Noodt, Birgit, Religion und Familie in der Hansestadt Lübeck anhand der Bürgertestamente des 14. Jahrhunderts

* (= Veröffentlichungen zur Geschichte der Hansestadt Lübeck B 33). Schmidt-Römhild, Lübeck 2000. IX, 618 S. Besprochen von Rolf Sprandel. ZRG GA 119 (2002)

SprandelNoodt20010726 Nr. 10433 ZRG 119 (2002) 39

 

 

Noodt, Birgit, Religion und Familie in der Hansestadt Lübeck anhand der Bürgertestamente des 14. Jahrhunderts (= Veröffentlichungen zur Geschichte der Hansestadt Lübeck B 33). Schmidt-Römhild, Lübeck 2000. IX, 618 S.

 

Das große Werk von über 400 Seiten Text und etlichen Anhängen gliedert sich in die Teile A – D. A behandelt Quellen und Methoden, definiert die Aufgabe, eben das Zusammenspiel von Religion und Familie aus den Testamenten herauszuholen, umreißt die Quellengrundlage von 2701 Testamenten und spricht die Methoden ihrer Auswertung an. Juristische und rhetorische Formeln werden ebenso wie der Wert der quantitativen Methode vorsichtig gewogen. Die Verfügbarkeit des Besitzes beschränkt sich auf das von dem Erblasser selbst Erarbeitete. Deswegen meint die Verfasserin überzeugend, die häufige Formel que ... meo gravi labore acquisivi (S. 21) sollte nicht mit der älteren Forschung als Zeugnis der Arbeitsamkeit der Lübecker, ihres Stolzes auf harte Arbeit mißverstanden werden. Schrift- und Stiluntersuchungen nehmen einigen Raum ein. Die Schreiber bilden eine vielfältige Gruppe. Außer den städtischen öffentlichen Notaren gehören dazu Priester und Mönche, Kaufmanns- oder Familienschreiber und Berufsschreiber. Die Testamente sind zunächst fast ausschließlich in Latein abgefaßt. Der Anteil des Niederdeutschen wächst aber stetig und beträgt am Ende des Jahrhunderts 35% (S. 422). Ob in Latein oder in Niederdeutsch, die Testamente konnten nur von einer Minderheit gelesen werden. Angesichts der kleinen, klerikalen Schreiber darf man diese Minderheit aber wohl nicht als eine „Elite“, als „literate, normprägende Schicht“ (S. 137) ansprechen.

In Teil B werden die in die „Lebenswelt“ eingebundenen kultischen Funktionen der Testamente behandelt. Es wird dafür eine Periodengliederung – mit einer Sonderstallung der beiden Pestjahre 1350 und 1367 – entwickelt, die dann auch in anderen Teilen des Buches Anwendung findet. Nach ihr werden die Stiftungen an Pfarrkirchen, Spitäler, Arme und die Zuwendungen für das Begräbnis und Seelenmessen untersucht. Von vornherein stellt sich die Frage, ob Konstanz oder Wandel überwiegen. Mehrere statistische Untersuchungen enden mit dem Ergebnis der Konstanz. Auch der Einbruch der Epidemien bringt überwiegend auf längere Sicht keinen Wandel. Zu den kleineren Veränderungen nach 1350 gehören einige Neuerungen, wie Spenden für das Sitzen vor einem Heiligenbild (S.199), für den Lichterkult und für Bruderschaften (S. 242). Eine erhebliche Veränderung liegt allerdings darin, daß an die Pfarrkirchen immer größere Summen von immer weniger Testierenden gegeben werden, so daß insbesondere die Marienkirche aus einer Bürgerkirche zu einer Ratskirche wird (S. 229).

Im Teil C werden die Familienverhältnisse der Testierenden betrachtet. Auch in diesem Teil werden Zeitreihen gebildet, und es überwiegt wieder die Konstanz. Nur 46% der Testierenden lassen sich ausdrücklich als verheiratet und 18% als verwitwet nachweisen. Die tatsächlichen Zahlen dürften höher gelegen haben, wenn auch die Ledigen besonders in den unteren Vermögensschichten zahlreich waren (S. 263). Durchschnittlich sind 2,1 Kinder nachweisbar (S. 307). Die Kinder sind zahlreicher in den oberen als in den unteren Vermögensschichten. Wohltuend ist die kritische Einstellung gegenüber Strömungen der gegenwärtigen Frauenforschung. Weder der Frauenüberschuß noch der Klostereintritt aus Versorgungsgründen werden bestätigt.

In dem letzten Teil D referiert die Verfasserin in einem Ausblick aus der spätmittelalterlichen Testamentsforschung anderer Gegenden Europas und stellt überwiegend eine Übereinstimmung mit ihren Ergebnissen fest. Dabei wird eine – wohl leicht zufällige - Auswahl vorgenommen. Für den Lyonnais z. B. hätte neben der älteren Arbeit von L. Gonon auch die neuere von M.-Th. Lorcin verwertet werden können. Man wird sagen können, daß die Ausdehnung der Testamentsforschung auf das 15. Jahrhundert stärker den Wandel in den Blick bekommt, als es hier geschieht.

An kleineren Ausstellungen sei noch moniert, daß die interessante Beobachtung über Gesellschaftsauflösungen im Testament (S. 196) ergiebiger geworden wäre, wenn die Verfasserin das aus der gleichen Zeit überlieferte Lübecker Societates-Register benutzt  hätte. Amme t... van heren im Lübecker Stadtrecht (S. 27) bezieht sich nicht auf Zünfte, sondern auf Fürstenlehen. Numerisch sollte man nicht durchgehend mit zwei m schreiben.

Diese Ausstellungen können den Eindruck eines gut durchgearbeiteten, ergebnisreichen Werkes nicht mindern, eines Werkes mit großem Nutzen ebenso für die Lübecker Geschichte wie für die europäische Testamentsforschung.

 

Reichenberg                                                                                                   Rolf Sprandel