Scheutz, Martin, Alltag und Kriminalität.
GebhardtScheutz20010916 Nr. 10420 ZRG 119 (2002) 48
Scheutz, Martin, Alltag und Kriminalität. Disziplinierungsversuche im steirisch-österreichischen Grenzgebiet im 18. Jahrhundert (= Mitteilungen des Instituts für österreichische Geschichtsforschung Ergänzungsband 38). Oldenbourg, München 2001. 600 S.
Mit der vorliegenden Habilitationsschrift hat sich der Wiener Historiker das Ziel gesetzt, dem Weg der Sozialdisziplinierung in der Frühen Neuzeit nachzuspüren. Zu diesem Zweck sollte der Zusammenhang von Normen, abweichendem Verhalten und Sanktionspraxis aufgezeigt werden, um den tatsächlichen Fortschritt der Durchstaatlichung der frühneuzeitlichen Gesellschaft aufzudecken.
Als Untersuchungsgebiet dient der Bereich der Kartause Gaming, einer geistlichen Grundherrschaft im südwestlichen Niederösterreich, die bis zur josephinischen Klosteraufhebung von einem Prälaten geführt wurde und danach zum Bestandteil des Religionsfonds gehörte. Die größte Ansiedlung der Gegend war der Markt Scheibbs, als dessen Marktherr der Prälat fungierte. Wirtschaftliche Basis des Gebietes waren die Holzwirtschaft sowie der Proviant- und Eisenhandel. Die Quellengrundlage bilden vor allem Akten aus dem Österreichischen Staatsarchiv, dem Niederösterreichischen Landesarchiv sowie dem Stadtarchiv Scheibbs. Dabei wurden insbesondere 185 Prozessakten des Landgerichtes Gaming aus den Jahren 1592 bis 1801 sowie das Scheibbser Marktgerichtsprotokoll ausgewertet.
In den einleitenden Kapiteln wird vorerst ein geraffter, aber sehr instruktiver Überblick der theoretischen Modelle zur Sozialdisziplinierung geboten. Ein darauf folgender Bericht über den österreichischen Forschungsstand in Bezug auf Kriminalität bietet weit über den Rahmen dieses Werkes hinausgehende Perspektiven. Daran anschließend wird der Aussagewert von Prozessakten des 18. Jahrhunderts hinterfragt, wobei bereits konkrete Fälle als Beispiele dienen.
Im Hauptteil der Arbeit wird zunächst sehr ausführlich das gerichtliche Organisationsgefüge vorgestellt, an dessen Spitze der Hofrichter als höchster weltlicher Funktionsträger der Herrschaft stand. Dabei erfolgt auch ein Blick auf die finanzielle Situation des Landgerichts, die im 18. Jahrhundert meist defizitär war, da die Gerichtskosten von den meist mittellosen Delinquenten nicht bestritten werden konnten und auf der anderen Seite die Hinrichtungen äußerst kostspielig waren. Daneben gab es in Scheibbs und Gaming auch eigene Marktrichter, mit denen es immer wieder zu Zuständigkeitsstreitigkeiten kam. Andererseits fungierten die Scheibbser Ratsherren als Beisitzer im Landgericht. Interessant ist auch die ambivalente Rolle der Gerichtsdiener, die von der Bevölkerung nur gering geschätzt wurden. Ab dem Beginn des 18. Jahrhunderts lag jedoch bei schweren Fällen die letzte Urteilsentscheidung nicht mehr beim Landgericht selbst, sondern war der niederösterreichischen Regierung bzw. juristischen Gutachtern vorbehalten.
Aus den aufgezeigten Fällen ergeben sich viele Erkenntnisse. So zeigt sich zunächst bei der Niedergerichtsbarkeit ein hoher Anteil von Unzuchtsfällen, bei denen insbesondere mit Geldstrafen vorgegangen wurde. Ein besonderes Charakteristikum der Gegend waren Eisendiebstähle, die vor allem von Einzeltätern aus der Gruppe der Lohnabhängigen bzw. aus der Nachbarschaft verübt wurden und die bestohlenen Hammerschmiede auf Grund des damals bestehenden Widmungssystems besonders hart trafen. Denn diese mussten gegenüber den Provianthändlern für den Verlust des Eisens haften und verloren gleichzeitig den Schmiedlohn. Vielfach wird die damals noch tief verwurzelte Religiosität der Menschen sichtbar. „Teuflische Eingebungen“ werden sehr oft als Tatmotiv genannt. Genaue Statistiken über Berufsverteilung, Alter und Herkunftsangaben der Angeklagten sowie über die Verteilung der Delikte ergänzen diese Ausführungen zu den Strafprozessen.
Ein weiterer Schwerpunkt der Arbeit liegt dann in der Darstellung der Disziplinierungsgewalten im Markt Scheibbs. Dabei werden die Rollen des Marktrichters und der Ratsbürger ebenso aufgezeigt wie die Tätigkeiten und die Stellung des Marktschreibers, des Schulmeisters, der Wächter sowie des vom Markt bezahlten Viehhirten, der auch für die Beaufsichtigung der Kinder herangezogen wurde. Die regelmäßigen Wochen- und Jahrmärkte spielten natürlich eine ganz besondere Rolle in der Wirtschaftsstruktur des Marktes. Sie waren aber auch ein Brennpunkt für zwielichtiges Publikum, das man durch verstärkte Kontrollen zu kanalisieren trachtete. Ein weiteres regelmäßiges Unruhepotential bildeten vagierende Handwerksgesellen und ganz besonders Bettler, die man mit generalstabsmäßig geplanten Visitationen und anschließenden Schüben in den Griff bekommen wollte. Dabei wird aber das Vollzugsdefizit der obrigkeitlichen Armenpolitik deutlich. Die Kriminalitätsakten zeigen nämlich, dass man im 18. Jahrhundert vom Bettel einigermaßen leben konnte, während die obrigkeitliche Fürsorgepolitik die Armen nur unzureichend versorgte. Als besonderes Mittel der Disziplinierung wird auch der Problemkreis der gewaltsamen Rekrutierung angesprochen. Die normativen Quellen postulierten zwar, dass die Rekrutierung nicht als Strafsanktion auferlegt werden könne, die Gerichtspraxis war jedoch eine diametral entgegengesetzte. Und schließlich wird auch die Rolle von magischen Vorstellungen im Alltag und insbesondere als Möglichkeit zur Konfliktlösung aufgezeigt.
Insgesamt bietet die vorliegende, sehr quellenkritische Untersuchung ein abgerundetes Bild der Sozialdisziplinierung der frühneuzeitlichen Gesellschaft in der österreichischen Provinz. Dabei wird deutlich, dass bei näherer Betrachtung das Modell eines allmächtigen Staates mit einem umfassenden Zugriff nicht aufrecht erhalten werden kann. Vielmehr müssen verschiedene ordnende Zwischenebenen der Gesellschaft berücksichtigt werden, wobei viele Regulierungsmaßnahmen auch auf Druck von „unten“ getroffen wurden.
Graz Helmut Gebhardt