel angedeutete Unterteilung des Werkes in zwei voneinander getrennte Abschnitte, nämlich einerseits die Bürgerkämpfe und andererseits die Rechtsformen der Beendigung solcher Kämpfe, wobei Friedebriefe bzw. schriftlich fixierte Verfassungskompromisse nur einer von mehreren möglichen Wegen der Beendigung waren.
In seiner Einleitung (S. 1-7) führt Kannowski anhand des Züricher Rathaussturms vom 7. Juni 1336 in den Gegenstand ein. An diesem Tag gelang es den bis dahin amtierenden Ratsherren nur mit knapper Not, vor den aufständischen Bürgern zu fliehen und ihr Leben zu retten. In einer Urkunde des siegreichen Rebellenführers und neuen Bürgermeisters Rudolf Brun wurde einige Wochen später der Rathaussturm u. a. wie folgt begründet:
Der alte Rat habe Geld und Gut der Bürger und der Stadt verzehrt und sich geweigert, darüber Rechenschaft zu geben. Arme Leute habe er schmählich und hart behandelt und Personen aller Stände das Recht verweigert. Daraufhin hätten die Bürger den bisherigen Rat verjagt und einen neuen eingesetzt sowie eine neue Verfassung fixiert. Die alten Zustände sollten niemer eintreten und die neuen eweklich gelten.
Die Züricher Vorgänge - so Kannowski, dem aufgrund seiner mit vielen Fallbeispielen belegten Dokumentation zuzustimmen ist - sind im spätmittelalterlichen Stadtleben keinesfalls nur eine singuläre Erscheinung. Auch an vielen anderen Orten führten gewaltsame Konflikte zwischen Rat und Bürgerschaft zur Abfassung einer Urkunde, welche nach der Intention der Urheber die Konfliktlösung in Form eines Kompromisses begründen oder festhalten sollte und so dazu bestimmt war, bei der Beilegung eine entscheidende Rolle zu spielen (S. 2). Die beabsichtigte Lösung sei in der Regel auf Dauer angelegt gewesen. Kannowski bezeichnet solche Urkunden begrifflich als „Friedebriefe”. Sie verkörperten das Ideal eines wiederhergestellten innerstädtischen Friedens (S. 3). Der schon in einer Reihe von Quellen des 13.-15. Jahrhunderts nachgewiesene Begriff bezeichne den Gegenstand treffend, denn es handele sich um schriftliche Urkunden (Brief), welche Frieden und Recht - oder Frieden durch Recht - wieder herstellen sollten. Sie werden auch als Rachtungen (Richtungen), Schwörbriefe, regional zudem als Verbundbriefe (Rheinland) oder Bürgerbriefe (Ostseestädte) bezeichnet. Den Begriff der Bürgerkämpfe (anstelle von Zunftkämpfe, Zunftrevolutionen) verwendet Kannowski in Anlehnung an Czok und bestimmt sie als Auseinandersetzungen zwischen dem Rat und den seiner Herrschaft unterworfenen Bürgern im Sinne des mittelalterlichen Stadtrechts (S. 9).
Damit hat die Arbeit ihre zwei miteinander zusammenhängenden Schwerpunkte, die Bürgerkämpfe und Friedebriefe, definiert. Sie erkennt die methodische Schwierigkeit, Urkunden zu vergleichen, die in einem langen Zeitraum in verschiedensten Gemeinwesen entstanden sind (S. 5) und kann gerade deswegen in der Folge jede unangebrachte Vereinheitlichung geschickt vermeiden. Als - in dieser Form neue - spezifische Fragestellung untersucht die Arbeit (S. 7), welche Vorstellungen von Recht bei Entstehung und Beilegung der Bürgerunruhen zum Tragen kämen.
Im 1. Teil „Bürgerkämpfe“ (S. 9-68) werden diese Unruhen im Detail analysiert, geteilt in zwei Einzelabschnitte, wobei der erste (S. 9-38) sozusagen die „faktische“ stadtpolitische Seite behandelt und der zweite (S. 39-68) sehr überzeugend die spezifisch rechtshistorische Frage eines bürgerlichen Widerstandsrechts herausarbeitet. Im Rahmen der Stadtpolitik werden zunächst die Konfliktparteien beschrieben (S. 16-24): etablierte Ratsgeschlechter und oppositionelle Bürgerkreise, wobei die Führung und Nutznießung der Kämpfe eher von bisher nicht ausreichend politisch repräsentierten wohlhabenden Bürgern als vom armen populus ausgegangen sei. Sodann werden Ursachen der Kämpfe geschildert (S. 24-33): Amtsmißbrauch, Nepotismus, Steuerlast, parteiische Gerichte, Mißwirtschaft, auch äußere Ursachen wie die Pest. Vor allem aber wird auf die wiederkehrende „politische Todsünde“ der Hochmut hingewiesen. Die Arroganz und superbia von Patriziern habe immer wieder Unruhen ausgelöst, und ihr sei das „oppositionelle Ideal“ der bescheidenheit entgegengestellt worden. Zu Intensität und Ablauf der Ausschreitungen wird in Einzelheiten auf treffend gewählte Fallbeispiele der Zeit von 1309-1396 zurückgegriffen (Erfurt 1309/1310, Magdeburg 1330, Augsburg 1368, Korbach 1377, Köln 1369, Zürich 1336, Braunschweig 1374; S. 33-38), um dann angesichts der Gewaltsituationen den Wunsch nach Frieden (und immanent wohl auch nach Gerechtigkeit) zu formulieren.
Was das „bürgerliche Widerstandsrecht“ betrifft, so wird erörtert (S. 39), ob und inwiefern die Bürgerkämpfe im allgemein von einem Rechtsbewußtsein der Beteiligten getragen waren und damit als rechtshistorische Einheit betrachtet werden könnten. Hier wird mehrfach der Schlüsselbegriff des - in Anführungszeichen gesetzten - privaten „Kampfes ums Recht“ angesprochen, wobei eine kurze Auseinandersetzung mit oder zumindest ein - auch in den Fußnoten nicht erfolgter - Verweis auf Jhering die Diskussion sicher zusätzlich bereichert hätte. Sehr schön aber wird die Schwierigkeit auf den Punkt gebracht, im Bereich der Fehde - übertragbar auf den Bürgerkampf - von einer Zulässigkeit nach der „Rechtsordnung“ zu sprechen, wenn doch gerade deren Inhalt die umkämpfte Streitfrage darstellt. Sodann diskutiert die Arbeit Brunners Konzeption eines „Rechts“ auf Fehde (S. 41-43) und stellt ihm Algazi entgegen, wobei eingeräumt wird, daß Befunde zur ritterlichen Fehde nicht ohne weiteres auf städtische Bürgerkämpfe übertragbar seien. In der Folge wird an mitteldeutschen Fallbeispielen (Nordhausen 1375, Halberstadt 1423, Braunschweig 1374; S. 43-54) untersucht, auf welche rechtlichen Argumente die Opposition gewaltsame Handlungen stützte und ob sie bei der Ausübung ihres Widerstands Rechtsformen beachtete. Man berief sich damals u. a. auf eyne rechte notwere, auf Gott als Helfer, auf rechtmäßige Gewalt gegen eidbrüchige Ratsherren, auf Gleichsetzung bestimmter politischer Fehler und Pflichtverletzungen mit Verbrechen. Wenn Patrizier getötet werden, ist mitunter das Bemühen der Aufständischen um ein formales Gerichtsverfahren erkenntlich.
Sodann (S. 54-59) werden Rechtsformen des Widerstands beschrieben, wie „Bannerläufe“, bei denen Bürger Fahnen mit Stadtwappen mitführen, sowie Ähnlichkeiten mit der Verfolgung von Verbrechern auf handhafter Tat. Gegenpositionen der Patrizier (S. 59-62) sehen die Unruhen u. a. als unrechte Fehde, als Bruch der göttlichen Ordnung, Verletzung städtischer Verfassungsgewohnheit sowie des Bürgereides. Der bürgerliche Widerstand ist zwar von der formalisierten adligen Fehde zu unterscheiden, einige der Bürgerkämpfe werden aber von zeitgenössischen Quellen ähnlich wie Fehden behandelt (S. 63, vgl. S. 59/60). Mutmaßungen gelten der „Verfassungsmäßigkeit“ zumindest von unblutigen Massenprotesten (S. 64/65). Schließlich wird die These aufgestellt, Bürgerkämpfe hätten sich nicht in bloßen Machtkämpfen erschöpft, sondern seien zugleich als Verfassungskämpfe anzusehen.
Der zweite Teil der Arbeit beschäftigt sich nicht nur mit Friedebriefen (S. 91-191), sondern auch mit anderen – einseitigen – Rechtsformen der Beendigung von Bürgerkämpfen (S. 69-90). Dies umfaßt z. B. die Ächtung oppositionell regierter Städte (Verhansung, Reichsacht; erläutert an Beispielen aus Bremen, Lübeck und Halberstadt) oder die Verfolgung der Rebellen mit der Strafjustiz wegen eines crimen laesae maiestatis. Weit häufiger aber sei es eben zur Beilegung durch Friedebriefe gekommen, wobei solche Briefe selbst nach einem Scheitern der Rebellion oft umfassende Amnestieregelungen unter der Bedingung zukünftiger Kooperation enthielten (S. 90).
Die Friedebriefe werden im weiteren Verlauf in nahezu allen rechtlich relevanten Einzelheiten und unter hervorragender Verarbeitung aller wesentlichen in Frage kommenden Primärquellen analysiert. Dabei geht es in einem ersten Abschnitt um den Geltungsgrund des in den Briefen niedergelegten Rechts, in einem zweiten um den Inhalt der neuen Friedensordnung.
Der Geltungsgrund des neuen Rechts kann mit in seiner Schriftlichkeit liegen (S. 139-145), wobei u. a. die fundamentale Erschütterung der alten Ordnung es notwendig erscheinen ließ, zur sonst noch nicht selbstverständlichen Schriftform zu greifen. Vor allem aber ist Geltungsgrund des neuen Rechts das – gegebenenfalls eidlich gestützte – Verfahren, in dem es zustande gekommen ist (S. 91-139). Dies wird anhand der Frankfurter Richtung von 1358 im Detail erläutert. Diese wird als durch vertragsartige Einigung der Bürger entstandener, dinggenossenschaftlich gefällter, durch den Landvogt des Reiches kraft seiner Amtsgewalt erlassener und von den Bürgern eidlich bekräftigter Rechtsspruch gesehen. Seine Rechtsgeltung basiert damit auf mehreren „Stützpfeilern“ (S. 102/103), wobei diese Häufung von Geltungsgründen eine mehrfache Legitimation bewirken soll. In der Folge werden Einzelpunkte unterschiedlicher damaliger Verfahren untersucht: Beschwörung und Bedeutung der Schwurgemeinde, Rechtssprüche durch traditionale Herrscher, Stadtherr als „Richter“, Wille des Gesetzgebers (des Stadtherrn, des Rates) als Geltungsgrund, Sprüche auswärtiger bestellter Schlichter.
Zu den typischen Inhalten der neuen Rechtsordnung – oder Friedensordnung - gehört die Freundschaft (S. 147-158) als Leitbild des Stadtregiments. Freundschaft umfaßt Elemente von Gemeinsamkeit, Frieden und Gleichheit (z. B. bei der Rechtssetzung oder auch bei Schwörritualen). Ein weiteres Leitbild ist das „gemeine Beste“ – utilitas publica – als Maßstab der Richtigkeit von Politik und nicht zuletzt auch als Begründungselement des bürgerlichen Widerstandsrechts (S. 159-167). Anschließend wird die jeweilige Umsetzung oppositioneller Forderungen in den Friedebriefen untersucht (S. 168-191): Diese umfaßt in erster Linie unterschiedliche Wege zur breiteren politischen Beteiligung der Bürgerschaft. Daneben werden Beispiele für Auswirkungen auf Finanzverfassung (Verpflichtung zur Rechnungslegung) und Gerichtsbarkeit aufgeführt sowie für die Öffentlich-Machung zentraler politischer Sachverhalte, wie z. B. wichtiger Rechtshandlungen oder nunmehr schriftlich aufgezeichneter öffentlicher Ordnungsvorschriften, wobei letztere zugleich policeyrechtliche Aspekte aufweisen.
Kannowski stellt die These auf, „daß es im Mittelalter Formen von ,Öffentlichkeit‘ gab, die sich dem modernen Verständnis des Begriffs annäherten” (S. 184). Eine Zusammenfassung, eine Liste der bearbeiteten Friedensbriefe und ein Ortsregister beschließen das sehr klar und gewissenhaft strukturierte Werk. Trotz seiner scheinbaren Kürze geht es aufgrund der vermittelten Informationsdichte weit über das übliche Ausmaß einer Dissertation hinaus und überzeugt mit sehr reichhaltigen Fallbeispielen, die immer wieder direkt aus den Quellen geschöpft und anhand ausgewählter Urkundenzitate gekonnt in den Gang der Untersuchung eingeflochten werden. Aufgrund der ohnehin nahezu flächendeckenden Bearbeitung von bisher im deutschsprachigen Raum vorliegenden Friedensbriefen wäre es im übrigen nicht unbedingt zu erwarten gewesen, daß zusätzlich noch die über zahlreiche Archive verstreuten ungedruckten Quellen ausgewertet werden. Genau dies ist aber geschehen. Damit liegt eine sehr aufwendig erstellte echte Pionierarbeit im Bereich der Auswertung von Friedebriefen vor, die in dieser Form noch lange Zeit Bestand haben dürfte.
Kannowski gebührt das Verdienst, angesichts einer Reihe vorliegender Untersuchungen zu ritterlicher Fehde und Landfrieden nun gewissermaßen den Stadtfrieden herauszuarbeiten, wobei er überzeugend die Parallelen, Überschneidungen, aber auch Unterschiede zwischen Fehde und Bürgerkampf beschreibt. Betrachtet man den Friedebrief unter diesem Gesichtspunkt, so ist er nicht nur als Verfassungskompromiß, sondern, wie Kannowski zumindest implizit nahelegt, auch in seiner Funktion als Stadtfriedens-Vereinbarung zu betrachten. Der Auswahl und Gewichtung der Ortsbeispiele, mit häufiger Vertiefung u. a. von Köln, Lübeck und Braunschweig, ist zuzustimmen. Sehr beachtlich sind die Ansätze zu einer streng aus den zeitgenössischen Quellen abgeleiteten juristischen Theorie der Bürgerunruhen, des „bürgerlichen Widerstandsrechts“ und der Rechtsformen und Inhalte revolutionärer Verfassungssetzung. Nicht zuletzt lenkt Kannowski den Blick auf die oft vergessene und gängigen Pauschalurteilen widersprechende Geschichte Deutschlands als eines immer wieder unruhigen und „revolutionären“ Gebiets mit teils erfolgreichen Aufständen, das insofern in vielen Jahrhunderten anderen Teilen Europas in nichts nachstand.
Hannover Arne Duncker