Schmidt-De Caluwe, Reimund, Der Verwaltungsakt in der Lehre Otto Mayers.
RüfnerSchmidtdecaluwe20000919 Nr. ZRG 119 (2002) 56
Schmidt‑De Caluwe, Reimund, Der Verwaltungsakt in der Lehre Otto Mayers. Staatstheoretische Grundlagen, dogmatische Ausgestaltung und deren verfassungsbedingte Vergänglichkeit (= Jus Publicum Beiträge zum öffentlichen Recht 38). Mohr (Siebeck), Tübingen 1999. 320 S.
Der Verfasser veröffentlicht mit dem angezeigten Werk den vorwiegend rechtshistorischen Teil seiner Gießener Habilitationsschrift. Er will die Lehre vom Verwaltungsakt gesetzesgeleitet und am Verfassungsrecht orientiert rekonstruieren und sich dabei von überholten Dogmen abkoppeln (S. 14). Als wichtiges Beispiel nennt er vorab in den einleitenden Bemerkungen (erster Teil, S. 1 18) die verfassungsrechtliche Problematik der Maßgeblichkeit rechtswidriger Verwaltungsakte (S. 14‑18).
Mit Recht wird im zweiten Teil (S. 19-45) der Begriff des Verwaltungsakts im bisherigen Verständnis trotz mancher Vorläufer auf Otto Mayer zurückgeführt, der von einem obrigkeitsstaatlichen Staatsverständnis ausging (S. 19-25). Die Rechtsschutzfunktion des Verwaltungsakts hält der Verfasser für überholt (S. 25‑31), eine These, die weithin richtig ist, aber im einzelnen vielleicht doch noch hinterfragt werden müßte.
Der Verfasser legt sodann in den beiden ersten Kapiteln des dritten Teils (S. 49-67) die Staatsauffassung Otto Mayers dar, die im Staat als Anstalt gipfelt (S. 67‑69). Die Veränderung von 1918 war für Otto Mayer nicht erheblich, weil die Verfassung den Staat nicht konstituiert, sondern organisiert, wie der Verfasser meint, das typische Staatsverständnis der konstitutionellen Monarchie (S. 65f.). Ob die gegenteilige Auffassung, welcher Schmidt‑de Caluwe zuzuneigen scheint, wirklich haltbar ist, sei dahingestellt.
Der Autor versucht in den folgenden Kapiteln mit großem Argumentationsaufwand nachzuweisen, daß Otto Mayers Verwaltungsrechtslehre dem demokratischen Staat nicht entspricht, sondern in jeder Hinsicht obrigkeitsstaatlich geprägt ist. Dies ist im Prinzip nicht zu bestreiten, wiewohl der Verfasser in seinem Eifer gelegentlich über das Ziel hinausschießt. Er kritisiert z. B., daß Otto Mayer anstelle eines Erfüllungsanspruchs auf Leistung, Unterlassung oder Duldung des Staates den Anspruch auf Erlaß eines Verwaltungsakts setzt (S. 179) Damit würdigt er die Klarstellungs‑ und Kontrollfunktion des Verwaltungsakts nicht genügend.
Richtig ist, daß, wie im vierten Teil (S. 270‑308) ausgeführt wird, unter dem Grundgesetz „der einzelne unter keinen Umständen als Untertan innerhalb eines allgemeinen Gewaltverhältnisses begriffen werden“ kann (S. 279). Ob das Verhältnis des Bürgers zur gesetzesgebundenen Verwaltung deshalb ein gleichgeordnetes Rechtsverhältnis in dem Sinne sein kann, „daß es nur noch eine durch die Verfassung begründete allgemeine Unterworfenheit geben kann, diejenige unter das Recht“ mag man gleichwohl bezweifeln, denn das Recht gibt den Trägern öffentlicher Verwaltung nach wie vor so viel Macht, daß die These von der Gleichordnung nur als Theorie, nicht als Erklärung des Alltagshandelns tauglich ist. Der Verfasser muß deshalb anschließend einschränken. Er will weder den herrschaftslosen Staat propagieren noch „das Verwaltungsrechtsverhältnis als ein Gleichordnungsverhältnis im Sinne eines Balancezustandes“ interpretieren (S. 179).
Der praktische Ertrag der richtigen und notwendigen theoretischen Erörterungen ist danach angesichts der nunmehr im Verwaltungsverfahrensgesetz vorhandenen Regelungen nicht sehr groß. Der Autor vertritt allerdings die Auffassung, daß die einseitige Bestimmung durch Verwaltungsakt einer gesetzlichen Grundlage bedarf (S. 283ff.). Dabei soll das Verwaltungsverfahrensgesetz nicht genügen (S. 285). Der Verfasser fragt vielmehr nach einer verfassungsrechtlichen Legitimation des Verwaltungsakts und seiner Bindungswirkung, insbesondere der Bindungswirkung des bestandskräftigen rechtswidrigen Verwaltungsakts. Den Verwaltungsakt an sich in Frage zu stellen, hält er zwar für unsinnig und erklärt die üblicherweise für ihn vorgebrachten Gesichtspunkte für ausreichend (S. 287‑289). Die Verbindlichkeit des nicht angefochtenen rechtswidrigen Verwaltungsakts bleibt aber fraglich. Die pauschale Begründung mit der Rechtssicherheit hält der Verfasser für problematisch. Er vermißt auch konkretisierende Vorschriften für die Ausübung des Ermessens bei der Rücknahmeentscheidung nach § 48 VwVfG. Er meint, die unterschiedlichen Regelungen im Verwaltungsverfahrensgesetz und im Sozialgesetzbuch X seien nicht begründbar (S. 299‑305).
Allerdings zieht er daraus nicht klar die Konsequenz, daß die einschlägigen Vorschriften verfassungswidrig und nichtig seien. Er fordert vielmehr auf, „einen differenzierenden Standpunkt zu beziehen, sich an den je konkreten Vorgaben des Gesetzgebers zu orientieren und die einfachrechtlichen Regelungen sowie die grundrechtliche Position des einzelnen gegenüber dem Staat zum Ausgangspunkt der Lehre des Verwaltungsakts zu nehmen“ (S. 304). Daraus lassen sich Regeln für einzelne Sachbereiche und Fallkonstellationen entwickeln.
In seiner Schlußbemerkung versucht der Verfasser, Otto Mayer insofern gerecht zu werden, als er erklärt, seine Kritik gelte weniger den Lehren Otto Mayers als derer unreflektierter Konservierung. Diese Einschränkung war notwendig; denn Leistungen Otto Mayers dürfen nicht allein aus heutiger Sicht bewertet werden.
Schmidt-de Caluwe gebührt das Verdienst, die staatstheoretischen Grundlagen Otto Mayers ausführlich dargestellt und ins Bewußtsein unserer Zeit gehoben zu haben. In allen grundsätzlichen Fragen ist ihm zuzustimmen, mag er auch gelegentlich etwas überzeichnet haben. Als technisches Instrument und normale Handlungsform der Verwaltung bleibt die von Otto Mayer entwickelte Rechtsfigur des Verwaltungsakts gleichwohl weiterhin unentbehrlich. In manchen Fällen, z. B. bei der Entscheidung über die Rücknahme rechtswidriger Verwaltungsakte, aber nicht nur dort, legen die Erkenntnisse Schmidt‑de Caluwes ein Überdenken der herkömmlichen Praxis nahe.
Köln/Bonn Wolfgang Rüfner