L’istituzione parlamentare nel XIX secolo.
RanieriL’Istituzione20010622 Nr. 10434 ZRG 119 (2002) 55
L’istituzione parlamentare nel XIX secolo. Una prospettiva comparata. Die parlamentarische Institution im 19. Jahrhundert. Eine Perspektive im Vergleich, hg. v. Manca, Anna Gianna/Brauneder, Wilhelm (= Annali dell’Istituto storico italo-germanico in Trento, Contributi = Jahrbuch des italienisch-deutschen historischen Instituts in Trient, Beiträge 10). Società editrice il Mulino/Duncker & Humblot, Bolonga/Berlin 2000. 449 S.
Der vorliegende Band des Trientiner italienisch-deutschen historischen Instituts geht auf eine Tagung zurück, die am 22.-24. Oktober 1998 in Trient stattfand. Die damals gehaltenen Vorträge werden nunmehr - meistens in einer erweiterten und mit zahlreichen Fußnoten dokumentierten Fassung - veröffentlicht. Ein Vorwort von Wilhelm Brauneder und eine sehr ausführliche und dokumentierte Einführung von Anna Gianna Manca (S. 9-45) geben Auskunft über Zielsetzung und Ergebnisse des gesamten Unternehmens. Über die parlamentarischen Institutionen in der europäischen Geschichte des 19. Jahrhunderts ist das verfassungshistorische und sozialgeschichtliche Schrifttum inzwischen unübersehbar. Eine vergleichend angelegte und gesamteuropäisch dokumentierte Untersuchung zur Institution des Parlaments im aufkommenden Verfassungsstaat des 19. Jahrhunderts fehlt jedoch noch. „Was auf den ersten Blick ähnlich oder gar identisch erscheinen mag“, schreibt Brauneder zutreffend im Vorwort, „tritt auseinander, besieht man den Stellenwert eines konkreten Parlaments im politischen System.“ Auch die Rolle der parlamentarischen Instanz in der Geometrie der damaligen, sich neu definierenden konstitutionellen Monarchien ist von Staat zu Staat im damaligen Europa sehr unterschiedlich. Z. T. übertüncht die neu eingerichtete parlamentarische Institution in Wirklichkeit die noch nicht voll überwundene ständische Staatsverfassung. Ähnliche Unterschiede zeigen die Beziehungen und die Spannungen zwischen der Stellung des Parlaments als legislatives Organ und der Macht sowie den Zuständigkeiten der staatlichen Bürokratie. Gerade den hier skizzierten strukturreichen Unterschieden und gegenseitigen Beeinflussungen im Europa des 19. Jahrhunderts waren in den vergangenen Jahren zahlreiche Projekte gewidmet. Ein erstes Treffen von Verfassungs- und Sozialhistorikern wurde vom Institut für Rechtsgeschichte und Geschichte der politischen Institutionen an der Universität Messina in Sizilien bereits im Jahre 1996 organisiert. Zwei weitere Tagungen wurden ein Jahr später von Pierangelo Schiera und Martin Kirsch an der Humboldt-Universität zu Berlin veranstaltet. Ein ausführlicher Bericht zu der Tagung von 1997 ist inzwischen in der Zeitschrift für Geschichtswissenschaft, Bd.45, 1997, S. 918-922, erschienen. Deren Akten sind ebenfalls inzwischen publiziert in Band 18 der Reihe „Schriften zur europäischen Rechts- und Verfassungsgeschichte“: M. Kirsch/P. Schiera (Hrsg.), Denken und Umsetzung des Konstitutionalismus in Deutschland und anderen europäischen Ländern in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, Berlin 1999. Auch die Akten der ersten Tagung sind inzwischen im Druck. Eine weitere Tagung im Rahmen des genannten Projekts wurde von den spanischen Verfassungshistorikern José María Portillo und José María Iñurritegui organisiert: „Los fundamentos juridico-politicos del primer constitucionalismo europeo. La constitución española de 1812 y Europa“, Oñati, 27.-28. Februar 1997. Auch deren Akten sind inzwischen publiziert: J. M. Iñurretegui/J. M. Portillo (Hrsg.), Constitución en España: orígines y destinos (Centro de Estudios Políticos y Constitucionales), Madrid 1998. In diesen wissenschaftlichen Kontext ordnet sich die Initiative des Trientiner Instituts und die Publikation des hier vorzustellenden Aktenbandes ein. Über die Forschungslage und das bisher erschienene Schrifttum gibt in umfassender und dokumentierter Weise die Mitherausgeberin A. G. Manca Rechenschaft. Ein erster Teil des Bandes mit Beiträgen in deutscher, französischer, italienischer und spanischer Sprache bietet eine Gesamtübersicht über die Institution des Parlaments in den einzelnen europäischen Ländern. Aufgabenstellung der Beiträge ist vor allem, das Spannungsverhältnis zwischen der formalen Regelung in den neuen Verfassungen einerseits und den materiellen Macht- und Handhabungsverhältnissen in der parlamentarischen und Regierungspraxis andererseits zu beleuchten. Im ersten Beitrag von Wilhelm Brauneder, „Konstitutionalisierung und Parlamentarisierung in Österreich 1848 bis 1918“ (S. 49-78) wird die Handhabung der parlamentarischen Institution in dem Mehrvölkerstaat der Habsburger Monarchie umfassend analysiert. Der darauffolgende Beitrag von Stefano Merlini, „Il Parlamento e la forma di governo parlamentare nel periodo statutario“ (S. 79-94) konzentriert sich auf die parlamentarische Praxis nach 1848 im Königreich Piemont und Sardinien. Der verfassungsgeschichtlichen Entwicklung in Spanien in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts ist der Beitrag von Juan Ignacio Marcuello Benedicto, „Cortes y proceso político en los orígenes de la España constitucional (1810-1868). De la Monarquía ‚asamblearia‘ gaditana a la Monarquía ‚constitucional‘ liberal-moderada“ (S. 95-117) gewidmet. Spannend ist die Beschreibung der Handhabung der parlamentarischen Institution nach der Restauration in Frankreich im Beitrag von Maria Sofia Corciulo, „La ‚Chambre Introuvable‘ e i principi del regime parlamentare“ (agosto 1815-settembre 1816) (S. 119-137). Die Verfasserin zeigt durch eine eingehende Analyse der parlamentarischen Arbeit in den Monaten nach dem August 1815, wie die „reaktionäre“ und als ultrarealistisch und ultrakonservativ verschrieene „Chambre Introuvable“ in Wirklichkeit die Regeln der parlamentarischen Opposition entdeckte und in einer für sämtliche Beobachter überraschenden Weise ihr auch zur Geltung verhalf. Darin liegt übrigens - nach Ansicht der Verfasserin - auch der tiefere Grund, warum Louis XVIII. sich gezwungen sah, ausgerechnet dieses neu gewählte ultraroyalistische Parlament ein Jahr später aufzulösen. Der Beitrag von Hartwig Brandt, „Parlamentarismus in den deutschen Staaten bis 1870“ (S. 139-147) ist der parlamentarischen Praxis in den deutschen Staaten in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts gewidmet. Luigi Lacché, „Una ‚mobile complessità‘: l’istituzione parlamentare, la democrazia rappresentativa e i ‚diritti popolari‘ nella Svizzera post-quarantottesca“ (S. 149-174) analysiert dagegen die vormoderne ständische Verfassung in den schweizerischen Kantonen, wo eine moderne Parlamentsverfassung sich nur z. T. durchsetzen und etablieren ließ. Den Verhältnissen in Frankreich nach der Julirevolution ist der Beitrag von Alain Laquièze, „Le Parlement, organe de contrôle du gouvernement dans la France de la Restauration et de la Monarchie de Juillet“ (S. 175-191) gewidmet. Den österreichischen Verhältnissen, vor allem in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts bis zur Katastrophe des Ersten Weltkrieges und dem Ende der Donaumonarchie ist der Beitrag Lothar Höbelts, „Die Deutschliberalen Altösterreichs als Verfassungsbewegung 1848-1914“ (S. 193-222) zugedacht. Auf dieselben Jahrzehnte im Deutschen Reich ist der Beitrag Hans Boldts, „Das Deutsche Reich 1871-1918: ‚Konstitutionalismus‘ statt ‚Parlamentarismus‘“ (S. 223-235) konzentriert. Es folgt eine Analyse des Einflusses der Wahlgesetzgebung über Zusammensetzung und Arbeitsfähigkeit des italienischen Parlaments in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts und im Anfang des 20. Jahrhunderts in der Untersuchung Maria Serena Pirettis, „Le leggi elettorali e la loro incidenza sulla Camera dei deputati. Un’analisi della ricaduta delle riforme del 1882, 1912 e 1919“ (S. 237-265). Der letzte Beitrag dieses Abschnitts von Rudolf Palme, „Neoabsolutismus und Pseudokonstitutionalismus in Gesamttirol“ (S. 267-284) ist den speziellen und regionalen Besonderheiten Tirols gewidmet. Der zweite Teil des Sammelbandes und auch der damaligen Tagung ist dagegen im wesentlichen durch italienische Historiker bestritten worden. Er gilt den problematischen Beziehungen zwischen Parlament und staatlichen und ministeriellen Bürokratien im Italien des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts Inwieweit konnte sich die Legislative gegen die Macht und gegen die organisatorischen Vorteile der ministeriellen Verwaltung durchsetzen? In welchem Umfang beeinflußte die staatliche Bürokratie und das ministerielle Personal auch durch Mitgliedschaft in den Parlamenten die legislative Arbeit derselben? Die meisten Beiträge gelten dem italienischen Parlament des neu errichteten Königreichs Italien von 1861. Hier seien etwa folgende Beiträge genannt: Giovanna Tosatti, „Il Parlamento e le leggi sugli organici delle amministrazioni dello Stato“ (S. 287-298); Marina Giannetto, „Organizzazione della pubblica amministrazione e legge di bilancio. Facoltà dell’esecutivo, sindacato parlamentare e organi di controllo“ (S. 335-360); Antonella Meniconi, „I burocrati nel Senato regio“ (S. 361-389); Anna Gianna Manca, „I funzionari-deputati tra Parlamento e amministrazione in una prospettiva comparata“ (S. 391-429) und schließlich Francesco Soddu, „Il ruolo dell’amministrazione nel circuito legislativo“ (S. 431-449). Sämtliche Beiträge vermitteln in ihrer Gesamtheit eine eindrucksvolle, auch sozialhistorisch besonders gut dokumentierte Analyse der Beziehungen zwischen staatlicher Bürokratie und Mitgliedern des italienischen Parlaments. Es zeigt sich, wie häufig Mitglieder der staatlichen Verwaltung in ihrer Eigenschaft als Parlaments- und Senatsmitglieder direkten Einfluß und Zugriff auf die parlamentarische und legislative Arbeit im Interesse der eigenen Ursprungsverwaltung nahmen. Eine vergleichende Untersuchung für die übrigen europäischen Staaten fehlt hier. Eine Ausnahme gilt nur für den Beitrag von Frank Theisen, „Justiz und Parlament. Kurhessische Juristen als Abgeordnete“ (S. 299-333).
Betrachtet man die Gesamtheit der Beiträge, die in der Regel mit einer eindrucksvollen Quellen- und Literaturdokumentation publiziert werden, so kann man festhalten, daß dieser Sammelband eine wesentliche Grundlage für eine vergleichende verfassungshistorische und sozialgeschichtliche Analyse der Institution des Parlaments im europäischen konstitutionellen Staat des 19. Jahrhunderts darstellt. Nicht nur die Einführung der Herausgeberin, sondern auch die ständigen vergleichenden Hinweise in den einzelnen Beiträgen, vor allem im ersten Teil, vermitteln einen gesamteuropäischen Überblick zu dieser Thematik. Insgesamt kann man diesen Band deshalb als einen grundlegenden Beitrag zu einer europäischen Verfassungsgeschichte ansehen.
Saarbrücken Filippo Ranieri