Achtzig [80] Jahre Weimarer Reichsverfassung

– Was ist geblieben?, hg. v. Eichenhofer, Eberhard. Mohr (Siebeck), Tübingen 1999. 230 S. Besprochen von Karsten Ruppert.

Achtzig [80] Jahre Weimarer Reichsverfassung – Was ist geblieben?, hg. v. Eichenhofer, Eberhard. Mohr (Siebeck), Tübingen 1999. 230 S.

 

Die Republik von Weimar und deren Verfassung gehören nicht zu den bevorzugten Gegenständen der in den letzten Jahrzehnten kräftig blühenden Gedenkkultur in Deutschland. Umso erstaunlicher und anerkennenswerter ist es, dass die Rechtswissenschaftliche Fakultät der Friedrich-Schiller-Universität Jena den 80. Jahrestag der Verabschiedung dieser Verfassung zum Anlass genommen hat, ihr eine Ringvorlesung zu widmen und deren Erträge noch im selben Jahr zu veröffentlichen. Das Motiv für das Unternehmen war nicht allein das äußerliche der „räumlichen und geistigen“ Verbundenheit mit „Weimar“, das der Herausgeber nennt, sondern, wie die Beiträge belegen, auch ein innerer Bezug zur Sache.

 

Der Rechtshistoriker Gerhard Lingelbach beschreibt, wie es zur Nationalversammlung gekommen ist und untersucht die Gründe für die Verlegung der verfassungsgebenden Versammlung in die thüringische Kleinstadt. Während er dabei wenig Neues mitzuteilen weiß, kann er die Situation vor Ort, besonders die politischen Verhältnissen in der Stadt, aus seiner reichen Kenntnis der thüringischen Landesgeschichte mit zahlreichen Details illustrieren.

 

Walter Pauly untersucht „Die Stellung der Weimarer Reichsverfassung in der deutschen Verfassungsgeschichte“. Er betont zu Recht, dass der eigentliche Kontinuitätsbruch schon im ersten Artikel vollzogen worden sei durch die Proklamierung der Republik und der Volkssouveränität. Angesichts der Bedeutung dieser Feststellung für das Thema hätte man sie sich gern etwas mehr vertieft gewünscht. Im Folgenden beschränkt er sich nämlich darauf, die Kontinuitätslinien durch Vor- und Rückblicke auf Grundgesetz und Paulskirchenverfassung am Beispiel einiger zentralen Bestimmungen auszuziehen. Es liegt wohl daran, dass er beim Vergleich des Staatsoberhaupts zu sehr auf das Grundgesetz und zu wenig auf die deutschen Verfassungen des 19. Jahrhunderts geschaut hat, wenn er das Institut des Reichspräsidenten prononciert als originäre Weimarer Schöpfung interpretiert. Hingegen sieht er das Verfahren der Regierungsbildung und die Form der Reichsregierung als traditionell an.

 

Rolf Gröschner macht auf die oft viel zu selbstverständlich genommene, aber historisch höchst bedeutsame Tatsache aufmerksam, dass in der Weimarer Reichsverfassung in der deutschen Geschichte zum ersten Mal die Republik als Staatsform proklamiert wurde und dass genau darin eine entscheidende Gemeinsamkeit zwischen Bonn und Weimar liegt. Wer gegen diese Feststellung einwenden möchte, dass ja auch schon die Reichsstädte des Alten Reichs und die Stadtstaaten in der Verfassung des Deutschen Bundes wie des Kaiserreichs Republiken gewesen seien, wird in diesem Beitrag insofern eines Besseren belehrt, als hier der Republikbegriff eine über das Formale hinausreichende Vertiefung erfährt. Denn in der Tat greift spätestens seit der Französischen Revolution das Verständnis von Republik allein als der Ausschluss jeder Form des monarchischen Regierens zu kurz. In einer beeindruckenden Synthese dogmatischer, philosophischer und historischer Aspekte zeigt Gröschner nämlich, dass die republikanische Medaille immer eine zweite Seite hat. Diese ist mit dem klassischen, doch nach wie vor treffenden Wort Ciceros „res publica est res populi“ erfasst. Es ist im europäischen politischen Denken dahingehend weiter entwickelt worden, dass republikanische Herrschaft stets eine freiheitliche sein muss unter Beteiligung des Volkes und für dieses. In dieser Tradition habe die Weimarer Reichsverfassung das „monarchische Prinzip“ durch das „republikanische“ abgelöst. Daran habe das Grundgesetz angeknüpft durch die Übernahme von Demokratieprinzip (durch das Volk) und Sozialstaatsgebot (für das Volk). Es habe aber das Problem der Freiheit insofern besser gelöst, als es in der Leitidee der „freiheitlichen Ordnung“ ein Kriterium gefunden habe, das verhindert habe, eines der beiden in ihm steckenden Prinzipien einseitig zum Zweck des Staates zu machen.

 

Es ist populäre Ansicht, dass die Möglichkeit des Reichstags, dem Kanzler und den Ministern jederzeit mit einfacher Mehrheit das Vertrauen zu entziehen, ein Grund für die Schwäche der ersten deutschen Republik gewesen sei, und es daher eine weise Entscheidung des Parlamentarischen Rates war, dieses „destruktive Misstrauensvotum“ durch ein konstruktives zu ersetzen. Karl-Ulrich Meyn widerspricht dem nicht, er versucht vielmehr die Bedeutung beider Verfahren zu verdeutlichen, indem er sie in ihren weiteren praktischen und verfassungsrechtlichen Zusammenhang stellt. So sei der eigentliche Konstruktionsfehler der Weimarer Reichsverfassung gewesen, dass die Reichsregierungen nicht ausdrücklich das Vertrauen des Parlaments zur Aufnahme ihrer Tätigkeit brauchten, sondern dieses - welch entlarvendes Wort! - „vermutet“ wurde. Dennoch kommt er zu dem Schluss, dass die Weimarer Reichsverfassung „dem Funktionieren des parlamentarischen Regierungssystems nicht grundsätzlich im Wege stand.“ Andererseits liegt ihm daran, darauf zu verweisen, dass auch das Grundgesetz die Ernennung einer Minderheitsregierung zulasse und ebenfalls Verfahren kenne, den „Gesetzgebungsnotstand“ zu überwinden, falls das Parlament bei der Erfüllung seiner eigentlichen Aufgabe versagt. Freilich war die Bundesrepublik bisher noch nicht auf diese Aushilfen angewiesen; über die Gründe dafür hätte man gern etwas mehr gewusst.

 

Michael Brenner geht bei seinen Überlegungen über die wehrhafte Demokratie von der für einen Verfassungsrechtler bemerkenswerten These aus, dass für die Überlebensfähigkeit einer Verfassung Vertrauen und Akzeptanz entscheidend seien. Dennoch ist auch er der herrschenden Ansicht, dass durchaus auch in eine demokratische Verfassung Sicherungen eingebaut werden müssen. Am Vergleich zwischen Weimarer Reichsverfassung und Grundgesetz, der unter diesem Gesichtspunkt schon öfters durchgeführt worden ist, zeigt er dies auf. Der Mangel an Identifikation mit der Weimarer Verfassung wird wohl daran gut deutlich, dass selbst die Nationalversammlung nicht voll hinter ihrem Werk stand. Sie stellte es vollständig zur Disposition, falls die Änderungen sich auf verfassungsgemäßen Weg vollzogen. Dieser rein formalen Verfassungstreue und diesem Wertrelativismus stellte der Parlamentarische Rat sein Konzept der wehrhaften Demokratie entgegen, indem die Grundrechte und die föderalistischen Prinzipien jeglicher Verfassungsänderung entzogen wurden. Weitaus weniger bekannt dürfte sein, dass der so hoch geschätzte Schutz durch die - wie der Verfasser sie nennt - „Ewigkeitsklausel“ sich auch als Fessel für die Anpassung an gewandelte Verhältnisse erweisen kann, wie sich insbesondere bei der notwendigen Reform des Asylrechts zeigte. Nicht weniger originell ist der Hinweis, dass das Grundgesetz bisher mehr durch die auf gesetzlicher Grundlage beruhenden Maßnahmen und Institutionen geschützt wurde (insbesondere den präventiven Verfassungsschutz) als durch die dafür in der Verfassung vorgesehenen Bestimmungen.

 

Ein Beitrag zur wehrhaften Demokratie war unter anderem die Rückbindung des Berufsbeamtentums an die Verfassung. Andererseits ist die Kontinuität zu dem in dieser Hinsicht viel weniger gebundenen Beamtentum von Weimar höchstrichterlich bestätigt worden, als das Bundesverfassungsgericht festgestellt hat, dass unter den „hergebrachten Grundsätzen des Berufsbeamtentums“, von denen das Grundgesetz spricht, zumindest die seit der Weimarer Verfassung geltenden zu verstehen sind. Es nahm dabei kurioser Weise auf einen Zeitpunkt Bezug, an dem das Schicksal des bis dahin stark monarchisch geprägten Berufsbeamtentum in der Revolution auf des Messers Schneide stand. Dass es nicht beseitigt wurde, sondern erhalten blieb und - hier zeigen sich Parallelen zu den Kirchen - sogar mit einem Bündel von Privilegien bedacht wurde, verdankt es nach Ansicht von Monika Jachmann zweierlei. Einmal gelang es den bürgerlichen Parteien, die SPD davon zu überzeugen, dass das Berufsbeamtentum für moderne Staatlichkeit geradezu konstitutiv sei (das war bei den staatszentrierten deutschen Sozialdemokraten nicht allzu schwer), zum anderen erwies sich der gerade gegründete Deutsche Beamtenbund gleich als erfolgreicher Lobbyist. Bekanntlich hat ein Teil der Beamtenschaft dies der Republik nicht gedankt. Verfassung und Rechtsprechung machten es ihr aber auch leicht, indem sie den Beamten einerseits auf die (allerdings, wie von Karl-Ulrich Meyn gezeigt, wertrelative) Verfassung verpflichtete, ihm andererseits aber freie politische Betätigung erlaubte. Das führte zu der kuriosen Figur des Staatsdieners, der seine Dienstpflichten treu erfüllte, sich aber nach Feierabend in einer das „System“ bekämpfenden Partei tummelte. Für die Bundesrepublik hat sich das Problem so nicht mehr gestellt, da sie ihren Beamten einerseits eine besondere Dienst- und Treuepflicht abverlangte und diese - hier zeigt sich eine positive Folge des materiellen Verständnisses der Verfassung - mit Berufung auf deren Kernbestand zu füllen vermochte.

 

Die Beiträge des Bandes unterstreichen überzeugend beträchtliche Gemeinsamkeiten der beiden deutschen Demokratien. Wie unterschiedlich aber dennoch der Geist war, aus dem sie entstanden sind, zeigen die Ausführungen von Martina Haedrich zu den Grundpflichten. Von diesen hatte die Weimarer Verfassung eine ganze Menge wie z. B. die Pflicht zum Ehrenamt, zum Einsatz der geistigen und körperlichen Kräfte für das Gemeinwohl u. ä. gekannt.Wenn sie auch überwiegend programmatischen Charakter hatten und auch die Gesamtheit der Artikel keine innere Geschlossenheit aufwies, so belegen sie doch, wie sehr der Staat vom Allgemeinwohl her konzipiert worden war und noch nicht so sehr von den Rechtsansprüchen des Individuums wie das Grundgesetz. Zu dieser Entwicklung trug sicherlich auch der Missbrauch bei, den die Nationalsozialisten mit den Pflichten gegenüber der Gemeinschaft getrieben hatten. Die Verfassung der ehemaligen Deutschen Demokratischen Republik stand hier, zumindest auf dem Papier, Weimar näher; wie auch entsprechende Proklamationen der Vereinten Nationen und des Europarats in dieser Tradition stehen.

 

Wie die staatsbürgerlichen Pflichten waren auch die sozialen Grundrechte weitgehend proklamatorisch und auch sie unterstreichen die Distanz der Gegenwart zu Weimar. Dabei sollten diese den bürgerlich liberalen Grundrechtsstaat zum unterbürgerlich sozialen hin erweitern - politisch ebenso sinnvoll wie historisch notwendig. Die Zeit- und Machtverhältnisse haben aber verhindert, dass dieser Weg konsequent beschritten wurde. Wenn Eberhard Eichenhofer betont, dass die Weimarer Republik doch einige Gesetze im Sinne der sozialen Grundrechte zustande gebracht hat, dann ist dem entgegenzuhalten, dass jene auch ohne diese verwirklicht worden wären und dass letztendlich die wichtigsten sozialen Grundrechte leer liefen. Die Bundesrepublik ist, obwohl ihre Verfassung all diese neuartigen Grundrechte nicht kennt, besser gefahren. Dies aber doch wohl weniger, weil sie im Sozialstaatsprinzip den verfassungspolitischen Königsweg gefunden hat, wie Eichenhofer meint, sondern weil die wirtschaftlichen Bedingungen für staatliche Sozialgesetzgebung unvergleichlich besser waren.

 

Wenig bekannt dürfte sein, dass bei der dieses Buch durchziehenden Frage, was von der Weimarer Reichsverfassung geblieben ist, auf nichts eindeutiger verwiesen werden kann als auf das Verhältnis zwischen Kirche und Staat. Denn fast das gesamte Staatskirchenrecht der Weimarer Republik wurde durch den Art. 140 GG übernommen, da sich der Parlamentarische Rat in dieser in Deutschland stets hoch ideologischen Frage nicht einigen konnte. Die Folge war, dass sich in der Bundesrepublik wie schon in der Weimarer Republik die Beziehung zwischen Staat und Kirche eigenartig gestaltete. Prinzipiell strikte Trennung, in der Praxis aber enge Verzahnung durch rechtliche und fiskalische Privilegierung der Kirchen und Religionsgemeinschaften. Also weder die konsequente Trennung wie sie die USA kennen, noch gar der Laizismus als Programm wie in Frankreich. Durch die Ausführlichkeit, mit der Peter M. Huber auf Urteile und Gesetze der Gegenwart eingeht, kommt er etwas vom Thema ab. Er kann aber deutlich machen, in welchem Umfang sich die Lage der Kirchen infolge von Säkularisierung und Vordringen nichtchristlicher Religionen und Sekten im Vergleich zum ersten Drittel des 20. Jahrhunderts geändert hat. Also auch hier die Bestätigung einer These, die sich in fast allen Beiträgen findet: Verfassungen leben wesentlich von Voraussetzungen, die sie selbst nicht schaffen können.

 

Die Beiträge dieses Sammelbands sind nicht für ein Forschungskolloquium, sondern für eine breitere Öffentlichkeit konzipiert worden. Misst man sie daran, dann erfüllen sie ihren Zweck voll, informativ, anschaulich und gut verstehbar wichtige Entwicklungslinien der neueren deutschen Verfassungsgeschichte auszuziehen. Beeindruckend ist, dass die Rechtswissenschaftliche Fakultät der Universität Jena nur mit eigenen Kräften diese respektable Leistung erbracht hat (leider fehlen biografische Hinweise auf die Autoren). So erscheint es fast kleinlich, auf eine Anzahl sinnentstellender Druckfehler hinzuweisen: Die Weimarer Republik sei eine „Demokratie unter Demokraten“ gewesen; Reichsexekutionen seien „gegenüber rechtsbrechenden Ländern“ zur Anwendung gekommen; das Hilfsdienstgesetz sei 1919 verabschiedet worden.

 

Die Autoren sind sich darin einig, dass gar nicht so wenig von Weimar geblieben ist. Insgesamt wird die Verfassung dieser Republik erstaunlich wohlwollend bewertet. Vielleicht auch deswegen, weil Juristen viel mehr als die in dieser Hinsicht rigideren Historiker von der Frage umgetrieben werden, wie sich denn das Grundgesetz unter vergleichbaren Belastungen bewährt hätte.

 

Eichstätt                                                                                                         Karsten Ruppert