Nolte, Paul, Die Ordnung der deutschen Gesellschaft.

* Selbstentwurf und Selbstbeschreibung im 20. Jahrhundert. Beck, München 2000. 520 S. Besprochen von Eva Lacour. ZRG GA 119 (2002)

LacourNolte20010313 Nr. 10359 ZRG 119 (2002) 82

 

 

Nolte, Paul, Die Ordnung der deutschen Gesellschaft. Selbstentwurf und Selbstbeschreibung im 20. Jahrhundert. Beck, München 2000. 520 S.

 

Die straff geschriebene Bielefelder Habilitationsschrift gibt einen Überblick über die Auseinandersetzung von Wissenschaft und Publizistik mit der Entwicklung der deutschen Gesellschaft seit dem 19. Jahrhundert, der Schwerpunkt allerdings liegt auf dem 20. Jahrhundert, besonders auf den ersten beiden Jahrzehnten der Bundesrepublik. Die Analyse der Diskurse wird immer auf die tatsächlichen gesellschaftlichen Veränderungen bezogen. Somit hat Paul Nolte gleichzeitig eine Geschichte der deutschen Soziologie wie eine Geschichte der Wechselwirkungen von Soziologie und Gesellschaft vorgelegt.

Eine „Gesellschaft“ im modernen Sinn - als „staatsfreie“ Zone der sozialökonomischen Beziehungen formierte sich im 19. Jahrhundert. Seit etwa 1840 ist von einem klaren Antagonismus zwischen Staat und Gesellschaft zu sprechen. Das Leiden an der kompliziert gewordenen Ordnung gehörte im 19. Jahrhundert zu den „Gemeinplätzen des Denkens“ (S. 57) und verschärfte sich besonders nach dem Ersten Weltkrieg zu einer „Krisenwahrnehmung“ (S. 63). Den Krieg interpretiert Nolte sowohl als Folge der Krise als auch Flucht aus ihr. Wie diese Wahrnehmung den zweiten „Fluchtversuch“ 1933 mitbedingte, zeigt der Verfasser sehr eindringlich.

Die Beschreibung der deutschen Gesellschaft radikalisierte sich nach 1914 zunehmend: Als amorph geworden, heterogen, zerrissen und entfremdet empfanden sie die Zeitgenossen. Das Bild einer polarisierten Klassengesellschaft und des Klassenkampfes stand dem einer hierarchischen, funktional gegliederten und daher Einheit und Ausgleich verheißenden Ständegesellschaft gegenüber. Der Beruf erschien als „genuin modernes Prinzip der sozialen Gliederung“ (S. 163). Die Endzeitdiagnose und die „politisch gefährliche Erwartung“ (S. 167) der Überwindung des Individualismus in neuer berufsständischer Gemeinschaft wurde von links wie rechts beschworen, strahlte gar bis in die demokratische Mitte aus. In den 1920er Jahren wurde die Idealisierung der Gemeinschaft als scheinbar zukunftsträchtige Sozialform, für die Ferdinand Tönnies 1887 den Grund gelegt hatte, fast selbstverständlich. Auf beiden Seiten des politischen Spektrums herrschte die Einschätzung, der „alte liberale Staat“ habe keine Zukunft. Kaum ein Kritiker erkannte und entlarvte wie Hermann Heller den damit verbundenen Angriff auf den Parlamentarismus und warnte vor der heraufziehenden Diktatur. Die Nationalsozialisten verloren allerdings schnell den Gefallen am Ständekonzept, weil es sich in letzter Konsequenz gegen eine totale Einvernahme durch den bürokratischen Staat sträubte und auf Selbstverwaltung und Selbstbehauptung beharrte. Und doch bereitete die Sehnsucht nach Einheit, das Konzept des „Volkes“ als radikale Alternative zu „Gesellschaft“ kaum bemerkt den Boden für die totalitäre Ideologie und richtete sich gegen die Demokratie. Das Bürgertum wurde verachtet, die Klassengesellschaft abgelehnt. Was blieb, war die „Volksgemeinschaft“. Nicht „Nostalgie und Vergangenheitsbeschwörung“, nicht „Ungewissheit und Zukunftsangst“ waren fatal, „übergroße und falschgeleitete“ Zukunftsgewissheit sprach aus den radikalen Visionen jener Zeit (S. 397). Seit 1934 propagierte der Staatswissenschaftler Ernst Rudolf Huber die Aufhebung einer staatsfreien, geschützten Sphäre der bürgerlichen Existenz. An ihre Stelle sollte im Nationalsozialismus die „genormte Einheit von Staat und Gesellschaft“ treten (S. 188). Doch das Versprechen von Inklusion und Harmonie, das jegliche soziale Strukturierung leugnete, beruhte auf Ausschluss aus rassischen und politischen Gründen. Somit stellte die nationalsozialistische Gesellschaftsideologie keinen echten alternativen Entwurf zur Verfügung. „Es ging nicht um eine Neubildung der Gesellschaft, sondern um Ausstieg aus ihr“ zugunsten diffuser Einheitsbegriffe wie „Deutschland“ (S. 192).

Die frühe Nachkriegszeit war von tiefer Verunsicherung und Skepsis der Intellektuellen gegenüber der Gegenwart geprägt. Nolte konstatiert eine erstaunliche Kontinuität zwischen „linken“, in einem ethischen Sozialismus fundierten Überzeugungen und der „rechten“ Kulturkritik der 1920er Jahre. Kurze Zeit noch geisterte die Utopie eines neuen Zeitalters, das „dem feudalen ähnlicher (...) als dem bürgerlichen“ sein sollte (Walter Dirks, S. 222) durch soziologische Schriften, bis Helmut Schelsky mit seiner Antikritik diesem Denken die Grundlage entzog. Der Ständegedanke - er überlebte in der katholischen Soziallehre bis 1958 und seither „vor allem in der politisch harmlos gewordenen Schrumpfform mittel-«ständischer» oder berufs-«ständischer» Interessenvertretung und Verbänderhetorik“ (S. 298) - wurde in den 1950er Jahren von „diffuseren“ Schichtenmodellen abgelöst (S. 339). Das Zwiebelmodell von Karl Martin Bolte machte bildhaft deutlich, dass von dem jahrzehntelang befürchteten Zerreiben der gesellschaftlichen Mitte keine Rede sein konnte. Im Gegenteil ordneten sich zunehmend mehr Menschen der Mittelschicht zu.

In der frühen Bundesrepublik begann dann eine intensive Suche nach einem „realistischen“, der Gegenwart angemessenen und mit ihr versöhnten Bild der Gesellschaft (S. 234). Der politisch folgenreiche, seit dem 19. Jahrhundert andauernde Entwurf unerreichbarer, radikaler Utopien fand sein Ende. Die verschiedenen Kontinuitätslinien verkümmerten in den 1950er Jahren, da die mittlere und jüngere Soziologengeneration sich völlig von ihnen abwandte. Mit der Abkehr von der geisteswissenschaftlichen setzte sich die empirische Soziologie als „Tatsachenforschung“ (Helmuth Plessner, S. 264) durch. 1954/55 sieht der Verfasser als den intellektuellen Wendepunkt an. Theodor W. Adorno und René König erblickten in Ferdinand Tönnies’ Schema von „Gemeinschaft“ und „Gesellschaft“ und seiner „Heilslehre“ der „neuen Gemeinschaft“ eine Hauptwurzel des Verfalls der deutschen Soziologie. Eine deutliche Zäsur fällt auch in die Mitte der 1960er Jahre. Ralf Dahrendorf zerstörte in seinen Schriften „der Demokratie feindliche Strukturen“ intellektuell (S. 268). Soziale Konflikte seien keine störende Abweichung, sondern Notwendigkeit zur Sicherung der Freiheit. Schelsky hatte bereits 1959 den Eintritt in die „nachideologische Phase“ konstatiert, Dahrendorf sprengte die „Ruinen“ der rechten, antidemokratischen Tendenzen in den Sozialwissenschaften, so dass ihr Wiederaufbau nicht mehr möglich war (S. 269). Um 1960 war die Sehnsucht nach einer vollkommenen Ordnung zerbrochen. „Gesellschaft“ - wieder politisch, aber autonom und vor allem pluralistisch gedacht - trat „als neues Leitbild der sozialen Einheit an die Stelle des Volkes“ (S. 380). Ein einheitliches, umfassendes Gesellschaftsbild bot die Soziologie nicht mehr an.

Die politische Wirkung der Soziologie in Deutschland war nie größer als in den 1950er Jahren, als fachintern und öffentlichkeitswirksam die Durchsetzung des Leitbildes der „offenen Gesellschaft“ (Karl Popper, S. 272) gelang. Nolte rückt den Eindruck vieler Zeitgenossen zurecht, die bis Ende der 1960er Jahre „Stagnation oder gar Restauration“ sahen. Der Verfasser weist vielmehr eine „säkulare Zäsur“ (S. 371) in den Vorstellungen von sozialer Ordnung nach. Die tradierte Semantik des Sozialen besaß keine Überzeugungskraft mehr.

Insgesamt ein überzeugendes und interessantes Buch. Keine Antwort fand die Rezensentin auf die Frage, warum Norbert Elias nicht vorkommt, der doch bis heute - trotz Emigration - einen nur langsam schwindenden Einfluss auf die deutsche Soziologie ausübt.

 

Anschau                                                                                                                    Eva Lacour