Odsun. Die Vertreibung der Sudetendeutschen

*. Vyhnáni sudetských Němců. Dokumentation zu Ursachen, Planung und Realisierung einer „ethnischen Säuberung“ in der Mitte Europas. Band 1 Vom Völkerfrühling und Völkerzwist 1848/49 bis zum Münchener Abkommen 1938 und zur Errichtung des „Protektorats Böhmen und Mähren“, hg. v. Hoffmann, Roland J./Harasko, Alois. Sudetendeutsches Archiv, München 2000. 944 S., zahlreiche Abb. Besprochen von Wilfried Fiedler. ZRG GA 119 (2002)

FiedlerOdsun20010616 Nr. 10443 ZRG 119 (2002) 80

 

Odsun. Die Vertreibung der Sudetendeutschen. Vyhnáni sudetských Němců. Dokumentation zu Ursachen, Planung und Realisierung einer „ethnischen Säuberung“ in der Mitte Europas. Band 1 Vom Völkerfrühling und Völkerzwist 1848/49 bis zum Münchener Abkommen 1938 und zur Errichtung des „Protektorats Böhmen und Mähren“, hg. v. Hoffmann, Roland J./Harasko, Alois. Sudetendeutsches Archiv, München 2000. 944 S., zahlreiche Abb.

 

Der stattliche Band stellt den ersten Teilband einer erfolgreichen, seit 1995 betriebenen Ausstellung dar und erfaßt rechtshistorisch den Zeitraum von 1848-1938/39. Bereits das Vorwort, wie der gesamte Band, ist zweisprachig gehalten, also in deutscher und tschechischer Sprache gedruckt. Zweck der Publikation ist es, wie der Vorsitzende des Sudetendeutschen Archivs, Jörg Kudlich, es formuliert, „Die Einsicht in das, was und wie es geschehen ist und wie es geschehen konnte, aufzuarbeiten, durchschaubar zu machen und zu bewerten“ (Vorwort). Ebenso soll erreicht werden, daß die Diskussion „über die Vertreibung der Sudetendeutschen durch diese Dokumentation eine weitere Verbreiterung und Versachlichung erfährt“ (Vorwort).

Der erste Band der Dokumentation enthält auf fast 900 Seiten die angekündigten Dokumente (S. 89-927), anders als in anderen Publikationen aufgelockert durch oft großformatige Abbildungen im Text, der auch dem tschechischen Leser, durch die konsequent praktizierte Zweisprachigkeit den Zugang ermöglicht. Nur am Rande sei erwähnt, daß sich unter den Abbildungen manches seltene Stück befindet, um das sich der Sammler bisher vergeblich bemühte. Auch insofern stellt der Band ein Unikat dar. Besondere Bedeutung gewinnt die von Roland J. Hoffmann verfaßte Einleitung der Dokumentation unter dem Thema „Die Vertreibung der Sudetendeutschen in geschichtlicher Perspektive“ (S. 9-86). Diese Einführung besticht durch ihre frühe Anknüpfung an die amerikanische Unabhängigkeitserklärung und die Ergebnisse der französischen Revolution. Vor diesem Hintergrund werden das Erwachen der Völker und das Demokratieprinzip wirkungsvoll abgehandelt (S. 10ff.). Ganz konsequent erscheinen die Menschenrechte im Mittelpunkt der Abhandlung, die zum Teil die folgende Dokumentation erläutert. Das griechische Beispiel zeigt einen Teil der auftretenden Probleme (S. 27ff.).

Einen besonderen Platz nimmt das Jahr 1848 ein, das in Bezug auf Böhmen ausgesprochen problematisch wurde und zu lebhaften Diskussionen in der Paulskirche führen sollte. Hinzu trat die schillernde Figur Palackýs, der in besonderer Weise die Wünsche der Slaven in der östereichisch-ungarischen Monarchie zum Ausdruck brachte (S. 45ff.) In die Unübersichtlichkeiten des Jahres 1848 schob sich das unklare Verhältnis zwischen Deutschland und Österreich-Ungarn, aber auch das problematische Selbstverständnis der Juden, die sich einem deutschen und tschechischen Antisemitismus gleichermaßen gegenüber sahen. Die Einführung spricht zutreffend von einer „tschechisch-deutsch-jüdischen Konfliktgemeinschaft“ (S. 59) und widmet sich anschließend stark einer Gliederung der Dokumentation im Bezug auf die kritischen „Wegmarken“ der Geschichte. Dazu gehört das Jahr 1866 ebenso wie die Entwicklung zum tschechoslowakischen Staat. Da Hoffmann ein ausgewiesener Kenner Masaryks ist, interessieren vor allem dessen Spuren in der Entwicklung zum eigenen Nationalstaat der Tschechen (S. 66ff.), ebenso das Verhältnis zu den Slowaken, aber auch die Wirkungen des in Deutschland aufkommenden Nationalsozialismus. Es liegt auf der Hand, daß das Jahr 1938 besondere Beachtung verdient, auch weil es damals zu Flucht und Vertreibung auf tschechischer Seite kam, was Gegenstand der Dokumentation ist. Recht spät (S. 74ff.) erfolgt eine Begriffsklärung und u. a. des Wortes ODSUN. Deutlich wird, daß die „Säuberung“ der Tschechoslowakei von Deutschen, Magyaren und anderen „Verrätern“ bereits während des Krieges geplant wurde und mit die Grundlage der Nachkriegsordnung bildete. Die wenig rühmliche Rolle von Beneš wird anschaulich beschrieben (S. 77ff.).

Schwer zu finden sind die Anmerkungen, die ebenfalls zweisprachig vorgelegt werden. Den Ausführungen der Einführung merkt man an, daß sie stärker aus historischer, weniger aus juristischer Sicht formuliert wurden. Das gilt in besonderem Maße für die Revolution von 1848. Hier hätte ein Überblick über die sudetendeutschen Abgeordneten der Paulskirche nützlich sein können, um nur einen Aspekt herauszugreifen.

Im Mittelpunkt steht jedoch die Dokumentation selbst (S. 89ff.). Sie zeigt einen ersten Schwerpunkt im Jahre 1848 (S. 89-209), und es ist kein Zufall, daß vor allem Palacký zitiert wird. Schon hier wird deutlich, daß der tschechische Standpunkt ausgiebig zum Ausdruck kommt und auch ein entsprechendes Informationsbedürfnis des tschechischen Betrachters gestillt werden kann. Eine Vielzahl von unterschiedlichen Vorschlägen zur Zweisprachigkeit betreffen vor allem die achtziger Jahre und das ausgehende 19. Jahrhundert, eine „dunkle“ Periode in den deutsch-tschechischen Beziehungen. Durch die Dokumentation fällt auch hierauf ein helleres Licht, und die Abbildung verschiedener Zeitungen der damaligen Zeit unterstützt dies nachhaltig. Es wird deutlich, daß der Vertreibungsgedanke sehr viel älter war als die gute Gelegenheit der Jahre 1945/46 dies glauben machen will. Die Gründung der Tschechoslowakei und ihre Vorgeschichte bilden einen weiteren Schwerpunkt der Entwicklungsgeschichte, so daß die Vorgänge von 1918/19 breit dokumentiert sind (S. 478-584). Ein kurzer, aber wichtiger Blick fällt dabei zurück auf die Arbeiten von Kramář (S. 408-411), der im Kampfe gegen die Donaumonarchie für den intellektuellen Überbau sorgte. Nicht verwundert es, daß auch die Namen von Beneš und Masaryk auftauchten, als es um die Schaffung der Tschechoslowakei ging.

Aufschlußreich sind die Dokumente über die ersten Jahre nach Gründung der Tschechoslowakei, insbesondere über die deutschen und tschechischen politischen Parteien, aber auch zur wirtschaftlichen Situation der über 3 Millionen Sudetendeutschen, die unter den Einfluß der politischen Entwicklungen in Deutschland und Österreich gerieten. Gut wird das zeitgemäße Erstarken der Henlein-Partei und das Zusammenspiel mit Berlin deutlich. Die Dokumentation schließt neben dem Münchener Abkommen auch die Gründung des Protektorates ein und liefert manches Detail, das so nicht bekannt war. Eindrucksvoll die Zustimmung der Westmächte zur neuen Situation! Insgesamt liefert die Dokumentation das notwendige Material für eine vertiefte Diskussion des Falles über nationale Grenzen hinweg, vermeidet Einseitigkeiten und gibt Anstöße zu einer ungewohnten Nachdenklichkeit. Mit erfaßt wird auch die Reaktion der Nachbarn im Osten, etwa Polens in der Teschen-Frage (S. 848, 890ff.). Nützlich ist auch die Wiedergabe halboffizieller Dokumente, wie etwa der Vorstellungen von Beneš über die künftige Tschechoslowakei (S. 895ff.). Als von großem Nutzen erweisen sich die informativen Vorspanne vor einzelnen Dokumenten, und ganz selbstverständlich fällt auch ein helleres Licht auf manche Person der Zeitgeschichte, wie etwa E. Hacha.

Der Band wird abgeschlossen durch ein Personenverzeichnis (S. 929ff.), ein (knappes) Abkürzungsverzeichnis (S. 943) und einen Bildnachweis. Er ist insgesamt als große Bereicherung zu verstehen und kann in seiner ausgewogenen Art der Darstellung die Diskussion auf eine sachlichere Ebene heben. Ein erheblicher Gewinn dürfte auch für die Rechtsgeschichte abfallen, denn der Band führt durch eine zerklüftete historische Landschaft und zeigt erhebliche Auswirkungen für die Beurteilung aktueller Probleme in anderen Regionen der Welt.

 

Saarbrücken                                                                                                  Wilfried Fiedler