Marquardt, Bernd, Das römisch-deutsche Reich als segmentäres
HünemörderMarquardt20010507 Nr. 10128 ZRG 119 (2002) 45
Marquardt, Bernd, Das Römisch-Deutsche Reich als Segmentäres Verfassungssystem (1348-1806/48). Versuch zu einer neuen Verfassungstheorie auf der Grundlage der Lokalen Herrschaften (= Zürcher Studien zur Rechtsgeschichte 39). Schulthess, Zürich 1999. XVII, 561 S.
Die von Bernd Marquardt an der Universität St. Gallen vorgelegte und von Karl Heinz Burmeister betreute Dissertation verspricht im Untertitel den „Versuch zu einer neuen Verfassungstheorie” für das Alte Reich seit dem Spätmittelalter. Dies setzt Kontinuität in Zeiten tiefgreifender Krisen und Wandlungen voraus, die der Verfasser in den örtlichen Strukturen, den „Lokalen Herrschaften” verankert findet. Der zeitliche Rahmen der Untersuchung wird mit dem Ausbruch der Beulenpest im engeren Reichsgebiet im Juli 1348 (Trient) und der „‘absolutistischen Fürstenrevolution’ von 1803/06 (1848)” (S. 11) abgesteckt; in räumlicher Hinsicht sollte „eine geographisch möglichst breite Streuung Lokaler Herrschaften zwischen Slowenien und Nordsee, zwischen Schweizer Jura und Pommern Berücksichtigung finden” (S. XVII). Nach einer „Einführung in die Problemstellung und in den Forschungsgegenstand” befaßt der Verfasser sich im zweiten Kapitel mit der „… agrarische[n] Eigentumsverfassung”, um ein „Systembild des segmentären Bodeneigentums” zu entwerfen. Diesem schließt sich das Kapitel „Symbiose und Polarität: Die generationsübergreifende Aneinanderknüpfung von Herren-Dynastie und bäuerlicher Gemeinschaft” an, in dem ein „bipolar herrschaftlich-genossenschaftliches” Ordnungsbild der lokalen Herrschaften entworfen wird. Das vierte Kapitel firmiert unter „Pol-Analyse der Gesellschaftssegments-Verfassung: Die wechselseitigen Loyalitätspflichten und -rechte von Herr und Gemeinde”. Hier werden die Rechtsbeziehungen zwischen Herrschaft und Herrschaftszugehörigen im lokalen Raum insbesondere im Kontext der „Verfassungsverdichtung” des Reiches seit dem 16. Jahrhundert ausgeleuchtet. Im fünften Kapitel gerät „Die Lokale Herrschaft als Verfassungstypus” in den Blick, um „Zur Frage der Staatlichkeit” lokaler Herrschaften Stellung zu nehmen. Schließlich werden „Die Arten von Lokalen Herrschaften” ausdifferenziert, worauf mit den „Schlussfolgerungen für die Deutung der Römisch-Deutschen Reichsverfassung des 16. - 18. Jahrhunderts” der Versuch unternommen wird, ein Verfassungsgefüge des späten Reiches auf der Grundlage des Kontinuums der lokalen Herrschaften zu zeichnen. Der Schlußakkord folgt mit dem Kapitel „Der Reichsuntergang und die Entsegmentierung: Die Verfassungsgeschichte der Auflösung der Lokalen Herrschaften im Zuge der inneren Staatswerdung der neuen Fürstenstaaten (1803-1855)”.
Der Verfasser ist sich der Gegenwartsverhaftung jeder Geschichtsschreibung bewußt, wenn er die Fokussierung auf überörtliche Herrschaftseinheiten in der „selbstlegitimierenden Sichtweise” vor allem im 19. Jahrhunderts kritisiert, zugleich aber selbst Anregungen für aktuelle Fragen finden will (S. XVI). Die wissenschaftliche Frontstellung gegen die „Absolutismusliebäugelei der deutschen Staatslehre des 19. und frühen 20. Jahrhunderts” (S. 392) und die ihr entsprechende Historiographie hat inzwischen ihre eigene Geschichte. Gleichwohl ist die Deutung des Alten Reiches im Blick auf die an der „generationenübergreifende[n] Reproduktion des lokalen Systems” (S. 53) orientierte Ordnung der „Basiseinheiten” ebenso erhellend wie dem gegenwärtigen Forschungsinteresse entsprechend. Ideengeschichtliche Bezüge werden weitgehend ausgeklammert, wobei der Verfasser seinerseits die Interdependenz von Geist und Wirklichkeit unterschätzt, wenn er meint, „Wenn mancher Historiker die zweite Hälfte des 18. Jahrhunderts als ‘Zeitalter der Aufklärung’ etikettiert, ist damit kaum mehr als ein intellektueller Diskurs bezeichnet, dessen Breitenwirkung nicht überschätzt werden darf.” (S. 184f.) Skeptisch zeigt der Verfasser sich auch gegenüber den seit dem 16. Jahrhundert aufkommenden Normierungen wie den „gotteszornpräventiven Polizeiordnungen”, die er eher als ein „kollektive[s] Bekenntnis zu einer christlich-sittlichen Ethik” deutet denn als „verbindliche Sollenssätze” (S. 178ff.). Der Verfasser richtet seinen Blick konsequent dem Forschungsgegenstand entsprechend auf die Rechtsanwendungsfälle, auf Urteile und Verträge, und greift auf vorgängige Mikrostudien zurück.
Der Verfasser erkennt in den lokalen Herrschaften originäre Strukturen, die „eine Parallelität im Grundsätzlichen” aufweisen, weil sie an „ähnliche Umweltbedingungen” angepaßt waren (S. 186f.). In einer „nicht immer lebensfreundlichen Umwelt”, in der der Ausbruch der Pestepidemie im Jahre 1348 ungefähr den Zeitpunkt markiert, an dem die mittelalterliche Agrargesellschaft „die absoluten Grenzen der ihr offen stehenden Expansionsmöglichkeiten erreicht” hatte (S. 20), dienten sie der Stabilisierung der Lebensressourcen. Erst mit der „Bevölkerungsexplosion” und den sich wandelnden Lebensverhältnissen im 18. Jahrhundert (S. 435) sei das „gesättigte” System aneinandergrenzender Kleinstgesellschaften in eine strukturelle Krise geraten. Die von den überörtlichen Herrschaftseinheiten anerkannte Legitimität der integrativen Ordnung von Herrn und bäuerlicher Genossenschaft stellt danach ein Axiom im Verfassungsgefüge des Alten Reiches dar (S. 307). Eine ideelle Grundlinie ist mit der klassisch gewordenen Formel von Fritz Kern (Recht und Verfassung im Mittelalter, 1952), „Das Recht ist alt. Das Recht ist gut. Das gute alte Recht ist ungesetzt und ungeschrieben.”, bezeichnet. Konsensuale Verfahren waren die Klaviatur der Ewigkeit, denn in ihnen lag die Gewähr für die zutreffende Erinnerung an das „gute alte ungeschriebene Recht”. Aus dem Zusammenspiel beider Axiome wird ein Verfassungsgefüge abgeleitet, das von den Prinzipien der Integration und der Subsidiarität geleitet war. So wie „Jede grundlegende Veränderung des status quo” im Bereich der lokalen Herrschaften „nur durch einen Konsens zwischen ihm (dem Herrn) und der bäuerlichen Gemeinschaft erzielt werden” konnte (S. 77), bedurfte die mit der frühneuzeitlichen „Verfassungsverdichtung” einsetzende Reichsgesetzgebung, „um Rechtswirksamkeit zu erlangen einer ausdrücklichen oder stillschweigenden Transformation. Man kann die Einbeziehung von ‘Fremdrecht’ in das Ortsrecht auch als Internalisierung bezeichnen.” (S. 193) Eine Realisierungschance habe das „Fremdrecht” nur gehabt, weil “der Kaiser als Gott nahe stehender Schutzherr der Christenheit und nie versiegender Quell der Gerechtigkeit” von vornherein in die Rechtsidee einbegriffen war (S. 194). Jede reichseinheitliche Änderung des status quo war zwischen den legitimen Gewalten auszutarieren (S. 424). Den hierfür entwickelten Institutionen und Mechanismen gilt ein wesentliches Interesse des Verfassers. Eine Regel sieht der Verfasser in der „Bipolarität”: „in der gesamten vertikalen Kommunikations- und Entscheidungsfindungsstruktur des Römisch-Deutschen Reiches” standen sich Herr und Herrschaftszugehörige institutionalisiert gegenüber, wodurch die jeweils kleineren Einheiten in verschiedenen „Verknüpfungsvarianten” integriert waren (S. 396).
Tiefgreifende Änderungen setzten mit dem Ewigen Landfrieden von 1495 ein. Der Verfasser zeigt, daß die langwierige Ablösung des alten, nicht mehr problemlösungsadäquaten Fehderechts der lokalen Herrschaften durch ein reichsumfassendes Gewaltmonopol über die Einbindung in neue gerichtsförmige Verfahren aufgefangen wurde. Mit Einführung der „Herrschaftsklage” 1526 wurden auch „innerherrschaftliche Streitigkeiten” überörtlich judiziabel, womit neben der interlokalen Fehde auch das innerlokale Widerstandsrecht einer „gewaltfreie[n] und verrechtliche[n] Lösung” zugeführt worden war (S. 155, 290). Die Zentralisierung der Friedenswahrung korrespondierte angesichts der „Komplexität von Entscheidungsprozessen” mit dem „Lokalitätsprinzip”, demzufolge die überschaubare Einheit maßgebender Rechtsraum blieb. Der „Primat des Sonderrechts der kleinsten Einheit” blieb bis zum Ausgang des Alten Reiches erhalten (S. 394). Schriftlichkeit und präjudizielle Wirkung der Judikate ließen nach Ansicht des Verfassers bis zum Untergang des Reiches das “Grundverständnis, dass das Recht kein menschengemachtes Kunstprodukt sei, sondern auf dem Wege der Rechtsfindung aufgespürt werde” (S. 164), im lokalen Bereich weitgehend unberührt. Dies überrascht, zumal der Verfasser selbst feststellt, daß das „Gewohnheitsrecht” mit der Verdrängung der oralen Rechtskultur „einen Teil seiner natürlichen Anpassungs- und Wandlungsfähigkeit” einbüßte (S. 167), womit zunehmend Begründungszwänge verbunden, das Erfordernis eines änderungsfähigen Rechts erkannt und dem positiv gesetzten Recht der Boden bereitet worden war.
Eine Pointe der vorliegenden Arbeit liegt in der Behandlung der Landesherrschaften, die der Verfasser im wesentlichen als „Scharniere für die Transformation des allgemeinen Reichsrechts” in die lokalen Herrschaften ansieht (S. 422). Es handelte sich um „funktional eng begrenzte Verknüpfungsmuster zwischen der Lokal- und Zentralebene des Reiches” (S. 405), „die niemals den Bedeutungsgehalt einer aus dem dreistufigen Verfassungsgefüge herausgelösten souveränitätsähnlichen ‘obersten Gewalt’” (S. 418) angenommen hätten. Die Stellung der Landesfürsten als „politische Elite des Alten Reiches” resultierte „aus dynastisch verklammerten Lokalen Herrschaften, …, kombiniert mit der Rechtsstellung als Reichsstand” (S. 427). Wenn der Verfasser meint, „die Reichs- und Landesebene … [seien im Vergleich zur lokalen Ebene die] jüngeren Herrschaftsebenen[, die] am Beginn des 16. Jahrhunderts mehr oder weniger aus dem verfassungshistorischen Nichts heraus formiert worden waren” (S. 193), übersieht er die Transformation der mittelalterlichen Ordnung auch auf überörtlichen Ebenen. Zum Sonderfall des sich herausbildenden preußischen Staates meint der Verfasser, „Seit der historischen Entscheidung von 1653”, den Landtag nicht mehr einzuberufen, “durchdrang kaum ein deutsches Landesverfassungssystem seine Fläche fragmentarischer und war somit weniger ‘verstaatet’ als Kurbrandenburg” (S. 417). Davon abgesehen, daß die damit einhergehende „Entfesselung” der Landesherrschaft Potenzen für eine Staatsbildung freisetzte (ebd., S. 288), vernachlässigt der Verfasser das mit der Reformation forcierte Autonomiestreben. Der „absolutistische Fürstenputsch”, der im Windschatten Napoléon Bonapartes 1803 mit den „Rittersturm” Herzog Friedrich II. von Württemberg einsetzte und die Autonomie der lokalen Herrschaften im Reich beendete (S. 448), hatte in der inneren Formierung der Landesherrschaften seine Vorgeschichte. Die Auswirkungen des Dreißigjährigen Krieges, in deren Folge der „Leihezwang” der Lokalherrn aufgrund der enormen Dezimierung der Bevölkerung nicht mehr realisierbar war, was für die Formierung der Guts- wie der Landesherrschaft von Bedeutung ist, werden nur gestreift (S. 49f., 258ff.). Der Verfasser erkennt zwar, „Souverän war nicht der einzelne Landesfürst, sondern das politisch-juristische Gesamtsystem des Römisch-Deutschen Reiches” (S. 406), widersteht der Versuchung jedoch nicht, den lokalen Herrschaften anhand der „Drei-Elemente-Lehre” Georg Jellineks eine Quasistaatlichkeit zuzuschreiben, oder auf sie den Begriff der Souveränität anzuwenden (S. 302ff.), was angesichts des religiös und traditional legitimierten Gesamtsystems, in dem sich jede Einheit als episodischer Sachwalter einer transzendenten Ordnung verstand, problematisch erscheinen muß.
Jena Olaf Hünemörder