Entstehung und Wandel verfassungsrechtlichen Denkens
RüfnerEntstehung20000914 Nr. 1192 ZRG 118 (2001)
Entstehung und Wandel verfassungsrechtlichen Denkens. Tagung der Vereinigung für Verfassungsgeschichte in Hofgeismar vom 15. 3.-17. 3. 1993 (= Der Staat Beiheft 11). Duncker & Humblot, Berlin 1993. 241 S.
Die Beiträge des Tagungsberichts umgreifen zeitlich die Entwicklung vom späten Mittelalter bis zur Gegenwart.
Voran steht das Referat von Jürgen Miethke, „Die Anfänge des säkularisierten Staates in der politischen Theorie des späten Mittelalters“ (S. 7‑43, Aussprache S. 44‑61). Miethke legt dar, daß die Säkularisierung des Staatsbegriffs im Mittelalter in der Kirche und durch die Kirche begonnen hat. Die kurialen Ansprüche forderten Protest und Widerspruch heraus, gleichwohl blieben die mittelalterlichen Theoretiker den kirchlichen Traditionen verpflichtet. Auch durch Vergleich der kaiserlichen Macht mit derjenigen der westeuropäischen Königreiche wurde die Unabhängigkeit der weltlichen Herrschaft von der Kirche begründet. Mit der Goldenen Bulle, an der vermutlich Leopold von Bebenburg, der Verfasser der Schrift „De iuribus regni et imperii“, Anteil nahm, verlor der Papst seinen Einfluß auf die deutschen Königswahlen unwiederbringlich.
Michael Stolleis, „Die Idee des souveränen Staates“ (S. 53‑85, Aussprache S. 86‑101) hebt die Bedeutung der Souveränität für das freie, nur auf den Willen des Souveräns gegründete Gesetzgebungsrechts hervor. Der Gedanke der Souveränität war in manchen Staaten mehr nach innen, in anderen mehr nach außen betont, fand sich aber im 16. und 17. Jahrhundert überall und im Rahmen aller europäischen Staats‑ und Regierungsformen. Der Souveränitätsbegriff ist wie Stolleis in seinem Schlußwort zustimmend zu einer Intervention von Diethelm Klippel bekräftigt, durch die Identifizierung mit absolutistischer Unterdrückung „geschädigt“ worden.
Gerhard Robbers, „Die Staatsrechtslehre des 19. Jahrhunderts“ (S. 103‑119, Aussprache S. 120‑131) schildert die Wendung zum formellen Rechtsstaat und zum Positivismus. Damit einher ging ein Wandel des Grundrechtsverhältnisses. Die Grundrechte erschienen in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhundert als Aussparungen privatisierender Individualität aus dem im Grundsätzlichen unbestrittenen Zugriff staatlich-monastischer Souveränität. Gleichwohl sieht Robbers ‑ der insoweit. Widerspruch in der Diskussion erfuhr ‑ in der Revolution von 1848 keinen Wendepunkt. Das Scheitern der Revolution habe die Entwicklung zum bereits vorher angelegten staatsrechtlichen Positivismus vielleicht beschleunigt, sei aber für die Entwicklung nicht entscheidend gewesen.
Peter Badura, „Die Dogmatik des Staatsrechts im Wandel vom Bismarkreich über die Weimarer Republik zur Bundesrepublik“ (S. 133‑157, Aussprache S. 158‑164) sieht die Kontinuität der Staatsrechtslehre mit Laband und den Staatsrechtslehrern des Konstitutionalismus und der Weimarer Zeit. Er schildert nicht nur die Überwindung des staatsrechtlichen Positivismus, die Wendung der Grundrechte gegen die Gesetzgebung, sondern auch die Entwicklung zur Wohlfahrtsverantwortung des Staatsrechts.
Martin Heckel, „Die Neubestimmung des Verhältnisses von Staat und Kirche im 19. Jahrhundert“ (S. 165‑194, Aussprache S. 195‑200) schildert, wie die Französische Revolution hektisch und exemplarisch in kurzer Zeit alle Spielarten des Staatskirchenrechts der folgenden zwei Jahrhunderte durchspielte. Der Schock des radikalen Kirchenkampfes in der zweiten Phase ab 1792 hat die katholische Kirche, aber auch die evangelischen Landesk.irchen getroffen und mit tiefer Reserve gegenüber der demokratischen Verfassungsform. erfüllt. Mit der großen Säkularisation, in der Heckel mit Recht eine grundstürzende Revolution sieht, hat der Reichsdeputations-Hauptschluß den Säkularisierungsprozeß des Staates vorangetrieben und die Spiritualisierung der Kirche bewirkt, wiewohl die Verselbständigung der evangelischem Kirchen nur langsam vorankam. Eine geistliche Begründung der evangelischen Kirchenverfassung wurde im 19. Jahrhundert versäumt. Die Religionsfreiheit wurde im 19. Jahrhundert mit der fortschreitenden Säkularisierung des Staates zum Instrument gegen laizistische Eliminierung der Religion. Sie beförderte einerseits die Trennung von Staat und Kirche, führte andererseits aber zur freiheitlichen Öffnung des Staates für das Religiöse. Das gestufte Paritätssystem mit der Privilegierung der Großkirchen wurde zwar vor der Weimarer Reichsverfassung abgeschafft, es kam. aber nicht zu der von den Kirchen befürchteten Nivellierung.
Der Tagungsbericht, der auch die abschließende zusammenfassende Aussprache dokumentiert (S. 201-230), enthält wertvolle Anregungen für jeden, der sich für verfassungsgeschichtliche und verfassungstheoretische Fragestellungen interessiert. Er gibt Anlaß, manche überkommene Vorstellungen zu hinterfragen.
Köln/Bonn Wolfgang Rüfner