Wie Kriege entstehen.

* Zum historischen Hintergrund von Staatenkonflikten, hg. v. Wegner, Bernd (= Krieg in der Geschichte 4). Schöningh, Paderborn 2000. 378 S. Besprochen von Karl-Heinz Ziegler. ZRG GA 119 (2002)

ZieglerWiekriege20010807 Nr. 10374 ZRG 119 (2002) 01

 

Wie Kriege entstehen. Zum historischen Hintergrund von Staatenkonflikten, hg. v. Wegner, Bernd (= Krieg in der Geschichte 4). Schöningh, Paderborn 2000. 378 S.

 

1. Die Frage, wie es zu einem Krieg kam, haben sich bekanntlich schon Denker des Altertums gestellt. Mit Recht weist der Herausgeber des hier vorzustellenden Bandes, der Historiker Bernd Wegner, in seiner „Einführung: Was kann Historische Kriegsursachenforschung leisten?“ (9-21) auf Thukydides und seine im ausgehenden 5. Jahrhundert v. Chr. geschriebene Geschichte des Peloponnesischen Krieges hin (9). Deshalb sind in den Sammelband neben Beiträgen zu einer Ringvorlesung, die 1996 an der Universität der Bundeswehr in Hamburg gehalten wurde, auch Aufsätze über die Antike und das Mittelalter sowie über die Gegenwart aufgenommen worden, obwohl im Mittelpunkt der von Staaten geführte Krieg der europäischen Neuzeit steht (vgl. 18ff.). Damit ist zum einen eine thematische Ausdehnung auf bewaffnete Konflikte jeder Art, wie sie sich auch in dem seit dem Altertum als Bürgerkrieg (bellum civile) bezeichneten Typ der gewaltsamen Auseinandersetzung zu entladen pflegen, vermieden. Zum anderen grenzt Bernd Wegner die von ihm vertretene „spezifisch historisch orientierte Kriegsursachenforschung“ (9) ab von der mit vielfach anderen Erwartungen verbundenen modischen „Friedensforschung“ im allgemeinen und der „sozialwissenschaftlichen Kriegsursachenforschung“ im besonderen (10). Dementsprechend stellt er fest, „daß all jene auf anthropologische Konstanten, evolutionsgeschichtliche Dispositionen oder andere dauerhafte Determinanten abhebenden Erklärungsansätze, wie sie uns z. B. in der Anthropologie, Verhaltensforschung oder Soziobiologie so zahlreich begegnen, die spezifisch historische Erklärung vielleicht anzuregen, keinesfalls aber zu ersetzen vermögen“ (21),  und er warnt zugleich: „Umgekehrt sollten die historischen Erklärungsansätze nicht mit falschen Erwartungen überfrachtet werden. Sie werden uns kaum etwas über das Wesen kollektiver Gewaltbereitschaft im allgemeinen sagen und wohl auch nicht viel über den Krieg als solchen“ (21). Im Vordergrund der zunächst zu leistenden historischen Arbeit steht daher „eine Analyse der Genese einzelner Kriege“ (21).

2. Der erste der drei Teile oder Abschnitte des Bandes trägt die Überschrift „Zur Vorgeschichte neuzeitlicher Staatenkonflikte“ (23-64). Von der Althistorikerin Loretana de Libero stammt der glänzend geschriebene Aufsatz über „Antike Wege in den Krieg“ (25-44). Probleme, die den Rechtshistoriker besonders interessieren, klammert die auch darin versierte Verfasserin aus verständlichen Gründen aus (etwa auch die „leidige ‘Kriegsschuldfrage“, 26). Sie exemplifiziert ihre einleitenden Überlegungen vielmehr an zwei Fallstudien, zum einen an der 415 v. Chr. von Athen im Peloponnesischen Krieg unternommenen militärischen Expedition nach Sizilien (29ff.), zum anderen an dem 200 v. Chr. von Rom begonnenen Präventivkrieg gegen Makedonien (38ff.). Schade ist es, daß die Verfasserin nicht auch den Alten Orient in ihre Betrachtungen mit einbezogen hat, zumal im Alten Testament der Bibel Überlegungen enthalten sind, an welche die mittelalterliche und frühneuzeitliche Völkerrechtslehre wiederholt angeknüpft hat.

Der Mediävist Norbert Ohler ist Verfasser des völlig anders gestalteten Beitrags über „Kriege im Mittelalter” (45-64), der eine Fülle von - auch rechtshistorisch bedeutsamen - Gesichtspunkten enthält, von den Arten der Kriege einschließlich der Fehde (45ff.), über „Religiöse Dispositionen“ (52ff.) bis hin zu Fragen des mittelalterlichen Völkerrechts (58ff.). Leider bietet der Verfasser auf seinen anregenden und materialreichen Seiten außer einem einleitenden literarischen Hinweis (45) keinen wissenschaftlichen Apparat.

3. Der zweite Abschnitt oder Hauptteil des Buches hat den Titel „Zur Genese der großen europäischen Kriege“ (65-282). Der gewichtige erste Beitrag stammt von dem für das Thema schon als Buchautor vorzüglich ausgewiesenen Johannes Burkhardt, „Worum ging es im Dreißigjährigen Krieg? Die frühmodernen Konflikte um Konfessions- und Staatsbildung“ (67-87). Daß die in der Überschrift aufgeworfene Frage schon von den Zeitgenossen des 17. Jahrhunderts nicht klar und vor allem nicht einheitlich beantwortet werden konnte, wird vom Verfasser zu Beginn dargetan (67ff.). Danach behandelt er „Die Konfliktebene des Religionskriegs“ (69ff.) und die „Konfliktebene des Staatenbildungskrieges“ (76ff.) und gelangt zum Abschluß unter der Zwischenüberschrift „Der Dreißigjährige Krieg und die Unvollkommenheit früher Staatlichkeit“ (85ff.). Die Richtigkeit der Beobachtungen Burkhardts bestätigt sich dem Juristen, wenn er die 1648 zustandegekommenen Friedensverträge von Münster und Osnabrück (deren Europa im Epochenjahr 1998 gedacht hat) in die technischen Details auch des Vertragsabschluß-Verfahrens verfolgt.

Die kriegerischen und politischen Auseinandersetzungen, in deren Verlauf das orthodoxe Zarenreich Rußland zur anerkannten europäischen Großmacht aufsteigt, sind Thema des instruktiven Aufsatzes von Eckardt Opitz , „Vielerlei Ursachen eindeutige Ergebnisse. Das Ringen um die Vormacht im Ostseeraum im Großen Nordischen Krieg 1700 bis 1721“ (89-107). Der Autor schildert zunächst die komplizierte „Ausgangssituation“ (90ff.), behandelt sodann „Kriegsverlauf und Ergebnisse“ (94ff.), um schließlich Bilanz zu ziehen: „Der Große Nordische Krieg und seine Ursachen“ (102ff.). Köstlich zu lesen ist dabei das treffende Zitat aus „Gullivers Reisen“ von Jonathan Swift (107).

Als Militärhistoriker und Fachmann für die Geschichte der internationalen Beziehungen schreibt der Amerikaner John B. Hattendorf über „Die Ursprünge des Spanischen Erbfolgekrieges“ (109-144). In seinem klar gegliederten Aufsatz behandelt er zunächst „Kandidaten, Ansprüche und Verbindungen“ (110ff.), sodann „Die Interessen der europäischen Staaten“ (113ff.) und schließlich den „Hergang der Ereignisse in der internationalen Politik“ (128ff.), nämlich das Scheitern des 1697 geschlossenen Friedens von Rijswijk (zu diesem vgl. jetzt den von Heinz Duchhardt herausgegebenen Sammelband „Der Friede von Rijswijk 1697“, Mainz 1998) und den Wiederausbruch des Krieges im Jahre 1702.

Primär als Militärhistoriker äußert sich Bernhard B. Kroener, „Herrschaftsverdichtung als Kriegsursache. Wirtschaft und Rüstung der europäischen Großmächte im Siebenjährigen Krieg“ (145-173). Seine Thesen werden durch zahlreiche statistische, namentlich volkswirtschaftliche Daten untermauert. Das Ergebnis ist ebenso aufschlußreich wie ernüchternd: „Preußen überlebte das siebenjährige Ringen, weil sein Herrscher entgegen allen Gewohnheiten europäischer Politik und Kriegführung im 18. Jahrhundert die verfügbaren Ressourcen seines Staates ausschließlich den Zwecken einer gewaltsamen Politik untergeordnet hatte. Gegenüber einem Prinzip der absoluten Kriegsvorbereitung erwiesen sich die Maßnahmen seiner Gegner als halbherzig und unvollkommen“ (173).

Der britische Historiker T. C. W. Blanning untersucht „Die Ursprünge der französischen Revolutionskriege“ (175-189). Die Dimension des von ihm gewürdigten Zeitraums von 1787 bis 1815 verdeutlicht der Verfasser mit dem von ihm zu Beginn gegebenen Hinweis, daß in den Kriegen damals verhältnismäßig ein größerer Anteil der Gesamtbevölkerung umgekommen sei als während des Ersten Weltkrieges (175). Die Unterschiede zwischen dem europäischen Ancien Régime und dem revolutionären Frankreich in der Innen- und Außenpolitik werden plastisch geschildert: Ideologische Scheuklappen verstellten den von französischen Emigranten gefärbten Blick der Gegner der französischen Revolution ebenso wie den Blick der neuen Machthaber Frankreichs, die sich am Pathos der eigenen Phrasen berauschen konnten (bis zum Tod durch die Guillotine).

Winfried Baumgart, als herausragender Kenner der Geschichte der internationalen Beziehungen einem weiteren Leserkreis längst bekannt, behandelt ein von ihm auch schon durch Aktenpublikationen bearbeitetes epochales Ereignis des 19. Jahrhunderts: „Der Krimkrieg 1853-56“ (191-209). Er würdigt diesen Krieg, in dem die politische Vormacht des Islam, das Osmanische Reich, christliche Großmächte als militärische Verbündete gegen das ebenfalls christliche Rußland hatte, als „merkwürdiges Gemisch aus Kabinettskrieg und totalem Krieg“ (193), der ohne den Pariser Frieden von 1856 sich zu einem die Grenzen Europas überschreitenden Weltkrieg hätte entwickeln können (192f.). Die verschiedenen Ursachen des als lokaler russisch-türkischer Konflikt beginnenden Krimkrieges erklärt Baumgart als guter Kenner des Zustands der damaligen europäischen Groß- und Mittelmächte und der von ihnen betriebenen Außenpolitik (193ff.). Die Ergebnisse des Friedens von 1856 sieht er ohne Schönfärberei: „Die Türkei war in Paris völkerrechtlich ins Europäische Konzert aufgenommen worden. In Wirklichkeit bedeutete dies aber nicht Ruhe für eine stetige innere Reformarbeit, sondern ständige Gängelung und fortwährendes Feilschen um Einfluß“ (207). Andererseits gibt der Verfasser zu, daß „die gegenseitige Überwachung der Großmächte auf dem orientalischen Terrain und ihre chronische Uneinigkeit“ dem Osmanischen Reich den Fortbestand bis zum Ende des Ersten Weltkriegs ermöglicht haben (207). Der glänzend geschriebene Beitrag schließt mit einem bemerkenswerten Zitat von Disraeli, der den Krimkrieg einmal als „a just but unnecessary war“ bezeichnet hatte (209).

In das gerade beendete 20. Jahrhundert führt uns der jetzt in Bern lehrende Historiker Stig Förster mit seinem etwas provokant überschriebenen Aufsatz „Im Reich des Absurden: Die Ursachen des Ersten Weltkrieges“ (211-252). Daß der Verfasser sich weitgehend auf das kaiserliche Deutschland konzentriert, bedarf schon angesichts der sich auch am Versailler Friedensvertrag von 1919 entzündenden Kriegsschulddebatte und der in der jüngeren historischen Literatur vertretenen Thesen keiner weiteren Begründung. Die bisherige Forschung  referiert der Verfasser unter der Zwischenüberschrift „Ein überflüssiger Krieg?“ (213ff.), um auch seinerseits „Zweifel am Kalkül der Entscheidungsträger von 1914“ (217) anzumelden. In einem zweiten Abschnitt wirft Förster erneut die schon ältere Frage auf: „Ein unvermeidlicher Krieg?“ (218ff.). Seine Antwort ist, nach eingehender Analyse der Kriegsursachen, erfrischend eindeutig: „Die Frage zu stellen, heißt sie zu verneinen“ (238). Die dritte Prüfungsfrage des Verfassers lautet: „Ein gewollter Krieg?“ (238ff.). Treffend stellt er die ambivalente Haltung nicht nur der deutschen., sondern auch der anderen europäischen Akteure heraus. Die (letzte) Frage „Ein geplanter Krieg?“ (248ff.) beantwortet der Verfasser dahin, daß auch für die deutsche Armeeführung der Kriegsausbruch 1914 „wohl gewollt, aber nicht geplant war“ (251). Aber auch sein Urteil über die späteren Gegner Deutschlands ist vernichtend: „Insgesamt führt die Rolle der europäischen Armeeführungen bei der Verursachung des Ersten Weltkrieges uns nun endgültig ins Reich des Absurden“ (251).

Einfacher liegt es, was die Kriegsschuld anlangt, beim Zweiten Weltkrieg, mit dessen Ursachen sich der Hamburger Historiker Klaus-Jürgen Müller beschäftigt: „Kriegsausbruch 1939. Der Wille zum Krieg und die Krise des internationalen Systems“ (253-282). Allerdings hat sich die Forschung, wie der Verfasser (253ff.) darlegt, seit dem 1954 erschienenen Buch von Walter Hofer („Die Entfesselung des Zweiten Weltkrieges“) „auf breiter Linie differenziert und variationsreich entwickelt“ (256). So verfolgt der Verfasser zunächst „die innenpolitischen Strukturbedingungen der Hitlerschen Kriegspolitik“ (256ff.), um sich danach „dem internationalen System, seinen Krisenbewegungen, seiner Dekadenz“ zuzuwenden (262ff.). Neben der Aggressionspolitik des faschistischen Italien und des zu einer Militärdiktatur entwickelten Japan wird die zum Weltkrieg führende Politik Hitler-Deutschlands gewürdigt, ebenso aber auch die britische Politik des appeasement in ihrer Verkennung der Wirklichkeit und mit ihrem Scheitern.

4. Der dritte und letzte Abschnitt des Bandes hat den Titel „Die Transformation des Krieges“ (283-367). Der als besonderer Kenner der Zeitgeschichte ausgewiesene Historiker Wilfried Loth nennt seinen (leider ohne Fußnoten geschriebenen) Beitrag „Der Krieg, der nicht stattfand. Ursprünge und Überwindung des Kalten Krieges“ (285-298). Er gibt einen fesselnden Überblick über den eine ganze Epoche umfassenden Ost-Westkonflikt. Seine Ausführungen über „Verpaßte Chancen“ (295ff.) werden wohl hier und da auch auf Widerspruch stoßen. Mit Recht hebt der Verfasser („Das Ende des Ost-West-Konflikts“, 296ff.) die Verdienste des letzten sowjetischen Generalsekretärs Gorbatschow und seiner Mitstreiter hervor.

Einen mit Statistiken und Schaubildern untermauerten instruktiven Überblick „Über die Kriege nach dem Zweiten Weltkrieg. Tendenzen, ursächliche Hintergründe, Perspektiven“ (299-318) bietet der als Experte für internationale Beziehungen bekannte Hamburger Politikwissenschaftler Klaus Jürgen Gantzel. Der vom Verfasser verwendete weite Kriegsbegriff  (vgl. 299f.) erfaßt freilich eine Fülle von bewaffneten Konflikten, die in den historischen Teilen des Bandes ausgeklammert waren (insbesondere auch die Bürgerkriege, vgl. 305).

Den letzten Beitrag überschreibt der Historiker Wolfgang Höpken „Das Dickicht der Kriege: Ethnischer Konflikt und militärische Gewalt im früheren Jugoslawien 1991-1995“ (319-367). Er gliedert seine Darstellung wie folgt: „Krieg(e) im früheren Jugoslawien: Erklärungsansätze“ (319ff.), „Dispositionen des Krieges“ (327ff.), „Mentale Gewalt-Mobilisierung und Kriegsvorbereitung“ (344ff.), „Gewaltauslösung und Kriegsdynamik“ (356ff.) und „‘Molekularer Bürgerkrieg’ oder ‘herkömmlicher’ Krieg: Zum Charakter der militärischen Konflikte im früheren Jugoslawien“ (362ff.). Die ungeschminkte Darstellung des Geschehens und die Analysen des Verfassers, der als Spezialist für die Geschichte Südosteuropas bekannt ist, sind eindrucksvoll und runden den Sammelband in würdiger Weise ab.

5. Ein Register ist dem Band leider nicht beigefügt. Die - notwendig begrenzten - „Literaturhinweise“ (369-374) sind für die Neuzeit sehr nützlich. Informativ ist schließlich auch das alphabetische Verzeichnis „Die Autoren“ (375-378). Die Historiker des Völkerrechts haben ihnen und namentlich dem Herausgeber Bernd Wegner für ein Gemeinschaftswerk zu danken, das eine ebenso spannende wie lohnende Lektüre bietet.

 

Hamburg                                                                                                          Karl-Heinz Ziegler