Landschaften und Landstände in Oberschwaben.
DerschkaLandschaften20010910 Nr. 10334 ZRG 119 (2002) 41
Landschaften und Landstände in Oberschwaben. Bäuerliche und bürgerliche Repräsentation im Rahmen des frühen europäischen Parlamentarismus, hg. v. Blickle, Peter (= Oberschwaben – Geschichte und Kultur 5). Bibliotheca academica, Tübingen 2000. 328 S.
Oberschwaben, das ist das nordwestliche Hinterland des Bodensees: Von den Segnungen der Moderne länger als andere Gegenden Europas verschont geblieben, erweist es sich als landschaftlich reizvoll, indes ansonsten in beinahe jeder Hinsicht als unspektakulär. Für denjenigen, der frühneuzeitliche Verfassungszustände auf das Werden der modernen Staatlichkeit hin untersucht, bietet die oberschwäbische Geschichte scheinbar wenig Verwertbares: Zwischen österreichischen Territorialsplittern tut sich ihm eine bunte Vielfalt kleiner und kleinster geistlicher wie adeliger Herrschaften mit einer zudem ganz überwiegend agrarischen Wirtschaftsordnung auf. Der vorliegende Sammelband regt an, gerade einmal diese mikrokosmotischen Zustände auf ihren Beitrag zur neuzeitlichen Staatswerdung hin zu untersuchen; bereits der Untertitel läßt aufmerken: „Parlamentarismus“ als Gegenbegriff zum landesherrlichen Absolutismus ist eine Grundkategorie für die Analyse der modernen staatlichen Ordnung. Führt die politische Theorie den modernen deutschen Parlamentarismus auf den englischen Parlamentarismus zurück, so weist Peter Blickle in seinem einleitenden, programmatischen Aufsatz nach, daß hier mit wenigstens gleichem Recht auch der Parlamentarismus in vormodernen deutschen Territorien genannt werden muß. Dabei stellt die Anwendung des Begriffs „Parlamentarismus“ auf das spätmittelalterlich-frühneuzeitliche Oberschwaben weder sachlich noch terminologisch einen Anachronismus dar, wie Blickle am Beispiel der u. a. in Oberschwaben begüterten Fürstabtei Kempten demonstriert: Die Kemptener „Landschaft“ – welche der Abt bezeichnenderweise gelegentlich auch als „Parlament“ bezeichnete – wurde von den hofbesitzenden Bauern gewählt, repräsentierte mehr oder weniger die ländlichen Mittel- bis Oberschichten und nahm insbesondere auf die Fiskalpolitik ihres Territorialherrn Einfluß, wobei sie sich finanzielles Entgegenkommen mit anderweitigen Erleichterungen für die Untertanen vergelten ließ; Blickle zieht hier eine Parallele zum modernen Budgetrecht der Parlamente.
Kersten Krüger stellt Schemata der Typologisierung ständischer Repräsentation vor, namentlich die Modelle O. Hintzes, M. Mitterauers, G. Oestreichs, W. P. Blockmans’, H. G. Koenigsbergers und V. Press’, und zeigt deren heuristischen Wert auf. Gleichwohl deckt jede Einzelfallstudie individuelle Besonderheiten auf, die eine restlose Reduktion auf vorgegebene theoretische Archetypen verunmöglicht, zumal im Kontext eines so komplexen Organismus wie dem des Reiches. Dies illustrieren die anschließenden Fallstudien, deren gemeinsamer Nenner darin besteht, sowohl die faktische Mitbestimmung durch die ständischen Körperschaften aufzuweisen als auch deren identitätsstiftende Wirkung für die Landschaft. Daß die Bewohner der ehedem habsburgischen Territorien auf den Preßburger Frieden, durch welchen sie Untertanen Badens, Württembergs und Bayerns wurden, mit Widerwillen bis hin zum offenen Widerstand reagierten, ist bekannt. Franz Quarthal nennt den Untergang ihrer ständischen Vertretungskörperschaften als Grund für diese Haltung. Rosi Fuhrmann betont die Kontinuität von der „gemeinen Landschaft“ Altwürttembergs zur konstitutionellen Verfassung von 1819. Im Einklang mit der modernen, zumal angelsächsischen politischen Theorie wird aufgezeigt, daß weniger das Staatsdenken, sondern konkrete Alltäglichkeiten den politischen Prozeß formten. Andreas Würgler stellt die eidgenössische Tagsatzung hier einmal im internationalen Vergleich vor; allerdings entzieht sie sich einer direkten Parallelisierung mit den vorgestellten Landschaften, da hier keine Herrschaftsbeziehungen zwischen den Teilnehmern bestanden: Letztlich handelte es sich um keine Ständeversammlung, die um Steuern feilschte, sondern um einen Gesandtenkongreß, der Außenpolitik diskutierte. Alois Niederstätter zeigt für das Vorarlberg zu Beginn der Neuzeit, daß die Habsburger die Entstehung ständischer Organisationsformen als Infrastruktur für ihre Landesherrschaft förderten, zumal um die Besteuerung zu organisieren. Daß die Untertanen auch dort über Möglichkeiten der Selbstbestimmung verfügten, wo sich keine landesweiten Repräsentationsformen ausbildeten, erweist der Beitrag von Wolfgang Wüst über die Verhältnisse in den Hochstiftsterritorien von Konstanz und Augsburg: Im Augsburgischen bestand noch im 18. Jahrhundert eine erstaunliche Finanzautonomie auf unterster Ebene; in den Konstanzer (Niedergerichts-) Herrschaften in dem unter hoher eidgenössischer Obrigkeit stehenden Thurgau eröffnete eben dieser herrschaftliche Dualismus Gestaltungsspielräume. Daran schließen Martin Zürns Ausführungen über die Herrschaften Friedberg-Scheer und Dürmentingen-Bussen an: hier lag eine besonders verwickelte Situation im Kräftefeld lokaler Interessen, der Territorialherrschaft, ja der Reichspolitik vor; die daraus resultierenden Konflikte führten indes nicht zwangsläufig zur „Verrechtlichung sozialer Konflikte“, sondern auch zu informellen Mustern des Konfliktaustrags. Daß ständische Repräsentanten keineswegs nur gegen den landesherrlichen Absolutismus opponierten, sondern eine Vielzahl von Konstellationen vorkam, beweisen die Beiträge von Andreas Zekorn, Edwin Ernst Weber und André Holenstein: Im Kleinterritorium Hohenzollern-Sigmaringen kollidierten die Interessen sieben verschiedener Landschaften; insbesondere der Stadt und ihres Umlandes. Die Benachteiligung der ländlichen Untertanen wird im Falle von Überlingen und Rottweil noch schärfer greifbar; in Bern zwang das Mißverhältnis zwischen der kleinen Stadt und dem riesigen Untertanengebiet die städtische Obrigkeit, in Form von Ämterbefragungen auf die Stimmung im Land einzugehen. Diese Befragungen wurden häufig als Referenden interpretiert, was indes eine unzulässige Projektion moderner Vorstellungen auf frühneuzeitliche Institutionen darstellt – und zugleich davor warnt, den Untertitel des vorliegenden Sammelbandes in allzu aktualisierender Weise zu interpretieren. Die modernen Parlamente sind eben nicht einfach das Resultat einer gradlinigen Evolution aus den betrachteten Ständevertretungen; dies ist die Essenz der abschließenden Beiträge von Beat Kümin über das englische Unterhaus, Peter Aronsson über den Reichstag Schwedens und Pedro Cardim über die Cortes von Portugal und Kastilien. Auch Wim Blockmans empfiehlt in seinem methodisch ausgerichteten Beitrag, die moderne Begrifflichkeit auf ihre Tauglichkeit im Hinblick auf frühneuzeitliche Verfassungszustände zu überprüfen.
Damit leistet der Band einen beachtlichen, über den aktuellen Forschungsstand orientierenden Beitrag zum Problem der bäuerlichen und bürgerlichen Repräsentation im Rahmen des frühen europäischen Parlamentarismus; darüber gerät das Titelthema Oberschwaben indes leider ein wenig in den Hintergrund.
Konstanz Harald Rainer Derschka