Akten der Reichskanzlei. Regierung Hitler 1933–1945

. Band 2 1934/35, bearb. v. Hartmannsgruber, Friedrich. Oldenbourg, München 1999. CII, 1263 S. Besprochen von Karsten Ruppert.

Akten der Reichskanzlei. Regierung Hitler 1933–1945. Band 2 1934/35, bearb. v. Hartmannsgruber, Friedrich. Oldenbourg, München 1999. CII, 1263 S.

 

Nach 27 Jahren ist 1990 das große Editionsunternehmen „Akten der Reichskanzlei : Weimarer Republik“ abgeschlossen worden. Die in den 23 Bänden veröffentlichte zentrale Quellengattung waren die Protokolle der Kabinettssitzungen der 20 Regierungen der ersten deutschen Demokratie. Angereichert mit Sachakten der Ressorts ist so der Forschung der Einblick in die wichtigsten politischen Entscheidungen und die Art, wie diese zustande gekommen waren, ermöglicht worden. Es lag daher nahe, das Unternehmen durch das Bundesarchiv und die Historische Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften weiter führen zu lassen, es also auf die Regierung Hitler auszudehnen. Mit den bereits 1983 erschienenen Bänden für die Jahre 1933/34 trug diese Überlegung erste Früchte.

 

Mit fortschreitender Sichtung der Archivalien wurde aber deutlich, dass sich der Kontinuitätsbruch und Systemwechsel nachdrücklich auch auf die Form des Regierens ausgewirkt hatte. Zunächst schlug sich der Führungsanspruch der NSDAP unter anderem darin nieder, dass sie als eine Art Nebenregierung in die Staatsverwaltung eingriff, die durch die fortgesetzte Schaffung von Kommissariaten als Instrumente des Maßnahmestaates zunehmend unübersichtlicher und durchlöcherter wurde. Schließlich verlagerten sich in Krieg und Vorkriegszeit immer mehr Entscheidungen in die militärischen Kommandostellen und wurde mit dem Terror und Unterdrückungsapparat ein neues Instrument der exekutiven Gewalt geschaffen.

 

Dass das bisherige Verfahren der Fondsedition aufgegeben werden musste, wurde aber am dringlichsten dadurch, dass das Kabinett im Laufe dieser Entwicklung rasch seine Bedeutung verloren hat, obwohl die einschlägigen Bestimmungen der Weimarer Reichsverfassung und selbst die Geschäftsordnung der Reichsregierung von 1924 nie aufgehoben worden sind. Hitler hatte von Anfang an eine Abneigung gegen Kabinettssitzungen, da er regelmäßige Arbeit und Aktenstudium ebenso wenig schätzte wie abweichende Meinungen und diskursive Entscheidungsfindung. Die Besprechungen zwischen Ministern und Kanzler fanden daher zwar, vor allem solange noch auf das einzig verbliebene Machtzentrum, den Reichspräsidenten, Rücksicht genommen werden musste, in gewohnter Weise statt, doch war deren Funktion nach und nach ausgehöhlt worden, wie F. Hartmannsgruber in seinem instruktiven Abriss zeigt. Spätestens zu dem Zeitpunkt, an dem die vorliegenden Bände einsetzen, nämlich im August 1934, hatte das Kabinett eine bestimmende Rolle in der Reichspolitik verloren. Die Sitzungen wurden immer seltener, bis sie nach dem Februar 1938 ganz aufhörten. Was damit verloren ging, zeigt sich schön an mehreren dokumentierten Fällen, in denen es der Ministerrunde gelungen war, Hitler selbst zur Rücknahme von Parteigenossen gemachten Zusagen zu bewegen.

 

Der Niedergang der Kabinettsregierung gab den Ressorts im Rahmen des geäußerten oder vermuteten Führerwillens einen größeren Handlungsspielraum. Zum anderen erhielt die Reichskanzlei vermehrte Bedeutung als Koordinationsstelle zwischen den Ressorts und als Vermittlungsinstanz zwischen diesen und dem „Führer und Reichskanzler“, der nach wie vor Chef der Staatsverwaltung war. Aus dieser Entwicklung haben Herausgeber und Bearbeiter die einsichtige Konsequenz gezogen, zwar auch weiterhin die Kabinettssitzungen zu dokumentieren, doch vermehrt sowohl der neuen Rolle der Reichskanzlei Rechnung zu tragen als auch auf die Sachakten der Ressorts zurückzugreifen. Dabei war es ein besonderer Glücksfall, dass die bisher in der ehemaligen Deutschen Demokratischen Republik verwahrte Masse der Ministerialakten noch vor Abschluss der Arbeit im Gefolge der Wende ins Bundesarchiv gelangte. Da nun das bisher vorrangige formale Auswahlkriterium (Kabinettsprotokolle) entfiel, stellte sich die Frage, was denn überhaupt gedruckt werden sollte, weitaus schwieriger. Die Entscheidung zugunsten der Sachkriterien: Gesetzgebungsarbeit der Ministerien, Koordinationsfunktion der Reichskanzlei und die Staatsverwaltung betreffende Anordnungen wie z. B. Erlasse des „Führers“ ist überzeugend. Denn hinsichtlich der Art wie der historisch-politischen Relevanz der Dokumente (wenn diese auch systembedingt geringer ist) bleibt der Zusammenhang mit den vorhergehenden Bänden gewahrt; und schließlich hat das bis zum bitteren Ende des „Dritten Reiches“ geplante Projekt dann auch noch einen vertretbaren Umfang.

 

Obwohl in die „Akten der Reichskanzlei“ wegen der parallelen Edition der Bestände des Auswärtigen Amts sinnvoller Weise so gut wie kein Schriftgut dieser Behörde aufgenommen wird, lassen sich in den Bänden für die Jahre 1934 und 1935 der gescheiterte Putsch in Österreich wie die ersten Erfolge der nationalsozialistischen Außenpolitik, insbesondere die Wiederherstellung der Wehrhoheit im Westen wie die Rückgliederung des Saargebiets, verfolgen. Wegen des hier gezeigten Entgegenkommens ging Hitler, für die Zukunft folgenreich, von einem schwachen Frankreich aus. Deutlich sind auch schon die ersten Maßnahmen der geheimen Aufrüstung, vor allem die Verlegung der relevanten Industrien ins Reichsinnere, fassbar wie ebenfalls die Irrungen und Wirrungen der letztlich erfolglosen Reichs- und Verwaltungsreform. Nur in den Kommunen kam man zum Ziel, weil sich hier die Chance bot, für den Führungsanspruch der Staatspartei, gegen den sich die Verwaltung sonst auf allen Ebenen wehrte, ein Ventil zu schaffen. Aufschlussreich spiegelt sich das Verhalten der Ministerialbürokratie bei der Ausgrenzung der jüdischen Bevölkerung bis hin zu den noch in den dokumentierten Zeitraum (August 1934 bis Ende 1935) fallenden Nürnberger Gesetzen. Es schwankte nämlich zwischen eifriger Zuarbeit und dem Versuch, durch Normierung den Diskriminierten wenigstens einen minimalen Schutz vor den wilden Ausschreitungen zu gewähren. In der Wirtschaftspolitik steht die Umstellung des deutschen Außenhandels auf Zweiseitigkeit und Tausch im Rahmen des „Neuen Plans“ im Mittelpunkt. Hier wie auch bei der für die Akzeptanz des Regimes so wichtigen Arbeitsbeschaffung wird Vieles durch den jetzt möglichen detaillierten Nachvollzug der Maßnahmen deutlicher.

 

Die Kommentierung der Texte ist kompetent und öfters eher zu ausführlich; die umfangreichen Register sind ebenfalls kaum zu kritisieren. In den kommenden Bänden sollte man aber dem Benutzer deren Auswertung wie auch die Lektüre von Text und Kommentar nicht weiterhin durch zu viele Abkürzungen erschweren, das Verzeichnis zählt rund 250! Nicht nachvollziehbar ist der gesonderte Abdruck der aufschlussreichen Notizen des Staatssekretärs der Reichskanzlei über seine Vorträge bei Hitler am Ende des zweiten Bandes. Denn diese werden so ohne Grund aus ihrem zeitlichen und sachlichen Zusammenhang gerissen. In den früheren Bänden wurden die Mitglieder der Reichsregierung in kurzen Artikeln vorgestellt. Darauf wurde hier ohne Begründung verzichtet. Wenn man dabei bleiben will, so wäre doch zu überlegen, ob nicht wenigstens die biografischen Grunddaten zu den Beamten der Reichskanzlei mitgeteilt werden, da diese kaum bekannt sind, jetzt aber an der Entstehung von Gesetzen und Erlassen erkennbarer mitgewirkt haben.

 

Eichstätt                                                                                                         Karsten Ruppert