Recht im frühmittelalterlichen Gallien.
SchottRecht20010205 Nr. 665 ZRG 119 (2002) 20
Recht im frühmittelalterlichen Gallien. Spätantike Tradition und germanische Wertvorstellungen, hg. v. Siems, Harald/Nehlsen-v. Stryk, Karin/Strauch, Dieter (= Rechtsgeschichtliche Schriften 7). Böhlau, Köln 1995. 147 S.
Der schmale, aber gehaltvolle Band enthält vier überarbeitete Vorträge, die 1992 auf dem deutschen Rechtshistorikertag in Köln in einer von Karin Nehlsen‑von Stryk eingerichteten Sektion zum frühmittelalterlichen Recht in Gallien gehalten wurden. Die Herausgeber sind sich dessen bewusst, dass mit diesen wenigen Beiträgen das Thema nur perspektivisch erfasst werden kann und dass man Desiderate in Kauf zu nehmen hat. Schon das anvisierte Ziel, die Spannungslage zwischen spätantiker Tradition und germanischen Wertvorstellungen zu thematisieren, lässt ein besonders kreatives Moment, das Kirchenrecht, in Randlage geraten, was als augenfällige Schwäche nicht unvermerkt bleiben kann. Den Herausgebern ist freilich das Fehlen dieses „Herzstücks“ nicht entgangen, weshalb Harald Siems einleitend die Rolle des frühmittelalterlichen Kirchenrechts kurz skizziert. Im übrigen sind die einzelnen Beiträge durchweg von hoher Qualität, und man hat erfreut zu konstatieren, dass sich hier germanistische und romanistische Arbeitsweise zur fruchtbaren Kooperation zusammengefunden haben.
Detlef Liebs behandelt „Die im spätantiken Gallien verfügbaren römischen Rechtstexte. Literaturschicksale in der Provinz zwischen dem 3. und 9. Jahrhundert“. Der Verfasser unterteilt seine Bestandsaufnahme in „außerhalb Galliens entstandene Rechtstexte“ und „in Gallien entstandene Rechtstexte“. Entsprechen die Ergebnisse auch den Erwartungen, so werden diese doch hier erstmals konkret belegt. Von den außergallischen Rechtstexten ist der Codex Theodosianus weitaus am meisten bezeugt, gefolgt von den pseudopaulinischen Sentenzen sowie vom Codex Gregorianus und Codex Hermogenianus. Schwach vertreten ist der Codex Justinians. Als verbreitet werden auch die italische Sammlung nachtheodosianischer Novellen sowie die Institutionen des Gajus genannt. Zusammen mit vereinzelt nachgewiesenen, selteneren Werken lassen sich nahezu zwanzig Textspuren ausmachen, ein beachtlicher Reichtum, allerdings lokal konzentriert auf das südliche Gallien und zeitlich auf die Zeitspanne des 5. bis 6. Jahrhunderts. Bei den genuin gallischen Texten überwiegt das westgotische Breviar mit seinen Epitomen, Fragmenten und Bearbeitungen. Der burgundischen Lex Romana kommt dagegen nur marginale Bedeutung zu. Als Fazit kann Liebs feststellen, dass „das Breviar bis zum Ende des 10. Jahrhunderts das Mutterschiff für das römische Recht in Gallien“ ist (28). Angemerkt sei hier, dass die von Conrat und Mommsen angenommenen Handschriftenprovenienzen inzwischen zum Teil überholt sind. So ist zum Beispiel der Codex Sangallensis 731 weder in St. Gallen entstanden, noch wird dieser dort seit dem 9. Jahrhundert aufbewahrt. Die Handschrift ist erst seit dem 17. Jahrhundert in der Stiftsbibliothek St. Gallen nachweisbar und ist wahrscheinlich ein Produkt der Schreibschulen Lyons, was wiederum den Forschungsergebnissen von Liebs entgegenkommen dürfte.
Harald Siems beschäftigt sich mit „Textbearbeitung und Umgang mit Rechtstexten im Frühmittelalter“, insbesondere mit der „Umgestaltung der Leges im Liber legum des Lupus“. Siems geht es zunächst um das elementare Problem der Fragestellung und Antwortfindung: „Wie haben sich intelligente frühmittelalterliche Benutzer von Rechtshandschriften zu orientieren versucht, welche Techniken und Hilfsmittel haben sie sich geschaffen, um sich über den Inhalt von Rechtstexten zu informieren?“(36). Der Verfasser stellt sich diese Frage nach dem Umgang mit Rechtstexten vor dem Hintergrund einer kontroversen Diskussion um die Bedeutung dieser Texte, insbesondere der Leges, in der Realität des frühmittelalterlichen Rechtslebens. Mit seiner Fragestellung geht es ihm allerdings nicht primär um eine Antwort zur tatsächlichen Benutzung oder Anwendung, „vielmehr um das bewusste Schaffen von Voraussetzungen dafür“ (36). Mit Überschriften, Nummerierungen und Kapitelverzeichnissen ließ sich schon Vieles erreichen. Schon hier sei aber der Einwand erlaubt, ob nicht die Fragestellung selbst zu einem guten Teil der Optik des modernen Juristen entstammt, der angesichts der gewaltigen Rechtsmassen auf Hilfsmittel angewiesen ist. Gerade die einzelnen Leges sind von verhältnismäßig überschaubarem Umfang und darüber hinaus oft auch durch Titelregister erschlossen, so dass man die Zugangsprobleme nicht allzu hoch veranschlagen sollte. Erinnert sei auch daran, dass hochmittelalterlichen Juristen ganz andere Erinnerungs‑ und Suchleistungen abgefordert wurden, ohne dass man darin ein gravierendes Hindernis gesehen hätte. Immerhin mag sich bei Sammelhandschriften, welche die überwiegende Überlieferungsform der Leges darstellen, die Frage der benutzerfreundlichen Textaufbereitung eher einstellen, wobei man allerdings wieder am Anfang angelangt ist, nämlich bei der Frage nach dem Benutzerkreis. Siems hat sich als Studienobjekt den sogenannten Liber legum ausgesucht, der in zwei Handschriften überliefert ist und ‑ nicht zweifelsfrei ‑ als Werk des Lupus (gestorben 862), des späteren Abtes von Ferrieres, gilt. Der Liber legum enthält die Lex Salica, Lex Ribvaria, das langobardische Recht, die Lex Alamannorum, die Lex Baiuvariorum und die Kapitularien. Lupus hat sich in unterschiedlicher Weise der Textgestaltung angenommen: Während er die Alemannenlex in ihrem traditionellen Zustand beließ, hat er sich beim ribvarischen und bayrischen Stammesrecht durch andere Zählweise, Vermehrung der Überschriften und Untergliederungen gewisse Eingriffe erlaubt. Dagegen hat er versucht, die Lex Salica durch Umstellungen in eine bessere sachliche Ordnung zu bringen, eine Methode, die er dann bei der langobardischen Gesetzgebung nochmals intensivierte. Bemerkenswerterweise bezeichnet er die „Systematisierung“ der langobardischen Textschichten als „Concordia de singulis causis, quas Rothari, Grimuald, Liutprand, Ratchis, Aistulf constituerunt, omnes insimul adunate et concordate, ut legem querentibus facilius invenire queant quod cupiunt“ (63). Hier hat man es doch offensichtlich mit schulmäßigen Bemühungen um eine Stofferfassung zu tun, und man fühlt sich sogleich an das Testament des Grafen Ulrich von Ebersberg vom Jahre 1029 erinnert, der sich darüber beklagt, dass die Leges als Schulstoff inzwischen aus der Mode gekommen seien. Man wird der Feststellung von Siems zustimmen können, dass die Leges im 9. Jahrhundert „nicht nur die abgehobene Funktion herrscherlicher Selbstdarstellung hatten“, sondern dass „mit ihnen gearbeitet“ wurde (72). Freilich haben jene, die auf die „herrscherliche Selbstdarstellung“ abheben und damit nur den Rechtsetzungsakt meinen, eine solche schulmäßige Verwendung nie bestritten, sondern haben gerade damit das Phänomen der Sammelhandschriften erklärt.
Ebenfalls eine grundsätzliche Thematik spricht Wulf Eckart Voß an mit seinem Beitrag „Vom römischen Provinzialprozeß der Spätantike zum Rechtsgang des frühen Mittelalters“. Spätestens seit Bethmann‑Hollwegs „Civilprozeß des gemeinen Rechts in geschichtlicher Entwicklung“ (5 Bände, Bonn 1864‑1873) gilt als ausgemacht, dass dem römischen Provinzialprozess der fränkisch‑germanische Prozess als prinzipiell anderes Modell gegenübertritt. Konstitutiv für letzteren und dessen Andersartigkeit ist die funktionale Aufteilung in ein genossenschaftlich organisiertes Urteilergremium und den herrschaftlich eingesetzten Gerichtsherrn, dem nur die Prozessleitung und Ausübung des Gerichtszwanges obliegt. Die Annahme einer genuin‑fränkischen Grundstruktur der Gerichtsverfassung liegt auch dem letzten größeren Werk zu diesem Themenbereich von Jürgen Weitzel „Dinggenossenschaft und Recht“ (2 Bände, Köln/Wien 1985) zu Grunde. Voß stellt nun die Frage, ob angesichts der inzwischen auf weiten Gebieten zu beobachtenden römisch‑germanischen Symbiose nicht auch diese selbstverständlich gewordene Zäsur zu relativieren, wenn nicht gar in Frage zu stellen wäre. Ausgangspunkt der Überlegungen ist die Tatsache, dass die Barbaren mit System zur Grenzverteidigung und zum militärischen Schutz des Reiches angesiedelt und eingesetzt wurden, sei es als Unterworfene oder als Föderaten, und dass sie dieses Bewusstsein selbst kultivierten. Als militärische Bevölkerung unterstanden die Barbaren, die bald überhaupt den „exercitus Romanus“ bildeten, dem Militärrecht und der Militärgerichtsbarkeit, die im Laufe der Zeit auf immer weitere Gebiete ausgedehnt wurde. Voß zieht nun eine Parallele zwischen einer Konstitution Justinians vom Jahre 531 (C. 3,1,17), in der von zur Rechtsprechung in Militärsachen berufenen „tales homines“ die Rede ist, und einem romanisch‑fränkischen Ämtertraktat, der von „obtimates rathinburgii“ (gebessert aus „ratinii purii“) spricht (ediert von Max Conrat, in: ZRG Germ. Abt. 29 [1908] 239ff.) und stellt damit eine Kontinuitätsspur von der spätantiken, römischen Militärgerichtsbarkeit zur fränkischen Gerichtsverfassung zur Diskussion. Die These hat etwas suggestiv Bestechendes und sollte weiter verfolgt werden. Andererseits ist die Quellengrundlage noch zu schmal, um schon zur Aufgabe der bisherigen Sichtweise zu zwingen. Es sei auch darauf hingewiesen, dass man das Richter‑Urteiler‑Modell schon bisher nicht durchweg als rein fränkisch‑germanische Institution angesehen hat. So ist bei Karl Kroeschell zu lesen, dass im frühen Mittelalter „sicherlich nicht ohne römischen Einfluss dem das Urteil sprechenden Rechtskundigen ein Richter vorgesetzt worden (ist)“ („Deutsche Rechtsgeschichte“ 1, 11. Auflage, Opladen 1999, 40). Auch unter dem Gesichtspunkt der „Symbiose“ kann man aber den Rachinburgen ihre fränkische Herkunft als „Rechenbürgen“ und Bustaxatoren belassen, ohne dass man ihre Funktion damit schon aus dem Beraterkreis des Magistratsrichters ableitet. Immerhin bleibt auch im Auge zu behalten, dass der germanische Prozess weniger auf materielle als vielmehr auf prozessuale Leistungserbringung ausgerichtet ist. Man wird also die von Voß behutsam vorgetragene These weiter diskutieren müssen.
Mit seinem Beitrag „Strafe und Strafverfahren bei Gregor von Tours und in anderen Quellen der Merowingerzeit“ setzt Jürgen Weitzel seine Untersuchungen fort, denen er bereits an anderer Stelle eine eingehende Studie gewidmet hat (ZRG Germ. Abt. 111 [1994] 66ff.). Gefragt wird nach dem Bild, das sich die germanisch‑romanische Mischbevölkerung Galliens im 6. und 7. Jahrhundert vom Phänomen der Strafe machte. Dabei ist Gregor von Tours zwar ein Zeitzeuge, jedoch ein solcher, dessen Augenmerk weniger auf das Gleichmaß des Alltags, sondern bevorzugt auf die Auffälligkeiten seiner Zeit, insbesondere aber auf Kirche und Königtum gerichtet ist. Weitzel legt überzeugend dar, dass Strafe und Strafprozess, als Instrument auch gegenüber Freien eingesetzt, ein Produkt des fränkischen Großkönigtums sind, das sich auch in dieser Hinsicht an römischen Traditionen und Vorbildern orientiert. Strafe ist nur insoweit eine Fortsetzung germanischer Wertvorstellungen, als sie nunmehr eine neue Form der Rache, jedoch einer Rache des Königs, darstellt. Der nicht ausbleibende Legitimationszwang hat eine Verrechtlichung zur Folge, das heißt die „wilde“ Rache des Königs wird mit einer prozessualen Struktur versehen. Prozeduralisierte Strafe bleibt jedoch noch Jahrhunderte auf das Herrschaftszentrum beschränkt, so dass der „volksrechtliche“ Rache‑Sühne‑Mechanismus daneben weiter besteht. Ein privat Geschädigter konnte versuchen. das Herrschaftszentrum für seine Verletzung zu interessieren ‑ ob es bereits eine „peinliche Klage“ gab, lässt der Verfasser offen ‑ und damit ein Königsverfahren herbeiführen oder er konnte den traditionell‑„archaischen“ Weg der Rache beziehungsweise der Ablösungsalternative durch Bußleistung beschreiten. Die Art der Beweismittel ‑ Gottesurteil und Reinigungseid einerseits und Ermittlung mit Folter andererseits ‑ indiziert dem historischen Betrachter die jeweilige Wahl des Verfahrens. Weitzel ist damit ein plausibles Deutungsmodell für das neue Phänomen der Strafe im fränkischen Großreich und das Fortbestehen des traditionellen Rache‑Sühne‑Mechanismus gelungen.
Insgesamt hat man dem vorliegenden Band durchweg Mustergültigkeit zu bescheinigen. Die Forschung zur fränkisch‑germanischen Akkulturation im romanischen Umfeld ist mit den vier Beiträgen ein gutes Stück vorangekommen.
Zürich Clausdieter Schott