Schmoeckel, Mathias, Humanität und Staatsraison.

* Die Abschaffung der Folter in Europa und die Entwicklung des gemeinen Strafprozess- und Beweisrechts seit dem hohen Mittelalter (= Norm und Struktur 14). Böhlau, Köln 2000. XI, 896 S. Besprochen von Wolfgang Sellert. ZRG GA 119 (2002)

SellertSchmoeckel20001002 Nr. 10088 ZRG 119 (2002) 37

 

 

Schmoeckel, Mathias, Humanität und Staatsraison. Die Abschaffung der Folter in Europa und die Entwicklung des gemeinen Strafprozess- und Beweisrechts seit dem hohen Mittelalter (= Norm und Struktur 14). Böhlau, Köln 2000. XI, 896 S.

 

Auch wenn die Abschaffung der Folter nur im Untertitel dieser Münchner Habilitationsschrift erscheint, geht es doch zentral um dieses Thema. Da der Verfasser offenbar Bedenken hatte, daß der Leser in seinem voluminösen Werk die Orientierung verlieren könnte, hat er seiner Untersuchung sowohl eine knappe, die Hauptkapitel enthaltende „Inhaltsübersicht“ als auch ein detailliertes „Inhaltsverzeichnis“ vorangestellt. Viel lag ihm auch daran, den Leser vorab mit dem Gegenstand seiner Untersuchung und der Art seiner „Vorgehensweise“ vertraut zu machen. Man wird daher nicht nur in einer längeren „Vorbemerkung“, die eine „Einführung in das Thema“ enthält, sondern auch in einer weiteren noch längeren „Einführung“ (S. 19‑92), die mit dem Abschnitt „Präzisierungen der Fragestellung“ endet, auf die vom Verfasser angesteuerten zentralen Probleme der Arbeit vorbereitet. In gleicher Weise hat der Verfasser die Ergebnisse seiner Arbeit in zwei Hauptkapiteln formuliert, nämlich in dem Kapitel „Ergebnisse und Ausblick“ sowie in dem weniger aussagekräftigen und zum Teil leider nicht gut formulierten Kapitel „Zusammenfassung der Ergebnisse“. Diese etwas umständliche Strukturierung des Textes, der im übrigen eine Fülle von Aufbauerklärungen und Wiederholungen enthält und nicht immer unmittelbar auf den Untersuchungsgegenstand zentriert ist, hat den großen Umfang der Arbeit ohne Zweifel mitverursacht. Gleichwohl handelt es sich um eine nicht nur lesenswerte, sondern auch gut lesbare und ganz überwiegend auf zeitgenössische Primärquellen gestützte Habilitationsschrift, die zwar auf das Ganze gesehen viel Bekanntes rekapituliert, in vielen Einzelfragen aber zu durchaus beachtlichen und neuen Erkenntnissen kommt.

Aber worum geht es? Es geht hauptsächlich um das Problem, welche Ursachen für Friedrich den Großen maßgebend gewesen sind, mit seinem Regierungsantritt und der Kabinettsordre vom 3. 6. 1740 die Folter wesentlich einzuschränken, d. h., sie nur noch bei schwerwiegenden Delikten wie Majestätsverletzung, Hoch‑ und Landesverrat sowie „grossen Mordthaten, wo viele Menschen ums Leben gebracht“ zuzulassen. Um diese immer wieder aus sehr verschiedenen Perspektiven aufgeworfene Frage ranken sich die oft tief in die Rechts‑ und Kulturgeschichte zurückgreifenden und zum Teil weit ausholenden Ausführungen. Wie nicht anders zu erwarten, kommt der Verfasser zu dem Ergebnis, daß die Einschränkung und schließlich die Abschaffung der Folter ihre Wurzeln in den unterschiedlichsten Strömungen der Aufklärung hatten. Dementsprechend ließ sich auch Friedrich der Große 1740 von seinen aufklärerisch‑humanen Ideen leiten, die zugleich Ausdruck eines „neuen Staatsverständnisses“ waren, „welches das Glück der Untertanen stärker beachten wollte“. Die Abschaffung der Folter wird also als eine Entwicklung im Spannungsfeld von Humanität und Staatsraison diskutiert. Letztlich schließt sich Verfasser einer schon von E. Schmidt geäußerten Ansicht an, wonach Friedrich der Große mit der Abschaffung der Folter dem elementaren Schrei des aufgeklärten Menschen nach Humanität Gehör verschafft habe. Außerdem wurde, so der Verfasser, das Folterverbot des preußischen Königs „zum Modell für ganz Kontinentaleuropa“.

Braucht man, so könnte man fragen, um zu diesem mehr oder weniger schon bekannten, hier allerdings vereinfacht wiedergegebenen Ergebnis zu kommen, wirklich nahezu 600 Druckseiten mit mehreren hundert Fußnoten? Der Verfasser führt es uns vor, indem er sich weder eng auf die Abschaffung der Folter noch auf die Epoche der Aufklärung beschränkt, sondern zusätzlich, wie im Untertitel seiner Habilitationsschrift angekündigt, „die Entwicklung des gemeinen Strafprozeß- und Beweisrechts seit dem hohen Mittelalter“ untersucht. Denn das „Beweisrecht könne nur im Zusammenhang mit dem es steuernden Verfahrensrecht betrachtet werden“. Hier stutzt man allerdings, weil das Beweisrecht nicht, wie es die Formulierung des Verfassers suggeriert, eine vom Strafprozeßrecht losgelöste Einrichtung, sondern integraler Bestandteil dieses Verfahrensrechts ist. Wer also das Beweisrecht ändert, ändert damit auch das Verfahrensrecht. Demgegenüber braucht von einer Verfahrensänderung das Beweisrecht nicht betroffen zu sein. Die etwas schiefe Betrachtung des Verhältnisses von Beweis und Verfahren wirkt sich später, und darauf wird noch einzugehen sein, auf die Diskussion der Probleme aus. Davon abgesehen will sich der Verfasser zu Recht nicht auf eine dogmengeschichtliche Darstellung beschränken. Er möchte daher seinen Untersuchungsgegenstand „nicht isoliert, sondern in seinen wechselseitigen Bezügen der Gesamtheit der Sozialisations‑ und Herrschaftsprozesse in einem bestimmten historisch‑soziologischen Kontext“ behandeln. Zusätzlich sollen die Einflüsse religiöser, wirtschaftlicher, philosophischer und „erkenntnistheoretischer Entwicklungen“ berücksichtigt werden. Auch sollen mentalgeschichtliche Gesichtpunkte eine Rolle spielen. Denn insgesamt sei „Beweisgeschichte ... immer auch Kulturgeschichte“. Um die Leistung Friedrichs des Großen wie überhaupt die Abschaffung der Folter angemessen würdigen zu können, soll schließlich geklärt werden, wann und aus welchen Gründen in anderen europäischen Staaten die Folter verboten wurde.

Auf eine Berücksichtigung der sich besonders in diesem anspruchsvollen und breiten Untersuchsuchungsspektrum anbietenden juristischen Praxis verzichtet der Verfasser allerdings weitgehend. Er will statt dessen „vorrangig das europäische Schrifttum jener Zeit, also die theoretische Seite des Themas, nicht aber umfangreiche unerschlossene Aktenbestände“ bearbeiten. Diese Verkürzung sei jedenfalls insoweit gerechtfertigt, als das juristische Schrifttum bis zum 18. Jahrhundert entgegen einer anderen Ansicht schon immer auch die Praxis berücksichtigt habe.

Angesichts des umfänglichen Werkes können in einer auf wenige Seiten beschränkten Rezension nur einige bemerkenswerte Erkenntnisse und Ergebnisse der Habilitationsschrift erörtert werden. In dem zweiten Hauptkapitel „Einführung“ wird gezeigt, daß Friedrich der Große vermutlich bereits als Kronprinz plante, die Folter mit seinem Regierungsantritt einzuschränken, zumal schon sein Vater, Friedrich Wilhelm I., die Folter in Hexenprozessen kritisiert hatte. Friedrich selbst hielt die Folter „zum einen für ein grausames, zum anderen auch zweifelhaftes Mittel, um die Wahrheit über Tatbeteiligung und Tathergang zu ermitteln“. Daß er die Folter nicht völlig beseitigte, hing damit zusammen, daß er einerseits nicht auf die generalpräventiven Wirkungen dieser Einrichtung verzichten zu können glaubte und andererseits eine Gefährdung der Sicherheit des Staates befürchtete. Insofern war die Kabinettsordre Friedrichs ein gewagtes Experiment und wurde aus Sicherheitsgründen nicht publiziert. Erst knapp zehn Jahre später, nachdem die befürchteten Folgen ausgeblieben waren, bekannte sich Friedrich in seiner „Dissertation sur les raisons d’établir ou d'abroger les loix“ offen zur Abschaffung der Folter. Die Strafrichter, soweit sie weiterhin von der Notwendigkeit des Geständnisses überzeugt waren, wies er an, dieses im Falle der Verweigerung einfach zu fingieren, wenn sich gegen einen Inquisiten „so viele Umstände hervorthun, dass sie (die Richter) dadurch ihres Verbrechens völlig überzeugt werden“. Damit konnte die vom Gesetz vorgesehene poena ordinaria und nicht nur die mildere poena extraordinaria auch ohne erfoltertes Geständnis verhängt werden.

Obwohl es in Gesamteuropa (England, Aragon, Schweden, Glasgow, Genf oder Neapel), einen wachsenden Widerstand gegen die Anwendung der Folter gab, konnten die entsprechenden Entwicklungen ‑ beispielsweise wegen Systemverschiedenheit des Prozeßrechts ‑ für Friedrich den Großen „keine richtigen Vorbilder“ sein. So fragt der Verfasser erneut nach den Motiven des preußischen Königs, um allerdings unmittelbar darauf auf „das Anheben der Abschaffungsbewegung nach 1740“ zu sprechen zu kommen. Er nennt vor allem diejenigen Staaten, die wie Dänemark, Braunschweig oder Kursachsen seit 1770 die Folter ganz abschafften und erwähnt schließlich die französische Revolution von 1789, in deren Gefolge viele andere europäische Staaten auf die Folter verzichteten.

Diese an sich hoffnungsvolle Entwicklung wurde nun allerdings dadurch wieder getrübt, daß gleichzeitig mit der Abschaffung der Folter die Lügen‑ und Ungehorsamsstrafe eingeführt wurde, die, weil es für sie keine rechtlichen Kautelen gab, einem Inquisiten oder Zeugen gefährlicher als die Folter werden konnte.

Nun verläßt der Verfasser recht unvermittelt zunächst einmal die bisher auf Preußen und Friedrich den Großen konzentrierten Überlegungen und wendet sich in dem dritten Großkapitel „Diskussionsstränge zur Abschaffung der Folter“ hauptsächlich der wichtigen Frage zu, „woher die Idee stammt, die Folter abzulehnen“.

Zunächst einmal befaßt sich der Verfasser jedoch ganz allgemein mit dem Für und Wider gegen die Folter von der Antike bis „ins 18. Jahrhundert“. Hier werden viele interessante Argumente herausgearbeitet, darunter die einschlägigen Äußerungen bekannter Lehrer, Theologen, Juristen und Philosophen wie Cicero, Bischof Nicolaus I., Martin Luther, Jean Luis Vives, Friedrich von Spee, Michel de Montaigne, Johannes Grevius, Jacob Schaller, Augustin Nicolas, Martin Bernhardi (Pseudothomasius), Thomas Hobbes, John Locke und Pierre Bayle. Das alles geschieht, um zu klären, von welchen Autoren Friedrich der Große „in seiner Ablehnung der Folter beeinflußt gewesen sein könnte“. Der Verfasser kommt aber zu dem Ergebnis, daß Friedrich nicht durch die genannten Autoren, sondern durch anderes aufklärerisches Schrifttum beeinflußt worden ist. Allerdings sind es nicht, wie man bisher angenommen hatte, die leider erst später vom Verfasser als „Epigonen“ erörterten einschlägigen Auffassungen Voltaires, Montesquieus oder Beccarias, sondern es war vornehmlich der Einfluß des französischen Philosophen Pierre Bayles (1647‑1706), als dessen Schüler sich der König „en raison“ bezeichnete und der für ihn „hinsichtlich der staatsrechtlichen Konzeptionen sowie der Ablehnung der Folter eine wichtige Bezugsquelle war“.

Mit der etwas konstruierten Überlegung, daß die „Umsetzung“ der „philosophischen Position“ Friedrichs des Großen „in die juristische Praxis [...] möglicherweise jedoch auch mit Veränderungen in Jurisprudenz und Justiz begründet“ werden könne, leitet der Verfasser in das umfängliche Kapitel „Grundlagen des gemeinen Beweisrechts“ über. Es soll nun hauptsächlich um die vorher schon mehrfach angeschnittene und von J. Langbein bejahte Frage gehen, „ob ein Wandel des Beweisrechts des Strafprozeßrechts die Aufhebung der Folter ermöglichte“. Der Verfasser will deswegen nach einem „Überblick über charakteristische Elemente des gemeinen Beweisrechts die einzelnen Beweismittel in ihrer rechtlichen Bedeutung im Ius Commune“ untersuchen, weil es wichtig sei, zu verstehen, „warum das gemeine Recht zum Mittel der Folter griff“. Mit diesem Ansatz holt der Verfasser sehr weit aus und zentriert seine Überlegungen nicht immer auf das Geständnis. Das hängt damit zusammen, daß sein auf Langbein gestützter Ausgangspunkt für die beabsichtigte Diskussion ziemlich unscharf ist. Denn, und das wird leider vom Verfasser gelegentlich nicht genügend beachtet, das Beweismittel ist nicht die Folter, sondern das Geständnis. Wenn also von einer Veränderung des Beweisrechts oder des Verfahrensrechts im Zusammenhang mit der Abschaffung der Folter die Rede ist, so kann es prozessual einzig und allein auf das Geständnis als integrierter Bestandteil des gemeinen Strafprozesses ankommen. Die Bedeutung der Folter hängt also zunächst einmal entscheidend damit zusammen, welchen Stellenwert das Geständnis im gemeinen Strafprozeß hatte. War es unverzichtbar und wenn ja, warum? Welche anderen Beweismöglichkeiten gab es, wenn das Geständnis nicht als conditio sine qua für eine Verurteilung gehalten wurde? Welche prozessuale Bedeutung kam ferner einem freiwillig, d. h. ohne Folter abgegeben Geständnis zu? Wurde beispielsweise das Geständnis für unverzichtbar gehalten, weil es zugleich als „Beichte“ galt, so lagen die Gründe für eine Aufhebung bzw. Beibehaltung der Folter vorwiegend im religiösen Bereich. Andere Ursachen dürften eine Rolle gespielt haben, wenn das Geständnis lediglich dazu diente, wie der Verfasser an anderer Stelle bemerkt, „den Verbrecher mit der Gesellschaft zu versöhnen“. Und wieder andere Gründe mußten ausschlaggebend sein, wenn es nicht allein um das Geständnis der Tat, sondern um die Ermittlung von Mittätern oder die Aussage von Zeugen ging. Und schließlich mußte die Frage eine Rolle spielen, was mit dem Geständnis bewiesen werden sollte. Solange man das Geständnis für die regina probationum hielt und sich keine Gedanken um den Kern der materiellen Wahrheit machte, kam ein Verzicht kaum in Betracht. In diesem Zusammenhang spricht der Verfasser allerdings gelegentlich unreflektiert teils von dem Beweis der Schuld, teils aber auch von dem Beweis des strafrechtlichen Sachverhalts und bemerkt offenbar nicht, daß zwischen dem einen und anderen juristische Welten liegen können. Zudem wird zwar wiederholt der Beweis im Zivilprozeßrecht von demjenigen im Strafprozeßrecht unterschieden. Daß aber der Beweis in den beiden Prozeßarten ganz unterschiedliche Funktionen haben kann (Inquisitionsmaxime versus Parteimaxime), wird im Zusammenhang mit der Frage nach der materiellen Wahrheit nicht herausgearbeitet. So hätte man die Frage stellen sollen, weshalb es beispielsweise im gemeinrechtlichen Zivilprozeß am Reichskammergericht und am Reichshofrat die Einrichtung eines durch Folter erzielten Geständnisses nicht gegeben hat.

Im übrigen erörtert der Verfasser zahlreiche der soeben angeschnittenen Fragen, allerdings nicht immer zentriert auf das Hauptproblem der Abschaffung der Folter. Dementsprechend geht er bei der Erörterung der Beweismittel mehr oder weniger enumerativ vor und beschäftigt sich mit der „Perfektion des Geständnisses“, der „Kategorie der „probationes plenae“, den „probationes semiplenae et plenae“, den „indicia“, den „praesumtiones“ und schließlich mit dem „Reinigungseid“. Das war in dieser Breite nicht erforderlich, um die am Schluß richtig gestellte Frage zu beantworten, „warum die Richter danach trachteten, ein Geständnis zu erringen“, nämlich, weil sich der Inquisit mit dem Geständnis selbst das Urteil sprach, weil durch ein Geständnis der Sachverhalt als „notorisch bekannt“ galt, weil mit dem Geständnis alle Verfahrensfehler ‑ auch rückwirkend ‑ geheilt waren und folglich keine Appellation mehr in Betracht kam, weil das Geständnis Beichte war und schließlich, weil es den Verbrecher mit der Gesellschaft aussöhnte.

Obwohl damit bereits genügend wichtige Gründe vorlagen, das Geständnis im Ernstfalle auch mit der Folter zu erlangen, beschäftigt sich der Verfasser weiter mit der Frage der „Notwendigkeit“ der Folter „im Rahmen des Beweisrechts“. Es folgen nun Ausführungen zum Thema „Folter und Inquisitionsprozeß“, ferner zu den Fragen, welche Sanktionen einem Richter drohten, wenn er sich nicht an das Beweisrecht hielt (Syndikatsprozeß), welchen Ermessensspielraum der Richter im Beweisrecht hatte, wie das Geständnis abzuleisten war und wie die Folter im einzelnen angewendet wurde. In seinen weiteren Überlegungen zur „Freiheit des Richters im Ius commune“ (arbitrium indicis, probatio arbitraria) nennt der Verfasser sodann fast nebenbei den wichtigen Aspekt, der sich als Ausgangspunkt der einschlägigen Untersuchung gut geeignet hätte, daß nämlich der Richter, „der sich frei, das heißt auch auf Grund von Indizien von der Schuld (sic!) des Angeklagten überzeugen kann“, keine „Folter mehr“ benötigt.

Aber wie stand es mit dieser Freiheit? Hier kommt der Verfasser einerseits zu dem Ergebnis, daß das ;,Ziel des gelehrten Richters ... die Erkenntnis des wahren Sachverhalts“ blieb und zwar unter Beachtung „fester Beweisregeln“. Andererseits hätten aber „die Kompetenzen des Richters doch wesentlich weiter“ gereicht und „ihn zum maßgeblichen Akteur des Verfahrens werden“ lassen, so daß von der „Einleitung des Verfahrens über die Beweiswürdigung bis zur Bestimmung der Strafe ... sein Ermessen maßgeblich“ blieb. Die Frage, weshalb er dann nicht auch auf Geständnis und Folter verzichten konnte, wird damit allerdings nicht beantwortet.

Im folgenden beschäftigt sich die Arbeit erneut mit der Frage, welche Möglichkeiten der Richter im „Fall des unzureichenden Beweises“ hatte. Nun geht es in zwei langen und für sich gesehen durchaus wertvollen Kapiteln um die „Entwicklung der Verdachtsstrafe“ sowie die vor allem auch im Zivilprozeßrecht eine Rolle spielende „absolutio ab instantia“. Man vermag allerdings a priori nicht einzusehen, welche zentrale Bedeutung diese Einrichtungen für die Abschaffung der Folter gehabt haben könnten, es sei denn, es ließe sich nachweisen, daß die Richter besonders wegen dieser Möglichkeiten auf Geständnis und Folter verzichteten oder sogar dazu nach dem Ins Commune angehalten wurden. Das aber ist ganz offensichtlich nicht der Fall, so daß auch der Verfasser schließlich zu dem Ergebnis kommt, es müsse „ausgeschlossen werden, daß die Entwicklung der Verdachtsstrafe die Aufhebung der Folter beeinflußt habe könnte“. Nichts anderes mußte von vorn herein für die „absolutio ab instantia“ gelten.

Zielgerichteter sind demgegenüber wieder die Überlegungen im Kapitel „Entstehen naturrechtlicher Grundsätze“, wo sehr gut gezeigt wird, wie die ursprünglich mit dem Geständnis verbundene Vorstellung von der „Selbstanklage“ zweifelhaft und schließlich als unzulässig angesehen wird. Im übrigen blieb aber, obwohl im 18. Jahrhundert das herkömmliche Beweisrecht durchaus kontrovers diskutiert wurde und obwohl man in der Theorie die Abschaffung der Tortur, sei es, weil sie „als grausam angesehen oder die Unverletztheit menschlichen Körpers als hohes Gut“ bewertet, sei es, weil sie aus Gründen des Strafzweckes für untauglich gehalten wurde, der überlieferte Inquisitionsprozeß in seinen Grundfesten bestehen. Damit trat auch kein grundlegender Wandel in der praktischen Anwendung und juristischen Bewertung von Folter und Geständnis ein. Deswegen sei die These Langbeins unhaltbar, zwischen 1500 uns 1800 seien im Strafprozeß „wichtige Änderungen“ eingetreten, die den „Verzicht auf die Folter ermöglicht hätten“. Insgesamt habe in Europa „die Entwicklung des Rechts nicht zum Verbot der Folter“ geführt. Es hätte sich „lediglich auf der Ebene der allgemeinen Gefühle und der Mentalität [...] eine breite Front gegen die Folter gebildet“. Noch nicht einmal Friedrich dem Großen hätte ein „neues Prozeßrecht vor Augen geschwebt, als er die Folter 1740 im wesentlichen aufhob.

An diesen Ergebnissen wird sichtbar, daß der Autor mit Langbein eine schiefe Ausgangsfrage gestellt hat. Denn natürlich kann die „Entwicklung des Rechts“ nicht aus sich selbst heraus zum Verbot der Folter geführt haben, es sei denn im Wege einer vom Verfasser nicht erwähnten richterlichen Rechtsfortbildung, die allerdings ebenfalls Anstöße von Außen benötigt. Im übrigen sind es die vielfach vom Verfasser geschilderten unterschiedlichsten Einflüsse, die den Gesetzgeber zu einer Veränderung des Beweisrecht im Strafprozeß veranlaßt haben. Das gilt in erster Linie für die Carolina, in der mit einer fortschrittlichen Indizienlehre normativ das Beweisrecht insoweit wesentlich verändert wurde, als nunmehr die Folter für ein Geständnis nur noch beim Vorliegen bestimmter Indizien eingesetzt werden durfte (Art 6 CCC). Und es gilt natürlich für die Kabinettsordre Friedrichs des Großen von 1740, die schlagartig das Beweisrecht und damit auch den Inquisitionsprozeß in einem entscheidenden Punkt veränderte.

Damit bleibt natürlich die Frage bestehen, was den Gesetzgeber der Carolina und ‑ in vorliegendem Falle ‑ Friedrich den Großen motivierte, im Spannungsfeld von Humanität und Staatsraison auf die Folter weitgehend zu verzichten. Diese vom Verfasser schon mehrfach diskutierte Frage wird nun noch einmal im drittletzten Kapitel der Arbeit „Über das Strafprozeßrecht hinausweisende Faktoren“ aufgenommen. Dabei geht es aber nicht mehr um die bereits festgestellten „unmittelbaren Ideengeber Friedrichs“, sondern ganz allgemein um „historische Diskussionen.... die den Weg ... zur Abschaffung der Folter säumten und Kraft zur Erneuerung spendeten“. Damit bringt der Verfasser in den Abschnitten „Religiöse Toleranz des Staates“, „Wachsende Bedeutung der körperlichen Integrität“, „Kontrolle der Judikative ohne Gewaltenteilung“ „Die Frage nach der Wahrheit“, „Begründung der intime conviction“, „Der calvinistische Monarch als Diener seines Staates“, „Pietismus und die Wohlfahrtspflege“ und „Geheime Bedeutung der Freimaurer?“ die ganze Bandbreite neuer Ideen des aufgeklärten Absolutismus zur Sprache, von denen mittelbar teils deutliche, teils aber auch nur schwache Impulse zur Abschaffung der Folter ausgegangen seien. So kommt er zu dem Ergebnis, daß im staatlichen Bereich die „Entdeckung der Toleranz für Andersdenkende und der Verzicht auf Gewalt zur Repression religiöser und gesellschaftlicher Devianz ... zur Minderung der Aufgaben weltlicher Strafrechtspflege“ und damit zu einer „Reduzierung der Einsatzmöglichkeit der Folter geführt“ habe. Auf philosophischem Gebiet sei es vor allem die auf John Locke zurückgehende Erkenntnis gewesen, „daß die Sicherheit eines Urteils nicht aufgrund äußerer Anzeichen und Beweismittel zu gewinnen war, sondern letztlich auf der Abwägung des menschlichen Verstandes beruhte“, die den Wert des Geständnisses in Frage stellte. Weniger bedeutend seien die Einflüsse der „theologischen Lehren“ gewesen, obwohl auch hier, sei es vom Calvinismus, Pietismus oder der Freimaurerei, Wirkungen für die Abschaffung der Folter „nicht ausgeschlossen werden“ könnten.

Sieht man einmal von den bisweilen etwas ungeschickten Strukturierungen der Habilitationsschrift ab, so handelt es sich um ein überaus kenntnisreiches, gründliches und gediegenes Werk. Über die engere Diskussion der Geständnis‑ und Folterproblematik hinaus ist diese Habilitationsschrift eine reichhaltige Fundgrube und eine vorzügliche Grundlage zur weiteren Erschließung des strafprozessualen Beweisrechts seit dem hohen Mittelalter. Dies um so mehr, als die einschlägigen Entwicklungen in England, Frankreich und anderen europäischen Ländern einbezogen worden sind.

 

Göttingen                                                                                                                Wolfgang Sellert