Winkler, Heinrich August,

* Der lange Weg nach Westen. Deutsche Geschichte. Band 1 Deutsche Geschichte vom Ende des alten Reiches bis zum Untergang der Weimarer Republik. Band 2 Deutsche Geschichte vom „Dritten Reich“ bis zur Wiedervereinigung. Beck, München 2000. 625 S., 742 S. Besprochen von Michael Stolleis. ZRG GA 119 (2002)

StolleisWinkler20010503 Nr. 10252 ZRG 119 (2002) 51

 

 

Winkler, Heinrich August, Der lange Weg nach Westen. Deutsche Geschichte. Band 1 Deutsche Geschichte vom Ende des Alten Reiches bis zum Untergang der Weimarer Republik. Band 2 Deutsche Geschichte vom „Dritten Reich“ bis zur Wiedervereinigung. Beck, München 2000. 625 S., 742 S.

 

Rechtsgeschichte ist als Teildisziplin der Geschichtswissenschaften zur Fixierung ihres Gegenstandes einerseits auf engen Kontakt zur allgemeinen Geschichte angewiesen. Andererseits braucht sie Kriterien der Differenz, um ihre spezifischen Fragen stellen zu können. Von diesen beiden Punkten ist der erste der schwierigere; denn die sog. Fakten der Geschichte können nicht ohne weiteres dem rechtshistorischen Problem „vorgeschaltet“ werden. Sie sind ihrerseits Produkte der nacherzählenden, verdichtenden und akzentuierenden, kurz „konstruierenden“ Geschichtswissenschaft. So ist jede Generation von Rechtshistorikern aufgefordert, die eigenen Arbeiten mit denen der Historiker zu verzahnen. Das bedeutet ständige Vorauswahl und Bewertung. Besonders wichtig sind dabei die für ein größeres Publikum geschriebenen, meinungsbildenden Deutungen, weil sie die Ansichten ganzer Schülergenerationen und eines gebildeten Laienpublikums zu prägen vermögen. Man erinnere sich an die Werke von Treitschke, Lamprecht, Meinecke, Schnabel und Ritter, oder in der Gegenwart an Nipperdey oder Wehler mit ihren mehrbändigen Gesamtdarstellungen, deren Langzeiteinfluß kaum abzuschätzen ist.

Zu diesen Werken mit Langzeitwirkung wird auch Heinrich August Winklers „Deutsche Geschichte“ gehören. Sie reicht vom Ende des Alten Reiches bis zur Wiedervereinigung. Auf insgesamt fast 1400 Seiten, aufgeteilt auf zwei Bände, bietet sie einen höchst informativen und reflektierten Text. Die bisherigen Arbeiten Winklers, speziell die große Monographie über die Weimarer Republik, sind darin aufgegangen. Winkler will kein Nachschlagewerk, kein Handbuch, keine Materialschlacht mit tausenden von Fußnoten liefern, sondern einen problemorientierten Durchgang mit einer Leitfrage. Im gut gewählten Titel „Der lange Weg nach Westen“ ist sie angedeutet. Es geht um das „schwierige Vaterland“ in den letzten beiden Jahrhunderten. Winkler sieht drei Ausgangspunkte, an denen es sich von anderen unterscheidet. Einmal sein mittelalterliches und neuzeitliches Erbe, einst ein „Reich“ gewesen zu sein. Dann die fundamentale Spaltung der Konfessionen im 16. Jahrhundert. Drittens der macht- und geopolitische Dualismus zwischen Preußen und Österreich. Diese Ausgangspunkte sind anders als anderswo, aber zuletzt führt der Weg zur westlichen, säkularisierten, rechtsstaatlichen und demokratischen Industriegesellschaft. Ob dieser Weg ein „Sonderweg“ war, ist Definitionssache. Letztlich bleibt von der umstrittenen Sonderwegsthese nur die Beobachtung einer „besonderen Langsamkeit“ oder einer „Verspätung“ auf jenem Weg übrig.

Die Gewichtverteilung des Buchs ist bewußt ungleich angelegt. Was weiter zurückliegt, erscheint kleiner und wird knapper berichtet. Die tausendjährige Geschichte des „Reichs“ ist nur Vorspiel, um voraussetzen zu können, was 1806 zusammenbrach und wie es weiterwirkte. Das 19. Jahrhundert wird stärker komprimiert als das 20. Jahrhundert. Innerhalb des letzteren nehmen die Jahrzehnte der Bundesrepublik wachsenden Raum ein, je mehr man sich der Gegenwart nähert. Allein die Wiedervereinigung erhält etwa 150 Seiten. Der Autor legt damit offen, daß ihn, jenseits einer Attitüde scheinbarer Objektivität, die Frage nach dem aktuellen Stand der Dinge umtreibt. Wie ist, so fragt er, dieses „monströse“ Konglomerat von hunderten von Herrschaften unter einem sakralen Reichsdach eine Nation geworden, wie hat sie ihren Pluralismus von Obrigkeiten unter dem Souveränitätsbegriff des Bundesstaats vereinigt, und wie gelang es, diesen schließlich in eine parlamentarische Demokratie zu verwandeln? Wie versteht sich die nationale Demokratie heute im europäischen Verbund? Was ist ihre „Normalität“, wenn dicht unter der Oberfläche weiterhin die Gewohnheiten des Obrigkeitsstaats und vor allem die Traumata der NS-Verbrechen liegen? Winkler schreibt als überzeugter Demokrat und als Verteidiger der Werte des Grundgesetzes. Für ihn ist die (auch durch produktive Aneignung der Geschichte zu gewinnende) nationale Identität Voraussetzung für die Einbindung Deutschlands in Europa und in eine globalisierte Welt.

Die außerordentlich dichte und glänzend formulierte Problemgeschichte soll und kann hier nicht wiedergegeben werden. Winkler verbindet fast unmerklich die Ereignisse mit den Gedanken der Protagonisten, seien sie nun auch Handelnde oder reine Analytiker. Der Text fließt scheinbar leicht dahin, allerdings in unterschiedlicher Geschwindigkeit. Manchmal wird er gestaut, breitet sich mit Zitaten und Details aus, dann eilt er wieder im Stakkato zum politischen Geschehen. Innen- und außenpolitische Perspektiven schieben sich ineinander, so daß oft erst dadurch klar wird, wie die Akteure sich im Parallelogramm der Kräfte verhielten. Im Bestreben, den Kern des Buchs nicht aus den Augen zu verlieren, also die Frage der Formung der Nation und der Transformation der Verfassungsformen, liegen die Akzente auf der politischen Geschichte. Diese wird weit verstanden, und sie umschließt insbesondere auch Mentalitäts-, Ideen- und Geistesgeschichte. Ökonomische und sozialgeschichtliche Daten klingen an, stehen aber nicht im Mittelpunkt.

Winkler führt den Leser vom Zusammenbruch des Alten Reichs in die Verfassungsbewegung des 19. Jahrhunderts, er erörtert die soziale Frage, die Revolution von 1848/49, den Aufstieg Bismarcks, den Prozeß der Reichsgründung samt seinen außenpolitischen Implikationen, die Entstehung der Parteien, den Kulturkampf, die politische Wende von 1878 und die wilhelminische Ära mit ihren bekannten Stichworten nach außen (Kolonien, Flottenfrage, „Panthersprung nach Agadir“, Daily-Telegraph) und innen (Dreiklassenwahlrecht, Revisionismusdebatte der SPD, Alldeutsche, Bülow-Block, Tendenzen der Parlamentarisierung). Was den Kriegsausbruch angeht, so verteilt Winkler die Verantwortung in überzeugender Weise. In Deutschland und Österreich gab es zu viele „Falken“, und es gab zu viele andere, die sich ein „Ende mit Schrecken“ herbeiredeten, ohne genau zu wissen, was sie taten. Selbst die zaghafte und inkonsequente SPD gehörte zu den Mitverantwortlichen. In der ausgewogenen Darstellung von Winkler erscheint die Schuldfrage im wesentlichen ausdiskutiert.

Ebenso dicht ist die Bilderfolge, mit der die „vorbelastete Republik“ von Weimar auf 170 Seiten am Leser vorüberzieht. Der schwierigen Geburt des neu verfassten Staates folgen die Krisen (der Kapp-Lüttwitz-Putsch, die Ermordung von Rathenau und Erzberger, die Besetzung des Rheinlands, die Turbulenzen in Thüringen und Sachsen, der Hitler-Putsch in Bayern, die Inflation) und die Zäsuren, die durch die Wahl Hindenburgs, durch den Tod Stresemanns und das Ende des Parlamentarismus gesetzt wurden. Auch hier bestimmen im wesentlichen die politischen Ereignisse den Duktus der Erzählung, während Blicke auf Alltags-, Sozial- und Wirtschafts- oder auf Kulturgeschichte seltener sind. Das ist gut legitimierbar durch die Vorgabe, lediglich eine „Problemgeschichte“ schreiben zu wollen, entlastet aber nicht von der Entscheidung, um welche Probleme es gehen solle. Daß letztere in der krisengeschüttelten Republik eher bei den dramatischen Ereignissen und ihrer Wechselwirkung mit den gewachsenen Mentalitäten gesehen werden, liegt nicht nur am Autor, sondern erweist sich aus den meisten denkbaren Perspektiven als das dominante Motiv.

Der zweite Band beginnt zunächst mit einer verdichteten Problemgeschichte des Nationalsozialismus. Von der „Machtübergabe“ bis zur tiefen Zäsur der Kapitulation von „Hitlerdeutschland“ enthält dieses Kapitel alle wesentlichen Vorgänge, stets in der Beleuchtung der großen Politik und mit dem nicht zu verdrängenden Hintergrundwissen des nahenden Untergangs: Ausschaltung der Gegner, „Gleichschaltungen“ aller Art, Verdrängung, Entrechtung und schließlich Ermordung der jüdischen Bevölkerung,  Aufrüstung und Expansion, bis hin zum Widerstand und den Deutungen des singulären Geschehens aus der Perspektive distanzierter Beobachter (Meinecke, Thomas Mann, Cassirer).

Dem faktischen Untergang des Staates, dem eine rechtliche Fortbestandsthese trotzig entgegengesetzt wurde, folgen die Westzonen und die Sowjetische Besatzungszone, die Bundesrepublik und die Deutsche Demokratische Republik, die feindlichen Brüder in ihren schwierigen Abgrenzungen und Annäherungen. Wir erleben die wechselseitigen Distanzierungen vom Erbe des Nationalsozialismus, die Entstehung des Grundgesetzes und der ersten Verfassung der DDR, das Wirtschaftswunder und das „kommunikative Beschweigen“ der Vergangenheit, die Westbindung und die antikommunistische Aufladung des Europagedankens, die Gründung von NATO und Warschauer Pakt, die Konsolidierung des Wirtschaftswunders im Westen und das langsame Abflauen des Stalinismus im Osten. Die Erschließung neuen Aktenmaterials und eine Fülle von Memoiren haben diesen Stoff in den letzten Jahren angereichert und erlauben heute schon eine durchgängig „historisierte“ Darstellung bis etwa in die Mitte der sechziger Jahre.

Wer dann die Jahre ab 1960 bewußt miterlebt hat, wird die Kapitel über das langsame Ende der beiden Großen, Adenauer und de Gaulle, den Aufstieg Kennedys und Willy Brandts mit Spannung lesen und immer wieder produktive Reibungen zwischen der eigenen Erinnerung und dem Text des Historikers wahrnehmen. War Augstein nach der Spiegel-Affäre von 1962 wirklich ein Idol der jüngeren Generation? Wie bahnte sich die Große Koalition an, wie kam Lübkes zweite Amtszeit zustande, welche Stimmen meldeten sich zum Klimawandel zwischen den beiden deutschen Staaten, wie wirkten Notstandsdebatte und Vietnam-Krieg, wie begannen die Ostpolitik, die Studentenbewegung und der Abschied vom Lebensstil der fünfziger Jahre? Erinnert man sich noch an die intellektuellen Wirkungen von Dahrendorfs „Gesellschaft und Demokratie in Deutschland“ und die „Die Unfähigkeit zu trauern“ der beiden Mitscherlich? In dieser Weise könnte man während der Kanzlerschaften von Brandt und Schmidt fortsetzen, könnte Stärken und Schwächen der Akteure nachdiskutieren, um sich dann wieder parallel die Entwicklungsschritte der DDR zu vergegenwärtigen. Nun wird das Buch immer detailfreudiger, die Menge der Notizzettel, der Akten und der Zeitungsausschnitte wächst und alles tritt noch einmal auf: Die Olympischen Spiele, der Wechsel von Brandt zu Schmidt und von diesem zu Kohl, die KSZE samt ihren Folgen im Ostblock, der mörderische und der hysterische „deutsche Herbst“ 1977, der NATO-Doppelbeschluß, das Debakel von F. J. Strauß in der Bundestagswahl 1980, die Entstehung der „Grünen“ und die Flick-Affäre, bei der die mit Schwarzgeld hantierende Politikergruppe zum ersten Mal von Gericht und Untersuchungsausschüssen ihre Vergeßlichkeit beschwor. Am Ende steht eine dann auf 150 Seiten die Wiedervereinigung, „Einheit in Freiheit“. Hier geht die Geschichtsschreibung notwendig in aktuelle Berichterstattung und Bewertung über. Für Winkler ist diese Republik im Westen angekommen. Sie ist der freiheitliche, demokratische Nationalstaat, von dem das 19. Jahrhundert nur träumen konnte, und den das frühe 20. Jahrhundert in weltgeschichtlich verhängnisvoller Weise verspielte. Für die neuere Rechts- und Verfassungsgeschichte einschließlich der Juristischen Zeitgeschichte wird dieses magistrale Werk künftig zu den „Grundlagen“ gehören.

 

Frankfurt am Main                                                                                         Michael Stolleis