Schewe, Dieter, Geschichte der sozialen und privaten Versicherung im Mittelalter in den Gilden Europas

* (= Sozialpolitische Schriften 80). Duncker & Humblot, Berlin 2000. 344 S. Besprochen von Wolfgang Forster. ZRG GA 119 (2002)

ForsterSchewe20010903 Nr. 10293 ZRG 119 (2002) 39

 

 

Schewe, Dieter, Geschichte der sozialen und privaten Versicherung im Mittelalter in den Gilden Europas (= Sozialpolitische Schriften 80). Duncker & Humblot, Berlin 2000. 344 S.

 

Am Ende des 20. Jahrhunderts, das im Rückblick vielleicht auch als „Jahrhundert der Versicherung“ (25) wird gelten können, hat Schewe mit diesem Werk eine umfassende  Vorgeschichte der Versicherung im europäischen Mittelalter vorgelegt. Schon zu Beginn wird sein gegenwartsbezogener Ansatz klar: Der Verfasser will die Vorgänger und Vorläufer heutiger Versicherungen entdecken, „nicht solche ... finden, die es geistesgeschichtlich hätte geben müssen“ (6, vgl. auch 288). Damit ist implizit die Frage, welcher Begriff von Versicherung zu Grunde gelegt wird, um von anderen Erscheinungsformen gegenseitigen Beistands abzugrenzen, auch schon beantwortet. Wie an etwas versteckter Stelle zu erfahren ist, hält Schewe es aufgrund der Kontinuität der Versicherung bis zur Gegenwart für „zulässig und sogar geboten“ (223 Fn. 546), den modernen Versicherungsbegriff zu benutzen - in sich ein offensichtlicher Zirkelschluss, aber als Formulierung des Forschungsansatzes konsequent. Der heutige Versicherungsbegriff der „Deckung eines ungewissen Mittelbedarfs durch Risikoausgleich im Kollektiv und in der Zeit“ wird vom ihm aber als zu weit angesehen, um Unterscheidungen zu ermöglichen (27). Wie aus den späteren Ausführungen (222f.) hervorgeht, versteht er dies nicht als begrifflich zu weit, sondern als zu abstrakt. Daher stellt er auf das Vorkommen einzelner Elemente, wie u. a. Isolierung eines Risikos, Entstehen einer nicht schon ohnehin bestehenden Ersatzpflicht und eines entsprechenden Anspruches, Beitritt zu einer Gefahrengemeinschaft und Beitragszahlungspflicht, ab (28, vgl. auch 288). Später wird noch das Überwiegen des Eigeninteresses der Versicherten genannt (45). Nicht als Elemente geeignet sind Verwandtschaft, Nachbarschaft etc., Verpflichtungen aufgrund der Nächstenliebe, Verpflichtung zu persönlichen Leistungen (Totenwache) und zu Sachleistungen, es sei denn als Geldersatz (28, vgl. auch 288). Schewe legt also den modernen Versicherungsbegriff zugrunde, der anhand einzelner Elemente benutzt wird. Damit ermöglicht er innerhalb seines Untersuchungszeitraums von 900-1500 (5) eine einheitliche Analyse so disparater Erscheinungen wie etwa der Statuten der sogenannten Londoner Friedensgilde von 930 (42ff.) einerseits und eines Seedarlehens mit Nichtigkeitsklausel von 1347 (212ff.) andererseits. Dem entspricht auch die zupackende Art der Auslegung; die Fragen und Begriffe der Versicherungswissenschaft und des Versicherungspraktikers - wie: versicherter Personenkreis, versicherte Risiken, Leistungen, Beiträge, wagnisgerechte Prämie (252) - stehen dafür bereit. Inhaltlich beruht die Arbeit auf der genauen zeitlichen und räumlichen Zuordnung mittelalterlicher Gilden sowie der Zusammenstellung und Analyse einer Vielzahl veröffentlichter Urkunden, die teilweise in Tabellen (203f. und 270-272) zusammengestellt sind. Anhand dieses Materials hat Schewe die bisherige versicherungsgeschichtliche Literatur ausgewertet und einer kritischen Prüfung unterzogen.

Nach einem gemessen an der gerade angedeuteten epistemischen Last recht knappen ersten Kapitel über „Versicherungen in historischer Sicht“ (25-30) werden in Einzelkapiteln zahlreiche Gilden untersucht. Zunächst wendet sich der Verfasser dem Kapitel 16 des Capitulare Heristalense von 779 zu, in dem im Zusammenhang mit Gilden von Armut, Feuer und Schiffbruch die Rede ist. Schewe lehnt es nachdrücklich ab, hierin schon den Nachweis für das Bestehen von Versicherungen zu sehen, insbesondere da die versprochenen Leistungen persönlicher Natur sind (37, vgl. auch 26). In den Kapiteln 3 bis 5 werden die Gilden in England (41-56), im Gebiet am Rhein, Flandern und dem Weser-Elbe-Gebiet (57-79) sowie in skandinavischen Ländern (80-109) im Zeitraum bis zum 14. Jahrhundert im einzelnen betrachtet. Dabei sieht Schewe in dem vor 950 entstandenen Gildestatut von Exeter erstmals eine gemeinschaftliche Gefahrübernahme für die Fälle des Brandes und des Todes, die als Versicherung zu benennen ist (49f.). Den ebenfalls dort genannten Fall „oet supfore“ (48) übersetzt der Verfasser ohne weiteres mit „Südfahrt“[1] im Sinn einer Handelsschifffahrt - im Gegensatz zu einer früheren Auffassung, die darunter eine Todesmetapher verstand - und sieht darin eine Gefahrverteilungsregelung innerhalb eines Seedarlehens, die als inhaltliches Indiz für die spätere Verbreitung des Statuts dienen kann (49, 292). Hier wie auch öfter (vgl. etwa 313f. und 28) wären genauere Quellen- und Literaturbelege dem Leser sicher hilfreich gewesen. In den deutschen Gilden sind dagegen bis 1300 keine Versicherungen zu finden (79). In den Regelungen der nordischen Gilden im 11. bis 14. Jahrhundert (80-109) sieht der Verfasser die angelsächsischen Vorbilder verwirklicht (103f.). Insgesamt entwirft Schewe ein differenziertes Bild der Gilden, das keine Untersuchung zum Verhältnis von Gilde und Versicherung in abstracto versucht. Leitbild ist vielmehr eine stufenweise Entwicklung (107f.), die sich im „Abschreiben aus fremden Statuten mit Anpassung an das eigene Gilderecht“ mit der "Übernahme einer ... vorher unbekannten Rechtskonstruktion“ (104) verwirklicht.

Nach einem kurzen Kapitel zu Versicherungen im mittelalterlichen Bergbau (110-116) wendet sich Schewe im 7. Kapitel den Gesellenverbänden im 14. und 15. Jahrhundert zu (117-136), in denen er Kranken- und Arbeitslosenversicherung realisiert findet (128). Dort wurde auch der Zusammenhang von Lohnbezug und Beitragszahlung entwickelt und letztere von der nachträglichen Schadensumlage auf die vorherige Prämienzahlung umgestellt (135). Im Anschluss werden im 8. Kapitel die Gilden in Deutschland, Dänemark und den Nachbarländern im 14. und 15. Jahrhundert detailreich untersucht (137-169), so dass der Verfasser ein in drei Epochen aufgeteiltes  Zwischenergebnis zur Entwicklung der Versicherung im Mittelalter ziehen kann (167-169): Nach dem „gelungenen Start“ in Exeter stagniert die Entwicklung bis zum Ende des 12. Jahrhunderts (167). Von 1200 bis 1350 umfasst die Gildeversicherung in Dänemark und Schleswig neue Personenkreise und Risiken (167f.). Demnach war schon in der ersten Hälfte des 14. Jahrhunderts das Versicherungsprinzip allgemein verbreitet und konnte auf weitere Risiken ausgeweitet werden (167). Ab 1350 bis 1500 kommen neue personale Risiken hinzu, die Zahl der organisatorischen Varianten nimmt zu. In Deutschland bestanden im Gegensatz zu den bisherigen Auffassungen für die Meister in den Gilden bis 1500 keine Versicherungen (142, 304), mit Ausnahme einer Rentenversicherung im Statut der Kölner Böttcher-Zunft von 1397 (159-162).

Ab dem 9. Kapitel (171-184) beschäftigt sich die Untersuchung insbesondere mit der Seeversicherung, zunächst im Kontext der nordischen und portugiesischen Gilden von 1200-1450. Weiter werden die Gilden am Mittelmeer (185-196) und die römischrechtlichen Vorläufer der privaten Seeversicherung im 12. bis 14. Jahrhundert (197-225) behandelt. Diese beinhalteten einen Rechtsanspruch auf eine bedingte Leistung. Dies qualifiziert sie nach dem modernen Begriff aber nicht zu einer Versicherung. Denn eine Regelung, durch welche die Gefahr zwischen den ohnehin Beteiligten nur anders verteilt und nicht für diese vermindert wird, ist eben nur Gefahrverteilung, nicht Versicherung (222f.).

Im 12. Kapitel zur Entstehung der privaten Seeversicherung am Mittelmeer (226-264) wird im Anschluss besonders an die Arbeiten von Perdikas und Nehlsen-v. Stryk die Ansicht abgelehnt, die Versicherung sei aus dem Seedarlehen entstanden (so schon 205). Das Entstehen der Seeversicherung sieht Schewe in den Jahren 1350-85 in italienischen Seestädten, wo die überlieferten Urkundsformulare durch Weglassen der römischrechtlichen Vertragsformeln vereinfacht wurden. Besondere Bedeutung erhält hier die Vertragsgestaltung in Florenz, wo von 1385 und 1388 zwei Seeversicherungsverträge erhalten sind. Die dort neu entwickelte Florentiner Klausel wurde in die folgenden Verträge übernommen und dort weiterentwickelt, die Risiokoübernahme „a la fiorentina“ zum stehenden Ausdruck (252), die mit geringen Abweichungen noch in der Gegenwart praktiziert wird (252 mit Verweis auf Nehlsen-v. Stryk) und sich auch in § 820 HGB wiederfinden lässt (253). Schewe parallelisiert diese Klausel mit den Risikofällen der dänischen Gilden des 13. Jahrhunderts, die allerdings aus einer Zusammenschau verschiedener Gildenbestimmungen gewonnen sind (246), und kommt zu der These, die Florentiner Klausel sei aus diesen übernommen, konkret aus dem 1266 beschlossenen und 1300 erneuerten Statut von Kallehave (249): „Ein Transfer dänischen Rechts, das selbst aus Flandern und England herrührt, in das Gebiet des Römischen Rechts ...“ (250, vgl. auch 264, 302). Als Bindeglied zwischen diesen hat er schon zuvor die verbindliche portugiesische Schiffsversicherung, die auf eine Anordnung des Königs Fernando I. (1345-1383, Regent ab 1367) zurückgeht, herausgestellt (178-183).

Die Verbreitung und Weiterentwicklung der Seeversicherung sowie die Versicherung von Landtransporten werden in Kapitel 13 betrachtet. Im abschließenden Kapitel wiederholt Schewe seine Ergebnisse und stellt sie tabellarisch früheren Auffassungen gegenüber (314). Irritierend wirkt, dass die Einteilung in drei Zeitabschnitte nun anders erfolgt als am Ende des 8. Kapitels. Im Gegensatz zu der auf Goldschmidt zurückgehenden Ansicht der zwei geschichtlichen Wurzeln in der Vertragsversicherung und der genossenschaftlichen Versicherung (so schon 28f.) zeigt sich die Versicherung aus nur einer Quelle entstanden (304), und zwar letztlich den angelsächsischen Statuten von Exeter (294). Eine zusammenfassenden Übersicht (319-324) schließt das Werk ab  und erleichtert, wie auch die 27 weiteren Tabellen und Zeitübersichten, den Zugriff auf die behandelte Materie. Auf diese greift der Leser auch gerne zurück, da die kleinteilige und nicht ganz übersichtliche Gliederung (vgl. etwa 291, 296, 302f.) nicht immer weiterhilft.

Schewe schreckt nicht vor mutigen Thesen zurück und kommt nie in Gefahr, Ergebnisse herauszuarbeiten, die überall und nirgends zutreffen. Neben der Funktion, einen schnellen Zugriff auf eine Fülle von Quellen und Positionen zu ermöglichen, ist es gerade der unverstellte Zugang auf rechtshistorische Entwicklungslinien, der den Reiz dieses Werkes ausmacht.

 

Erlangen                                                                       Wolfgang Forster

[1]) Vgl. dazu Köbler, Gerhard, Altenglisches Wörterbuch, 2. Aufl. 2000 (http://www.koebler.at), Artikel "s_p"und "fær".