Pape, Matthias, Ungleiche Brüder.
Meier-Bergfeld20010918 Nr. 10289 ZRG 119 (2002) 80
Pape, Matthias, Ungleiche Brüder. Österreich und Deutschland 1945-1965. Böhlau, Köln 2000. VII, 713 S., 16 Abb.
Sagen wir es gleich zu Anfang ohne Umschweife: Dies ist ein gutes Buch, das für lange Zeit das Standardwerk über die deutsch-österreichischen Beziehungen 1945-65 bleiben wird. Der Privatdozent Matthias Pape der Universität Karlsruhe hatte sich zum Beispiel schon 1995 in den Historisch-Politischen Mitteilungen (2, 1995, S. 149-172) mit dem Thema befasst. Hier ist jetzt seine große Studie, die auf über 700 Seiten und mit weit über 1000 verarbeiteten Titeln und ungezählten Anmerkungen zunächst einmal von stupendem Gelehrtenfleiß zeugt. Pape hat deutsche und österreichische Archive ausgewertet bis hin zum Archiv des Burgtheaters, zum Niederösterreichischen Landesarchiv oder dem Archiv der Friedrich Ebert-Stiftung, daneben private Nachlässe. Er hat ein höchst kenntnisreiches und angenehm lesbares Werk vorgelegt. Zentral behandelt er auf fast hundert Seiten das Krisenjahr 1955 mit dem Staatsvertrag, wobei er über die Erkenntnisse Gerald Stourzhs „Geschichte des Staatsvertrages 1945-55“ (3. Auflage, Graz, Wien, Köln 1985) hinausgelangt. Aber Pape gibt auch im Kapitel „Vom österreichischen Staat zur österreichischen Nation“ (Seite 383ff.) so etwas wie eine Geistesgeschichte (bis hin zur Literaturgeschichte) dieses Problems. Die „Reichsidee im Jahrzehnt nach 1945“ und gerade das Ausblickkapitel „Die ,österreichische Nation’ – Diskussion ohne Ende“ (Seite 557ff.) runden die vorzüglich belegte Diplomatiegeschichte ab. Im Anhang werden erstmals zehn wesentliche Dokumente zum Thema publiziert (aus den Jahren 1958/59); das Buch bietet auch 16 Abbildungen, zumeist Karikaturen und Pressefotos der Akteure. Ein großer Wurf, der weit über die journalistischen Beiträge hinausgeht, wie sie etwa Gabriele Holzer („Verfreundete Nachbarn“, Wien 1995) oder Engelbert Washietl („Österreich und die Deutschen“, Wien 1987) veröffentlich haben. Das demnächst erscheinende Werk von Peter Schneeberger „Der schwierige Umgang mit dem Anschluss“ (Studienverlag) wird sich mit Pape messen lassen müssen.
Natürlich ist die Auseinandersetzung mit Okkupationstheorie versus Annexionstheorie bezüglich der Ereignisse vom März 1938 auch bei Pape Basis für alles. Er sagt es deutlich – in Zeiten von historical correctness auch mutig – , dass „für die meisten Deutsch-Österreicher“ die ,Heimkehr ins Reich’ die Erfüllung eines Traums nationaler Sehnsucht bedeutete ...“ (Seite 48).
Wie sehr Adenauer ebenfalls davon überzeugt war, dass die Österreicher sich 1945ff. in die falsche Opferrolle flüchteten, belegt Pape mit eindeutigen Zitaten, die heute schon nicht mehr politisch korrekt sind. „Die ganze österreichische Schweinerei“ nannte der „Alte“ die Staatsvertragsbestimmungen, in denen sich Österreich – gestützt auf die einseitige Auslegung der Moskauer Deklaration von 1943 – aus der gemeinsamen Verantwortung davonstehlen wollte, – verständlicherweise in gewissem Maße, um sich die Russen vom Halse zu schaffen. Adenauer bot ironisch an, wenn sie denn auffindbar wären, „die Gebeine Hitlers“ nach Österreich zurückzuschicken, vielleicht im Tausch mit den „gestohlenen“ Reichskleinodien. Ja, der deutsche Bundeskanzler scheute sich nicht, auf einer Pressekonferenz zu sagen, man habe ihm „in Wien von kompetenter Seite erzählt, die Leute hier seien Bajuwaren“, – womit er übrigens vom ethnischen Standpunkt aus ganz überwiegend richtig lag. (Bei „Deutschlandsberg“ in der Südsteiermark beginnt heute Österreich, Graz hieß einmal „Bayerisch-Graetz“.)
Was Adenauer noch mehr erregte, und Pape belegt es gut, war das Doppelspiel der österreichischer Politiker Raab, Figl, Gorbach, Kreisky: In Moskau erweckten sie den Eindruck, den russischen Rückzug aus Österreich könnten eventuell die Westdeutschen doch zum Modellfall einer Neutralitätspolitik nehmen, während sie zugleich die Bundesrepublik beschworen, nur ja der NATO beizutreten, damit amerikanische Truppen in Oberbayern stationiert blieben, um Österreich zu schützen. (Die gegenwärtige Neutralitätsdebatte in Österreich müsste man redlicherweise unter diesem Blickwinkel sehen.) Mehr noch: letztlich gelang es den Österreichern durch Beschlagnahme des deutschen Eigentums (und Vertreibung von fast 300.000 „Reichsdeutschen“) im Ergebnis quasi die Bundesrepublik Deutschland zu Reparationen an die Republik Österreich zu nötigen. Diese Verhandlungen über das deutsche Eigentum belegt Pape breit und gut. In diesem Zusammenhang ist interessant, wie „normal“ man in den fünfziger Jahren in Westdeutschland deutsche Investitionen (auch in die Göring-Werke in Linz oder in Baumaßnahmen der Wehrmacht) zurückverlangen konnte, wie das heute im Zeitalter politischer Korrektheit undenkbar wäre. Pape scheut das Stirnrunzeln der Kollegen – um der historischen Wahrheit willen – nicht. Er beweist auch, dass die USA die Österreicher darin bestärkten, auch das deutsche Privateigentum (bis hin zum Hausrat) großteils nicht zurückzugeben, weil die Amerikaner selbst, zehn Jahre nach Kriegsende und gegenüber ihrem gerade „souverän“ gewordenen Nato-Partner keine Skrupel hatten, völkerrechtswidrig (gegen die Haager Landkriegsordnung) deutsches Privatvermögen in den USA selbst zu enteignen.
Die Schla-Wiener hatten 1955 alles erreicht, was sie wollten, nur „die österreichische Nation“ noch nicht. Der geistige Kampf darum bildet den zweiten Schwerpunkt dieses Buches. Es zeigt sich wieder einmal, wie seriöse Geschichtsschreibung heute geltende politisch-dogmatische Standpunkte in ein relativierendes Licht rücken kann. Pape beweist es: bis weit in die siebziger Jahre hinein war in allen politischen Lagern Österreichs (am deutlichsten natürlich bei der FPÖ) die Auffassung verbreitet, selbstverständlich gehöre Österreich zur deutschen Nation, mindestens zur deutschen Kulturnation. Bis 1976 verbot übrigens – der gerade verstorbene – Chefredakteur der „Presse“, Otto Schulmeister, seiner Redaktion von „österreichischer Nation“ zu schreiben. Die Nachrufe dieser Tage klingen an dieser Stelle sehr verlegen. Sei es Unterrichtsminister Drimmel (ÖVP) („Blumenfeldzug 1938“), Adolf Schärf (SPÖ) („Meine geistige Heimat ist Weimar.“), Bruno Kreisky („Gemeinschaft mit den Deutschen in Raum und Zeit“), Bundeskanzler Raab („Mein deutsches Volk in Österreich“), Bruno Pittermann (SPÖ) („Wir sind deutsche Österreicher.“), Karl Renner („Südostdeutschland“). Der ÖVP-Abgeordnete und Direktor des österreichischen Bauernbundes Ferdinand Graf rief auf dem CSU-Parteitag 1951 emphatisch aus, er bekenne sich „offen und rückhaltlos zum Gesamtdeutschtum“. Die linken Flügel von ÖVP und SPÖ, die Linkskatholiken in Österreich, die Zeitung „Die Furche“ arbeiteten dem natürlich – inzwischen erfolgreich – entgegen. Diese „großdeutschen“ Thesen, die heute in Deutschland als „territorialer Revisionismus“ vom Verfassungsschutz inkriminiert werden und für die man in Österreich nach dem „Wiederbetätigungsgesetz“ verfolgt werden kann, waren damals ganz selbstverständlich. Die „Hure Politik“ entlarvt Pape – einfach durch schlichte Darstellung, wie es eigentlich gewesen ist –, wenn er darstellt, wie die gleichen österreichischen Mozartforscher ihn 1941 (150. Todestag) als großen deutschen Komponisten feierten, um 1956 (zum 200. Geburtstag) Mozart zum „größten nur-österreichischen“ Tonsetzer zu erheben. Von daher ergibt sich durch Papes Studie auch gewissermaßen pädagogisch-metahistorisch die schöne Erkenntnis, dass Geschichtsschreibung der Heuchelei, Lüge und politischen Instrumentalisierung entgegenwirken kann.
Gratwein Peter Meier-Bergfeld