Wirkungen europäischer Rechtskultur.
LippWirkungen20001011 Nr. 1060 ZRG 119 (2001) 00
Wirkungen europäischer Rechtskultur. Festschrift für Karl Kroeschell zum 70. Geburtstag, hg. v. Köbler, Gerhard/Nehlsen, Hermann. Beck, München 1997, XII, 1580 S.
Die Karl Kroeschell zu seinem 70. Geburtstag am 14. November 1997 dargebrachte Festschrift umspannt in ihrer Fülle und Vielseitigkeit das wissenschaftliche und akademische Wirken des Jubilars. Seine herausragenden Leistungen auf dem Gebiet der Rechtsgeschichte wie auch in Teilen des geltenden Rechts finden als grundlegende Beiträge zu den Wirkungen europäischer Rechtskultur auf diese Weise würdige Ehrung.
Die 73 Beiträge engmaschigeren Themenkomplexen zuzuordnen, ist angesichts ihrer inhaltsreichen Vielfalt nicht möglich. Traditionelle, wenngleich inhaltlich oft nicht überzeugende Fachsparten (wie Romanistik, Germanistik, Kanonistik, Philologie, Geschichtswissenschaft) sind ohnehin gesprengt. Die Herausgeber haben sich deshalb zu einer alphabetischen Reihenfolge der Autoren und ihrer Beiträge entschlossen und wollen diese insgesamt als „Wirkungen europäischer Rechtskultur in Raum und Zeit“ (S. VI) dem Jubilar darbieten. Wenn im Folgenden gleichwohl eine grobflächige thematische Gliederung bevorzugt wird, so nur deshalb, um dem Leser den Zugriff dadurch vielleicht etwas zu erleichtern.
I. Methodenfragen, Begriffs‑ und allgemeine Wirkungsgeschichte
Elmar Bund beschäftigt sich in seinem Beitrag Stoischer Materialismus und Dynamismus in der römischen Rechtssprache (S. 65ff.) mit dem Eindringen körperlicher Metaphorik (obligatio nascitur etc.) in die Rechtssprache der Römer. Hintergrund ist die Lehre der Stoa, wonach jeder Ursache körperliche Qualität zukomme, und ihre Rezeption, die zur Gleichsetzung von logischem Grund (Rechtswissenschaft) und physikalischer Ursache (Physik) geführt habe. ‑ Die Bedeutungsbreite der Natur als Argument in der Rechtswissenschaft lotet Heinz Holzhauer aus (S. 395ff.), dessen Beitrag um die Begriffe von Naturrecht und Natur der Sache kreist: Naturrecht und positives Recht, Vernunftrecht, Ableitung eines Naturgesetzes aus der Natur des Menschen bis hin zu den jüngsten Entwicklungen, die die „Natur“ nicht nur als Maßstab und Argument für menschliche Normen, sondern als eigene Rechtsträgerin sehen wollen (Ökozentristen). In einem tiefsinnigen Beitrag zur Rechtsgeschichte und Rechtsdogmatik (S. 467ff.) geht Albert Janssen, aufbauend insbesondere auf den Gedanken Wilhelm Henkes und Jan Schapps, der Bedeutung und Funktion der Rechtsgeschichte für die Erkenntnis des geltenden Rechts nach und bestätigt aus der Sicht der hermeneutischen Philosophie die vom Jubilar vertretene Auffassung, wonach Rechtsgeschichte als Teil der Rechtswissenschaft verstanden werden muss. ‑ Wirkungen europäischer Rechtskultur (S. 511ff.) verfolgt Gerhard Köbler anhand des europäischen Juristenstandes seit dem 11./12. Jahrhundert, seiner Ausbildung, seiner vielfachen forensischen Tätigkeiten, des quantitativen Anwachsens des Juristenstandes und der dafür maßgeblichen Gründe. ‑ Multikulturalismus als rechtliche Absicherung der Anerkennung unterschiedlicher Kulturen ‑ in seinen Rechtsgeschichtliche(n) Anmerkungen zum Multikulturalismus (S. 707ff.) zeigt Theo Mayer‑Maly insbesondere an den Beispielen des Imperium Romanum und der Habsburgermonarchie, dass staatliche und rechtliche Bewältigung multikultureller Lebensformen viel eher auf der Grundlage von anerkennenden, allgemein vernunftrechtlichen Einsichten denn durch positives, zwingendes Recht gelingt. ‑ Die Anverwandlung der juristischen Definitionslehre in Parallelität zu den Änderungen der philosophischen Definitionslehre vom Zeitalter der humanistischen (Topik) zur rationalistisch‑naturrechtlichen (demonstrativen) Jurisprudenz zeichnet Jan Schröder in seinem Beitrag über Definition und Deskription in der juristischen Methodenlehre der frühen Neuzeit (S. 1093ff.) nach. Gunter Wesener beschäftigt sich mit der Bedeutung des römisch‑gemeinen Rechts in seiner Darstellungsform des Usus modernus pandectarum für den Codex Theresianus, und zwar im Hinblick auf die Rechtsanwendungslehre und das Obligationenrecht (Die Rolle des Usus modernus pandectarum im Entwurf des Codex Theresianus ‑ Zur Wirkungsgeschichte des älteren gemeinen Rechts, S. 1363ff.). Die theoretische und kulturelle Bedeutung der Rechtsgeschichte und des römischen Rechts für ein modernes Europa und damit für die universitäre Ausbildung der Juristen hebt Janos Zlinszky hervor und weist in seinem Aufsatz (Ein Kapitel der Wirkungsgeschichte europäischer Rechtskultur, S. 1471ff.) auf die (etwa im Unterschied zu Deutschland) herausgehobene Stellung der Grundlagenfächer in der ungarischen Juristenausbildung hin.
II. Persönlichkeiten, Charakter‑ und Lebensbilder
Jacob Burckhardt und herausragenden Begleitern seines Gelehrtenlebens, vor allem dem Freiburger Historiker Heinrich Schreiber als Mentor Burckhardts bis zu dessen Umzug nach Berlin (1840), widmet sich Josef Fleckensteins Studie (S. 259). An eine vergessene Karriere, den Reichsgerichtsrat a. D. Otto Mittelstädt (geb. 1834 in Schneidemühl, Posen; gest. 1899 durch Freitod in Rom), erinnert Hans Hattenhauer (Justizkarriere durch die Provinzen; S. 327ff.). Julius Federer, Mitglied des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts von 1951 bis 1967, steht im Mittelpunkt des Beitrags Alexander Hollerbachs: Julius Federer (1911 ‑ 1984): Rechtshistoriker und Verfassungsrichter (S. 377ff.). Masasuke Ishibe stellt in Nishi Amane einen „japanischen Aufklärer“ der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts vor (Die Verwestlichung des japanischen Rechtsdenkens in der frühen Meiji‑Zeit. Nishi Amanes Staats‑ und Rechtsgedanke; S. 419ff.). Adolf Laufs geht in seiner Studie „Das wirklich geltende, durch den allgemeinen Willen gesetzte Recht“. Zur Rechtslehre Carl Georg von Wächters (1797‑1880), S. 617ff., einer herausragenden Juristenpersönlichkeit des 19. Jahrhunderts nach. Auch Hermann Nehlsens Beitrag ist einer einflussreichen Persönlichkeit des 19. Jahrhunderts gewidmet: Fürst Karl zu Leiningen (1804‑1856). Schüler Karl Friedrich Eichhorns, standesherrlicher Reformer, Präsident des ersten Paulskirchenkabinetts (S. 763ff.). ‑ „Zum 225. Geburtstag eines großen Juristen“ lautet Günter Neumanns Aufsatz (S. 851ff.), in dem die große Gestalt Anton Friedrich Justus Thibauts gewürdigt wird, vor allem die in seiner Person zum Ausdruck kommende Verzahnung und Wechselwirkung von Musikwissenschaft und Jurisprudenz. ‑ An den einst angesehensten deutschen Staatsgelehrten zu Zeiten des Vormärz, dann der Vergessenheit anheim gefallenen Gelehrten, Gutachter und politisch aktiven Johann Ludwig Klüber (1763‑1837) erinnert die umfassende, höchst anregende Studie Klaus‑Peter Schroeders (S. 1107ff.). Um einen Beitrag zur Landesgeschichte Alemanniens in karolingischer Zeit geht es Thomas Zotz: Ludwig der Fromme, Alemannien und die Genese eines neuen Regnum (S. 1481ff.).
III. Verfassungsgeschichtliches, Gerichtsverfassung, Gesetzgebung
Am Beispiel von Mozarts Krönungsoper für Kaiser Leopold II. La clemenza di Tito geht Hans‑Jürgen Becker der politischen und verfassungsrechtlichen Bedeutung von Herrschertugenden, vor allem der clementia, im Zeitalter des späten Absolutismus nach (S. 1ff.). Vor dem Hintergrund neuer historischer Forschungen wird von Bernhard Diestelkamp die Frage aufgeworfen, ob den so genannten königsfreien Regionen im Norden und Osten des Reiches spiegelbildlich eine Distanz zur königlichen Hofgerichtsbarkeit einher geht ‑ sein Befund ist negativ (S. 151ff.). Über die Inventarisierung von Dorfgerichtsstätten in Hessen berichtet Wilhelm Alfred Eckhardt (S. 203ff.), über Lehenprozesse im bernischen Gebiet Rudolf Gmür. Rechtsfragen des Landfriedensbruchs und der Selbsthilfe in der Zeit nach dem Ewigen Landfrieden von 1495 erörtert Hans‑Rudolf Hagemann am Beispiel eines Konflikts zwischen dem Grafen von Hanau und der Stadt Straßburg und zweier dazu erstatteter Gutachten von Andrea Alciato und Bonifacius Amerbach (1538): Der Landfrieden im Spiegel zweier Konsilien aus dem 16. Jahrhundert (S. 309ff.). ‑ Religiöses Wiedervereinigungsgebot, neutralisierendes, aber auf Grund der paritätischen Struktur gleichwohl höchst konfessionell ausgerichtetes Reichskirchenrecht und die Inanspruchnahme der jeweils „wahren“ Einheit von Glaube und Herrschaft in den Territorien sind die Stufen des spannungsreichen Bogens, den Martin Heckel für das (immer noch) an der Idee der Einheit des Glaubens festhaltende Reich im konfessionellen Zeitalter schlägt: Das Restitutionsedikt Kaiser Ferdinands II. vom 6. März 1629 ‑ eine verlorene Alternative der Reichskirchenverfassung (S. 351ff.). Weitere Beiträge zur deutschen Gerichtsverfassung und zur Prozessrechtsgeschichte stammen von Takeshi Ishikawa (Das Gericht im Sachsenspiegel, S. 441ff.), von Gernot Kocher (Europäische Dimensionen des prozeßrechtsgeschichtlichen Bildes, S. 533ff.) und von Wieslaw Litewski (Mündliche Klage und Klageschrift in den ältesten ordines iudiciarii, S. 667ff.). Auf maßgebliche Verfassungsänderungen in Böhmen während des Dreißigjährigen Kriegs geht Karel Maly ein. Beschrieben wird der Übergang vom böhmischen Ständestaat (Böhmische Konföderation, 1619) zur absoluten Autorität des Monarchen (Verneuerte Landesordnung, 1627): Der böhmische Beitrag zum Modell des europäischen Absolutismus (S. 695ff.). ‑ An die Abschaffung des Ständestaats und Erbstatthalterschaft in den Niederlanden vor gut zweihundert Jahren durch die „Bataver“ (niederländische patriotische Flüchtlinge und Verbannte, die sich nach einem germanischen Volksstamm benannten) erinnert Olav Moorman van Kappen mit Gedanken „Zur politischen und verfassungsrechtlichen Bedeutung der Batavischen Umwälzung in den Niederlanden“, S. 713ff. Karin Nehlsen‑von Stryk verfolgt das sächsisch‑magdeburgische Recht in der Spruchtätigkeit des Oberhofs des deutschen Rechts auf der Burg zu Krakau, und zwar anhand von Rechtsweisungen zur handhaften Tat aus den Jahren 1456 ‑ 1481. Im Ergebnis zeigt die Studie, dass sich bei allen Überlagerungen und regional unterschiedlichen Entwicklungen insgesamt die verfahrensrechtlichen Grundsätze und Garantien des sächsischen Privatklageverfahrens (gegenüber dem Inquisitionsverfahren) in der Spruchtätigkeit des Krakauer Oberhofs erstaunlich lange gehalten haben. ‑ Mit der frühneuzeitlichen „Ordnungsgesetzgebung“ (gute Ordnung, gute policey) in den Territorien beschäftigt sich Thomas Simon: Krise oder Wachstum? Erklärungsversuche zum Aufkommen territorialer Gesetzgebung am Ausgang des Mittelalters (S. 1201ff.). Michael Stolleis lenkt den Blick auf ein württembergisches Dorfrecht von 1593 (Sich allweg dermaßen zu verhalten wie es einem aufrechten und redlichen Mitbürger zu tun gebührt und wohl ansteht, S. 1259ff.). Schwedisches Landschaftsrecht und frühes Recht der Rus’ ist das Thema Dieter Strauchs (S. 1275ff.). ‑ Lassen sich aus Funktion, Selbstverständnis, verfassungsrechtlichen Strukturen des alten Reichs Folgerungen und Einsichten für die Gestaltung der europäischen Union gewinnen? Diese Frage beschäftigt Jürgen Weitzel (Das alte Reich und die neue Union, S. 1347ff.) mit einem weitgehend negativen Ergebnis.
IV. Privatrechtsgeschichte und geltendes Privatrecht
Aus der Geschichte des Arbeitsrecht greift Hans‑Peter Benöhr vier Beispiele auf (Lohnfortzahlung, Krankenversorgung, Fürsorgepflicht, Betriebsrisiko), um das „Sozialmodell“ des BGB zu beleuchten ‑ Fast vier Tropfen sozialen Öls (S. 17ff.) ‑ mit dem Ergebnis, dass erst die Zusammenschau von Gewerbeordnung, Handelsgesetzbuch, Sozialversicherung und Bürgerlichem Gesetzbuch ein begründetes Urteil über den sozialen Charakter des Arbeitsrechts um 1900 gestattet. ‑ Zu einer gegenüber dem bisherigen Bild vom Werk J. G. Estors (1699 ‑ 1773) differenzierten Skizze gelangt Arno Buschmann in seiner Darstellung von Estors System der „Bürgerlichen Rechtsgelehrsamkeit der Teutschen“ (S. 77ff.). ‑ Aus dem Bereich der Dogmengeschichte stammen die Beiträge Jörn Eckerts, Use, Trust, Strict Settlement ‑ Fideikommissähnliche Bindungen des Grundbesitzes in England (S. 187ff.), Ulrich Eisenhardts, Die Entwicklung des Abstraktionsprinzips im 20. Jahrhundert (S. 215ff.), Walther Haddings, Schuldverhältnis, Forderung, rechtlicher Grund (S. 293ff.), Peter Landaus, Die Vormundschaft als Prinzip des deutschen Privatrechts und der Staatstheorie im 19. Jahrhundert (S. 577ff.), Götz Landwehrs, Prinzipien der Risikotragung beim Seefrachtvertrag ‑ Rechtsverhältnisse bei Haverei und Schiffbruch in der Nord‑ und Ostseeschiffahrt vom 13. bis zum 17. Jahrhundert (S. 595ff.), Karlheinz Muschelers ,Die Haftung des Erben im preußischen ALR (S. 739ff.), Gerhard Ottes, Die Rechtsprechung des BGH zur forrnlosen Hoferbenbestirnmung als Fortsetzung erbhofrechtlichen Denkens (S. 915ff.), Karl Otto Scherners, Fiducia Gerrnanorum. Johannes Heumann und die Erfindung der Treuhand in der deutschen Rechtsgeschichte (S. 973ff.) sowie Karl Heinz Schindlers, Kausale oder abstrakte Übereignung (S. 1033ff.). Der jüngsten deutschen Rechtsgeschichte widmet sich Rainer Schröder (Marxismus und Recht am Beispiel des Zivilrechts in der DDR, S. 1155ff.). ‑ Die Geschichte der Rechtsvereinheitlichung in der Tschechoslowakei greift Werner Schubert auf (Der tschechoslowakische Entwurf von 1937 zu einem Handelsgesetzbuch, S. 1183ff.). Fritz Sturm geht in einem historischrechtsvergleichenden Aufsatz auf die Aufnahme der Adoption in den Code civil ein (S. 1305ff.). Gesetzgebung und Schutz des geistigen Eigentums im 19. Jahrhundert ist das Thema Elmar Wadles (Sonderrecht für Werke der bildenden Kunst? ‑ Ein preußisches Reformprojekt von 1842, S. 1315ff.), und eine europäisch‑rechtsvergleichende Studie widmet Wolfgang Winkler dem Verhältnis zwischen bäuerlicher Familie und Hof (Nichteheliche Kinder und landwirtschaftliches Erbrecht, S. 1403ff.). ‑Kritisch unter die Lupe genommen wird von Klaus Luig die Methode der Gewinnung allgemeiner deutscher Privatrechtssätze bei J. F. Runde (Schäfchen zählen ‑ mit gesundem Menschenverstand, S. 687ff.). Dem Begriff des „ius commune“ widmet sich der Aufsatz von Paul L. Nève (Europäisches) Ius Commune und (nationales) Gemeines Recht: Verwechslung von Begriffen? (S. 871ff.) ‑ mit dem skeptischen Ergebnis, dass es ein so oft beanspruchtes einheitliches ius commune Europaeum wohl nie gegeben habe und richtiger vielleicht von einer scientia communis ad ius pertinens zu sprechen sei. ‑ Das Gebiet der Rezeptionsgeschichte ist Gegenstand der Beiträge Robert Feenstras (Das Stadtrecht von Friedrichstadt und seine niederländischen Quellen, S. 233ff.) und Janez Kranjcs (Die Einflüsse des römischen Rechts auf das Statut von Ptuj [Pettau]), S. 545ff.).
V. Strafrechtsgeschichtliches
Anhand von bedeutenden Prozessen geht Raoul C. van Caenegem auf die Strafgerichtsbarkeit und das Strafensystem (etwa bei Diebstahl und Raub: Todes‑ und Verstümmelungsstrafen) im England des 12. Jahrhunderts ein (S. 99ff.). ‑ Geburt und Wiedergeburt des peinlichen Strafrechts im Mittelalter, so der Titel des Beitrages Günter Jerouscheks (S. 497ff.), in dem am Beispiel der Abtreibungsstrafen der Lex Visigothorum Argumente für ein quasi doppelt gestuftes peinliches Strafrecht im Frühmittelalter aufgewiesen werden: peinliche Knechtsstrafen und Kompositionen für Freie einerseits, Statusminderung von Feien bei bestimmten Verbrechen und damit Eröffnung des peinlichen Strafrechts auch für sie auf der anderen Seite. Die „Wiedergeburt“ des peinlichen Strafrechts im Hochmittelalter geschieht dann in enger Anlehnung an die kirchliche Vorstellung vom Jenseitsstrafrecht. ‑ Einer kritischen Würdigung unterzieht Hinrich Rüping die Strafjustiz gegenüber Denunziationen während der Naziherrschaft, die nach 1945 als Verbrechen gegen die Menschlichkeit erfasst werden sollten (S. 953ff.). Einem alten Thema der Strafrechtsgeschichte, in jüngerer Zeit aber auch der allgemeinen Geschichte und der Religionsgeschichte, wendet sich Wolfgang Schild in seiner Studie über Missetäter und Wolf zu (S. 999ff.).
VI. Varia
Verbindungen und Reisen deutschsprachiger Juristen nach Rom zeichnet Louis Carlen (S. 113ff.) nach. Auf ein in vielen Fragen offenes Forschungsfeld weist Albrecht Cordes, Gewinnteilungsprinzipien im hansischen und oberitalienischen Gesellschaftshandel des Spätmittelalters (S. 135ff.), hin: Die gängige Vorstellung von universellen mittelalterlichen Rechtsgewohnheiten der Kaufleute bestätigt sich für seinen Untersuchungsgegenstand nicht. ‑ Einen zusammenfassenden Überblick über die Entwicklung des deutschen Juristenstandes, begriffen als eine bestimmte, soziologisch‑analytisch fassbare Personengruppe (professioneller Expertenberuf), zeichnet Gerhard Dilcher (Der deutsche Juristenstand zwischen Ancien Regime und bürgerlicher Gesellschaft, S. 163ff.). Detlef Liebs stellt prosopografische Studien zu römischen Provinzialjuristen aus dem 6. und 7. Jahrhundert vor (Römische Juristen der Merowinger, S. 634ff.). ‑ Mit dem Leitsätzegesetz vom 24. 6. 1948 wurde die juristische Weiche in Richtung Marktwirtschaft gestellt. Die einzelnen Stufen hierzu und die wirtschaftspolitischen Versuche im Vorfeld behandelt Knut Wolfgang Nörr, Als die Würfel für die Marktwirtschaft fielen (S. 885ff.). ‑ Über Bemühungen einer Edition des Meißner Rechtsbuches in Vergangenheit und Gegenwart berichtet Ulrich‑Dieter Oppitz, Zum Meißner Rechtsbuch (S. 907ff.). ‑ Die germanische Urfreiheit als Becken der angloamerikanischen Demokratie ‑ dieser im 19. Jahrhundert viel verbreiteten Sichtweise geht Mathias Reimann nach: „In such forests liberty was nurtured.“ Von den germanischen Wurzeln der anglo‑amerikanischen Freiheit (S. 933ff.). Weitere Beiträge stammen von Ruth Schmidt‑Wiegand, Autor und Illustrator in den Bilderhandschriften des Sachsenspiegels (S. 1043ff.), von Clausdieter Schott, „Die VII Churfürsten“ - Rechtsgeschichte und Ortsnamenkunde (S. 1065ff.), Stefan Sonderegger, Tradition und Erneuerung der germanischen Rechtssprache aus der Sicht des Gotischen (S. 1219ff.), von Thomas Sporn, Pfister gegen Krickerode. Eine rechtshistorische Rarität bei Wilhelm Raabe (S. 1245ff.), Rudolf Weigand, Das kirchliche Wahlrecht im Dekret Gratians (S. 1331ff.) ‑ Um eine Erklärung der extremen Zunahme von Prozessen in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts geht es Christian Wollschläger, Streitgegenstände und Parteien am Friedensgericht Xanten 1826‑1830. Zur Expansion von Ziviljustiz und Kredit im 19. Jahrhundert (S. 1425ff.), und Günther Wüst wirft Reflexionen zu den Problemen einer Überflussgesellschaft auf (S. 1453ff.).
Was hier nur angedeutet werden kann, entfaltet sich dem Leser als höchst anregender Zug durch alte und neue Problemstellungen der Rechtsgeschichte samt ihren Ausläufern auf dem Gebiet des geltenden Rechts ‑ ein Verdienst der hohen wissenschaftlichen Qualität der Beiträge und der schönen Ausstattung des Bandes.
Gießen Martin Lipp