Sydow, Gernot, Die Verwaltungsgerichtsbarkeit des ausgehenden 19. Jahrhunderts.

* Eine Quellenstudie zu Baden, Württemberg und Bayern mit einem Anhang archivalischer und parlamentarischer Quellen (= Freiburger Rechts- und staatswissenschaftliche Abhandlungen 66). C. F. Müller, Heidelberg 2000. XIX, 273 S. Besprochen von Clemens Jabloner. ZRG GA 119 (2002)

JablonerSydow20010906 Nr. 10286 ZRG 119 (2002) 57

 

 

Sydow, Gernot, Die Verwaltungsgerichtsbarkeit des ausgehenden 19. Jahrhunderts. Eine Quellenstudie zu Baden, Württemberg und Bayern mit einem Anhang archivalischer und parlamentarischer Quellen (= Freiburger Rechts- und Staatswissenschaftliche Abhandlungen 66). C. F. Müller, Heidelberg 2000. XIX, 273 S.

 

Die Durchsetzung der Verwaltungsgerichtsbarkeit in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts war zunächst die politische Reaktion des liberalen Bürgertums auf die wachsende Bedeutung des Staates im Übergang zur Industriegesellschaft. Darüber hinaus stellte die Verwaltungsgerichtsbarkeit eine spezifisch juristische Leistung dar, eine Verfeinerung und Ausdifferenzierung der staatsrechtlichen Institutionen. Die „Ausbalancierung“ der Verwaltungsgerichtsbarkeit im Gewaltengefüge lag nicht auf der Hand, alle Modelle hatten und haben einen kompromisshaften Charakter.

Der Rezensent verfolgt seit Jahren die Reform der Verwaltungsgerichtsbarkeit in Österreich und ist aktuell mit einem Gesetzentwurf konfrontiert, der an Stelle der Einrichtung echter Verwaltungsgerichte erster Instanz den Ausbau der verwaltungsinternen Kontrolle durch Tribunale („Verwaltungsrechtssprechung“ oder „Administrativjustiz“ in rechtshistorischer Terminologie) vorantreiben will. Was die nun schon in erfreulicher Zahl vorliegenden Studien über die Entstehung der Verwaltungsgerichtsbarkeit in einzelnen deutschen Ländern und in Österreich so interessant macht, ist die daraus zu gewinnende Einsicht, dass die verfassungsrechtliche Positivierung zwar für viele Jahrzehnte die Strukturfragen der Verwaltungsgerichtsbarkeit „einfrieren“ kann, diese aber bei jeder angedachten Veränderung wiederum ihre ganze Aktualität zeigen.

Die vorliegende Untersuchung von Gernot Sydow gilt der Darstellung der rechtspolitischen Auseinandersetzung um die „Verwaltungsrechtspflege“ und um die schließliche Etablierung der Verwaltungsgerichtsbarkeit in Baden, Württemberg und Bayern. Gewinnbringend erscheint dem Autor ein doppelter Forschungsansatz: Das Thema Verwaltungsrechtspflege sollte nämlich sowohl institutionengeschichtlich erörtert werden - mit der Geschichte der Verwaltungsgerichtsbarkeit im Zentrum - , als auch funktionell unter dem Aspekt des Verwaltungsrechtsschutzes.

Im ersten Kapitel behandelt die Schrift „Konzeptionen für den Rechtsschutz in Verwaltungssachen“. Nach der Darstellung „justizstaatlicher Ansätze im Vormärz“ wird auf die Paulskirchenverfassung als auf ein Hauptbeispiel der Vorstellung eines Rechtsschutzes durch die (ordentlichen) Gerichte, also auf ein spezifisch justizstaatliches Konzept eingegangen. Der Autor meint, dass die traditionelle, aber in der Literatur auch angezweifelte Deutung des § 182 als eines Versuchs zur Überwindung der Administrativjustiz einer kritischen Nachprüfung an Hand der Quellen und Primärliteratur durchaus Stand hielte.

Das konservative Konzept des Rechtstaates - vertreten etwa durch Friedrich Julius Stahl - habe die Idee des Rechtsstaats bereits durch die systematische Ausbildung des Verwaltungsrechts im Verein mit der Rechtsbindung der Verwaltungsbehörden prinzipiell gewährleistet gesehen. Im Übrigen sei in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts für viele deutsche Staatsrechtler die rechtsstaatliche Ausgestaltung der Administrativjustiz das vordringliche Ziel gewesen, nicht deren Überwindung wegen angeblicher Rechtsschutzdefizite oder Widersprüchen zu rechtsstaatlichen Prinzipien. Liberale Gesinnung und Befürwortung der Administrativjustiz seien damals vereinbar gewesen. Namentlich in den Rheinbundstaaten sei auch das Vorbild des französischen Modells wirksam gewesen. In Frankreich seien die institutionellen Folgerungen aus dem Gewaltenteilungsprinzip in die Richtung des Ausbaus eines verwaltungsinternen Rechtsschutzsystems gegangen. Im Zusammenhang der Darstellung der Administrativjustiz behandelt Sydow dann insbesondere die Ausformung des „bereichsspezifischen verwaltungsexternen Rechtsschutzs“, den seit der Mitte des 19. Jahrhunderts in einigen Rechtsgebieten Fachkommissionen gewährten. Zwar hätten sie mit den späteren Verwaltungsgerichten die verwaltungsexterne Organisation gemeinsam gehabt, grundlegender Unterschied sei aber die fehlende Garantie der richterlichen Unabhängigkeit gewesen.

Der Autor betont, dass die bisherige rechtshistorische Forschung, die den Ursprung der Verwaltungsgerichtsbarkeit meist in der Kontroverse zwischen Wilhelm Josef Behr und Rudolf von Gneist sehe, die ideengeschichtlichen Vorläufer der Verwaltungsgerichtsbarkeit mehrere Jahrzehnte zu spät ansetze, was auf Unkenntnis der älteren archivalischen Quellen beruhe. Die beiden Gelehrten könnten vielmehr nur als besonders exponierte Vertreter gegensätzlicher Positionen stellvertretend für die rechtspolitische Diskussion dieser Zeit stehen, die sich - das Modell der „Administrativjustiz“ jeweils überwinden wollend -  zunehmend auf den Gegensatz „Justizstaatliche Konzeption“ oder „Verwaltungsgerichtsbarkeit“ zugespitzt habe. Das erste Kapitel mündet in eine eingehende und quellenbezogene Darstellung der Errichtung von Verwaltungsgerichten in den gegenständlichen Ländern.

Das zweite Kapitel gilt den Gerichten selbst, ihrer Verfassung, ihren Kompetenzen und Tätigkeitsbereichen. Interessant der Abschnitt über das Institut des Kompetenzkonflikts: Im 18. Jahrhundert sei die Entscheidung über den Rechtscharakter eines Streits und damit über die eigene Zuständigkeit als Aufgabe der Gerichte angesehen worden. Später sei diese Kompetenz in der Regel auf die Geheimen Räte oder Staatsräte übergegangen. Als Folge der nicht aufgelösten Spannung zwischen der justizstaatlichen Konzeption und der Administrativjustiz hätten Kompetenzkonflikte die Rechtsprechung in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts geprägt. Im Zusammenhang mit der Errichtung der Verwaltungsgerichtsbarkeit sei es in Baden, Württemberg und Bayern auch zur Schaffung eigener Kompetenzgerichte gekommen. Die tatsächliche Bedeutung dieser Einrichtungen sei allerdings gering gewesen, da die Gesetzgebung ab 1860 diese Fragen positivrechtlich entschieden habe. Im Zentrum dieses Kapitels behandelt der Autor zentrale Kategorien der Verwaltungsgerichtsbarkeit wie etwa die Auseinandersetzung um die Generalklausel und den Ausschluss der Ermessenskontrolle.

Das dritte Kapitel „Die Verwaltungsrichter“ ist das Ergebnis des ausdrücklich bekundeten Interesses des Autors für rechtssoziologische Fragestellungen. Anhand von 63 Biographien untersucht Sydow die Richterschaft dieser Institutionen. Anders als in Baden hätten die höheren Verwaltungsbeamten in Württemberg, aus denen die Verwaltungsrichter entnommen wurden, keine sozial geschlossene Schicht gebildet. Das „regiminalistische“ Studium an der Universität Tübingen habe spezifische Aufstiegsmöglichkeiten geboten, die über die sozial schwerer zugänglichen eigentlichen juristischen Studien in Tübingen, aber vor allem in Baden und Bayern nicht möglich gewesen wären. Später im Zuge der „Juridifizierung“ der Verwaltung sei es zu einer Verdrängung dieses Beamtentyps durch Juristen gekommen. Wo in den Ernennungsvoraussetzungen für den Verwaltungsrichter von der „Befähigung zum Richteramt“ die Rede gewesen sei, habe dies damals nicht bedeutet, dass die entsprechenden Beamten bereits Richter sein mussten; die Klausel sollte nur sicherstellen, dass sie die rechtswissenschaftlichen Studien absolviert hatten. Sydow belegt, dass die Regierungen der weitergehenden Forderung, nur wer tatsächlich Richter gewesen sei, könne Verwaltungsrichter werden, ablehnten. (Das ist deshalb interessant, weil in Österreich die etwa zeitgleich eingeführte Wendung in § 10 letzter Satz VwGG 1875 „Qualifikation zum Richteramt“ von vornherein im Sinn eines Justizrichtervorbehaltes verstanden wurde - vgl. den Bericht des Ausschusses des Abgeordnetenhauses vom 4. März 1875, 351 d.Blg. zu den sten. Prot. des Abgeordnetenhauses, VIII. Session, zu § 11. In Art. 134 Abs.3 der Stammfassung des B-VGB-VG finden wir dann die Wendung „Eignung zum Richteramt“. Seit der B-VGNovelle 1929 ist die „Befähigung zum Richteramt“ normiert, deren Bedeutung aber schon angesichts der gleichzeitig allgemein eingeführten Ernennungsvoraussetzung des rechts- und staatswissenschaftlichen Studiums nicht zweifelhaft sein kann.)

Im vierten Kapitel „Die Rechtsprechungstätigkeit“ untersucht der Autor näher die gesetzliche Normierung des Verwaltungsprozessrechts, die Effektivität des Rechtsschutzes und die Polizeirechts-Rechtsprechung der Verwaltungsgerichtshöfe.

Aus dem fünften Kapitel „Bewertung, Einordnung und Vergleich“ ist zunächst die resümierende Aussage hervorzuheben, dass die Verwaltungsgerichtsbarkeit gleichsam „rechtsgenetisch“ (Ausdruck des Rezensenten) nicht durch eine Ausdifferenzierung der Gerichtsbarkeit, sondern der Verwaltungsbehörden entstanden sei, nämlich mittels einer Trennung der Funktionen von Verwaltungsrechtspflege und aktiver Verwaltung, die bis dahin in der Hand derselben Verwaltungsbehörde gelegen seien. (Gerne möchte man daraus ein rechtssoziologisches Entwicklungsgesetz ableiten wollen, dass die judizielle Verfeinerung der Administrativjustiz am Ende zwangsläufig zur „echten“ Verwaltungsgerichtsbarkeit führen muss.) Auch nach Errichtung eigenständiger Verwaltungsgerichtshöfe hätten Behörden mit Doppelfunktionen weiterhin in den unteren Instanzen bestanden. In institutioneller Hinsicht seien die Reformen in den unteren Instanzen daher unvollendet geblieben. Der Autor betont, dass die Verwaltungsgerichte neben den Aufgaben der Gewährung subjektiven Rechtsschutzes und der objektiven Rechtskontrolle vor allem auch die Funktion der Fortbildung des Verwaltungsrechts übernommen hätten. In den Gesetzgebungsverfahren und der begleitenden Literatur sei explizit eine in diese Richtung gehende Erwartung geäußert worden. Johann Caspar Bluntschli habe es als Ziel der Badischen Gesetzgebung von 1863 bezeichnet, „durch eine besondere Verwaltungsrechtspflege ein grundsätzlich durchgebildetes Verwaltungsrecht zu erhalten, durch welches die allgemeine Rechtssicherheit erhöht wird“.

Wichtig ist, dass Sydow hier dezidiert einigen weit verbreiteten Thesen über die Entstehung und Systematik der Verwaltungsgerichtsbarkeit entgegentritt, so insbesondere der Gegenüberstellung eines süddeutschen und eines norddeutsch/preußischen Typus. Jener wäre stärker der objektiven Rechtskontrolle verhaftet gewesen, dieser hätte dem subjektiven Rechtschutz gedient. Weiters sei die Zuständigkeit der Verwaltungsgerichtsbarkeit im norddeutschen System enumerativ, im süddeutschen mittels einer Generalklausel vorgenommen worden. Der Autor weist auf die Fragwürdigkeit solcher Kategorisierungen hin. Keiner dieser - und anderer - Aspekte sei derart zentral gewesen, dass er allein eine Typenbildung tragen würde. Insbesondere gelte dies für die bloß subsidiäre Generalklausel in Folge der Kompetenz des Gesetzgebers, weitgehend den Rechtsweg zu bestimmen. Auch der angeblich auf Gneist zurückgehende objektive Ansatz habe nur begrenzten Einfluss gehabt. So habe für den zentralen Bereich des Rechtsschutzes gegen polizeiliche Verfügungen die preußische Gesetzgebung seit 1883 explizit das Erfordernis einer subjektiven Rechtsverletzung aufgestellt. Ein konsequent durchgehaltener Gesichtspunkt sei dieser objektiv rechtlicher Ansatz somit auch in Preußen nicht gewesen und er ließe sich nicht zum leitenden Abgrenzungskriterium zwischen Norddeutschland und Süddeutschland erklären.

Über den innerdeutschen Systemvergleich hinaus bezieht der Autor - seine Untersuchung abrundend - auch noch die Entwicklung der Verwaltungsgerichtsbarkeit in Frankreich, Großbritannien, den Niederlanden und Italien ein. Ein Quellenverzeichnis und ein Literaturverzeichnis schließen die Arbeit ab.

Mit seiner Dissertation hat Gernot Sydow weit mehr als nur eine länderbezogene rechtshistorische Untersuchung geliefert. Ein wichtiges Ergebnis ist der minutiöse Nachweis, dass manche Thesen zur Geschichte der Verwaltungsgerichtsbarkeit nachträgliche Stilisierungen sind, die einer näheren Analyse nicht standhalten. Vortrefflich versteht es der Autor, entlang der Problemstellungen die wesentlichen Entwicklungslinien herauszuarbeiten und anschaulich darzustellen. Die vorzüglich gewählten Zitate sind vielfach wahre Trouvaillen. Da und dort gibt es Verdoppelungen, die man aber zur besseren Einprägsamkeit gerne in Kauf nimmt. Die Arbeit von Sydow ist ein rundum gelungener Beitrag zur Geschichte und zu den Grundfragen der Verwaltungsgerichtsbarkeit.

 

Wien                                                                                                              Clemens Jabloner