Erkens, Franz-Reiner, Kurfürsten und Königswahl
Erkens, Franz-Reiner, Kurfürsten und Königswahl. Zu neuen Theorien über den Königswahlparagraphen im Sachsenspiegel und die Entstehung des Kurfürstenkollegiums (= Monumenta Germaniae Historica Studien und Texte 30). Hahnsche Buchhandlung, Hannover 2002. XXIX, 125 S.
In höchst prominentem Rahmen, quasi vom Areopag der deutschen Mediävistik, verteidigt Erkens die traditionelle „Erzämtertheorie“, die das Königswahlrecht der Kurfürsten mit dem Besitz der (Erz)Ämter begründet. Er weiß, daß der Begriff Erzamt zwar erst eine Schöpfung des 14. Jahrhunderts war, benutzt ihn aber als „wissenschaftlichen Hilfsbegriff“ auch für das 13. Jahrhundert (S. 11)[1].
Sein Buch wendet sich insbesondere gegen die „erbrechtliche Theorie“, die das Wahlrecht der weltlichen Königswähler und der späteren Kurfürsten auf eine qualifizierte königliche Abstammung zurückführt[2]. Zunächst ist festzuhalten, daß Erkens diese Auffassung – trotz seiner Gegnerschaft – sachlich und im wesentlichen richtig wiedergibt (S. 7-11). Er tut dies in einer noblen und Verletzung meidenden Weise, was ich hervorheben möchte, weil dies heute nicht immer üblich ist. Die Kritik der „erbrechtlichen Theorie“ und die Verteidigung der „Erzämtertheorie“ folgt dann im Rest des Buches[3]. Hier sollen vor allem die verschiedenen Punkte dieser Kontroverse behandelt werden.
1. Der Kurfürsten- oder Königswahlparagraph
Erkens geht von der „erstmaligen Erwähnung“ der Erzämtertheorie „durch Eike von Repgow um 1235“ aus (S. 87). Der Sachsenspiegel zählt nämlich im Landrecht (III 57 § 2) die drei rheinischen Erzbischöfe unter den geistlichen, sowie den Pfalzgrafen als Truchseß, den Herzog von Sachsen als Marschall und den Markgrafen von Brandenburg als Kämmerer des Reiches unter den weltlichen Fürsten als die jeweils drei êrsten an deme core auf (Erkens nennt sie auch Erstkieser). Der Schenke des Reiches, der König von Böhmen habe jedoch kein Wahlrecht, weil er nicht deutsch ist (durch daz her nicht dûdisch nis). Nach den Ersten schließen sich die anderen Fürsten der Kur an.
Die Datierung dieser Stelle ist für das Problem der Entstehung des Kurfürstenkollegs und auch in Erkens’ Werk zentral. Sie wird von Bernward Castorph und vom Rezensenten für eine Interpolation zur Zeit der Wahl Rudolfs von Habsburg 1273 gehalten[4]. Für Erkensspricht jedoch nichts dagegen, daß sie „tatsächlich von Eike selbst stammt“ (S. 94), also schon 1220/35 entstanden ist.
Erkensweiß, daß es nur wenige Sachsenspiegel-Handschriften aus dem 13. Jahrhundert gibt, „letztlich sogar nur zwei, die den ganzen Text einschließlich der Königswahlbestimmungen enthalten“ (S. 15-16). Beide stammen erst vom Ende des 13. Jahrhunderts bzw. von 1295. Erst aus dem 14. Jahrhundert und aus dem 15. Jahrhundert sind Hunderte von Handschriften bekannt. Er bemerkt daher zu Recht, daß „die erst späte handschriftliche Überlieferung des sächsischen Rechtsbuchs“ eine Interpolation um 1273 zuläßt, hält aber dennoch an der „Integrität des Sachsenspiegels hinsichtlich des Kurfürstenparagraphen“ fest, was für ihn „mehr ist als eine Prämisse“ (S. 94). Da der Sachsenspiegel – ebenso wie der Schwabenspiegel – den Ausdruck kurfursten noch nicht kennt, spricht Erkens zu Recht meistens vom „Königswahlparagraphen“.
2. Der andere Königswahlparagraph
Erkens nennt sowohl im Buchtitel als auch in seiner Text-Synopse (S. 116-118) nur „den Königswahlparagraphen“, während es deren im Landrecht des Sachsenspiegels doch zwei gibt. Ich werde daher im folgenden vom 1. Königswahlparagraphen (Landrecht III 52 § 1) und vom 2. Königswahlparagraphen (Landrecht III 57 § 2) sprechen. Erkens läßt in seiner Synopse (S. 116) den 1. Königswahlparagraphen weg und erklärt nicht den Widerspruch, der entstünde, wenn beide von Eike stammten.
Erkens nennt zwar die Interpolation des 2. Königswahlparagraphen „eine unbewiesene Behauptung“ (S. 94), widerlegt aber nicht die Argumente, die für dessen erheblich spätere Datierung sprechen. Der 1. Königswahlparagraph, in dem generell di Dûdischen durch recht den kuning kiesen sollen, geht unbestritten auf Eike zurück. Im 2. ist dagegen von des keyseres core die Rede. Schon dieser Unterschied von König und Kaiser deutet auf verschiedene Textschichten. Das Hauptargument ist: Der 1. Königswahlparagraph war in der Entstehungszeit von Eikes Sachsenspiegel (1220/35) zeitgemäß. Der 2. Königswahlparagraph zählt jedoch diejenigen Wähler auf, die in genau dieser Zusammensetzung erstmals 1273 einen König wählten. Auch der darin behauptete Ausschluß des Böhmen, der 1198/99, 1237, 1252 und 1257 an den Wahlen teilnahm, trifft erst auf die Wahl von 1273 zu, nicht aber früher. Außerdem wäre es verdächtig, wenn schon Eike Sachsen und Brandenburg als „Erstkieser“ genannt haben sollte, obwohl doch „in der ersten Hälfte des 13. Jahrhunderts die Repräsentanten beider Fürstentümer tatsächlich bei den meisten (die Brandenburger wahrscheinlich sogar bei allen) Wahlen“ fehlten (S. 80). Aus all diesen Gründen ist der 2. Königswahlparagraph 1220/35 anachronistisch, 1273 entspricht er jedoch der Verfassungswirklichkeit. Auffällig ist ferner, daß die weltlichen Königswähler ihre im 2. Königswahlparagraphen genannten Ämter erst seit 1277 und zunächst nur gelegentlich als Titel in Urkunden führen, anfänglich lediglich die drei Fürsten aus dem Osten des Reiches, erst im 14. Jahrhundert auch der rheinische Pfalzgraf.
Ein frühes Berliner Sachsenspiegel-Fragment[5] enthält zwar den 1., nicht aber den umstrittenen 2. Königswahlparagraphen, und eine Handschrift aus Burg läßt gerade „alle staatsrechtlichen Stellen fort“. Auch die älteste Handschrift des Schwabenspiegels (Laßberg) von 1287 enthält zwar die Stelle, die dem 1., nicht aber diejenige, die dem 2. Königswahlparagraphen entspricht. Diese Textverluste können auf eine merkwürdige Häufung von Zufällen zurückgehen, könnten aber auch Indizien dafür sein, daß die verfassungsrechtlichen Passagen im Laufe des 13. Jahrhunderts einer veränderten Wirklichkeit angepaßt wurden. Eine „Manipulation“ (S. 94) wäre dies nicht.
Schon Hans-Georg Krause stellte fest, daß man „zu einem immer knapperen und immer klareren Text gelange“, je weiter man die Entstehung des Sachsenspiegels zurückverfolge[6]. Jedenfalls sind mehrere späteren Ergänzungen in den Rechtsbüchern nachweisbar, wie eine Synopse der ältesten Handschriften zeigt[7]. Erkens’ Synopse rekonstruierter Fassungen (S. 116-120) macht dies weniger deutlich. Im folgenden sollen weitere Texte oder Umstände behandelt werden, die für den Streit um die Datierung des 2. Königswahlparagraphen und für die Entstehung des Kurfürstenkollegs wichtig sind.
3. Auctor vetus
Erkens erwähnt zwar die Stelle in Eikes um 1220 entstandenem lateinischem Ur-Sachsenspiegel (Auctor vetus), in dem von sechs (nicht sieben!) Fürsten die Rede ist, „die die Ersten (primi) in der Kur (in electione) sind“ (S. 18f.). Er verschweigt aber, daß die Wähler hier noch die Teutonici - ebenso wie im 1. Kurfürstenparagraphen die Dûdischen - generell sind. Hier wird von den sechs Fürsten verlangt, daß sie den gewählten König nach Rom begleiten sollen, um dessen rechtmäßige Wahl dem Papst zu bezeugen. Hier steht noch nichts davon, daß die sechs Ersten bestimmte oder gar die (später) im 2. Königswahlparagraphen genannten Fürsten sein sollten. Dies wäre auch aus zwei Gründen anachronistisch. Denn die Romfahrten, auf die sich Eike um 1220 als Präzedenzfälle berufen konnte, waren zwar immer von (wenigstens) sechs Fürsten begleitet, aber niemals von den späteren sechs bzw. sieben Kurfürsten. Die Zusammensetzung der Begleiter war jedesmal eine andere[8]. Außerdem hatte der Markgraf von Brandenburg an keiner der vier letzten vorausgehenden Romfahrten zur Kaiserweihe (1220, 1209, 1191, 1159) teilgenommen. Er wäre 1220 auch noch kaum einer der drei ersten weltlichen Wähler gewesen; denn bei der Wahl Philipps von Schwaben 1198/99 rangierte er unter dessen Anhängern nicht an 3. oder 4., sondern erst an 8. Stelle (Q 11).
Erkens verschweigt weiterhin, daß in der ursprünglichen deutschen Übersetzung des lateinischen Sachsenspiegel-Lehnrechts, die sich im Görlitzer Rechtsbuch erhalten hat und die er durchaus kennt (S. 68 Anm. 379), die Aufzählung von sechs bestimmten Wählern ebenfalls noch nicht enthalten ist: Swenne ein kunnich, der gecorn von duschin herrin zu Rome verit nach der wihe, so sulin durch recht mit ime varin ses vorstin, die die erstin sint an siner core, daz deme babiste offinbare si diu rechte core des kuniges.“[9] Stattdessen zitiert Erkens (S. 30f.) den erst aus zwei Handschriften vom Jahre 1295 bzw. vom Ende des 13. Jahrhunderts stammenden Text, den er als „1. Fassung = Urtext“ bezeichnet (S. 119)[10]. Dabei nennt er in Spitzklammern auch schon die Ämter, die erst in der „dritten Fassung“ eingefügt wurden (S. 120). Von diesem Text, in dem die sechs ersten Wähler Rudolfs von Habsburg von 1273 aufgezählt sind, behauptet er ohne weiteren Beweis, daß diese Version „wenige Jahre nach der lateinischen Fassung“, d. h. bald nach 1220, entstanden sei (S. 30).
Das ist aber sehr unwahrscheinlich; denn weder wird der zweifache Anachronismus widerlegt noch das Fehlen im Görlitzer Rechtsbuch erklärt. Die Entstehungszeit des 2. Königswahlparagraphen schon 1220/35 ist also viel weniger wahrscheinlich als um 1273.
4. Voraussetzung der Erzämtertheorie
Einigkeit besteht darüber, daß die Ablehnung des Wahlrechts des Schenken im 2. Königswahlparagraphen die Erzämtertheorie bereits voraussetzt (S. 12, 88). Über diesen Anfängen liegt freilich „viel Dunkel“ (S. 89, auch 87). Eike (ich ergänze: oder der Interpolator) ist „keinesfalls der Schöpfer dieser Theorie gewesen; er hat sie lediglich aufgegriffen.“(S. 88) Daß sie während des Thronstreits von 1198 im Umfeld des Kölner Erzbischofs Adolf von Altena formuliert wurde, bezeichnet Erkensals eine „ansprechende Vermutung“ seines Lehrers Egon Boshof, „die jedoch nicht mit letzter Sicherheit bewiesen werden kann“ (S. 89). Daß die „Erzämter schon um 1200 in den Familien der vier späteren Kurfürsten aus dem Laienstand erblich gewesen“ seien, was für Boshofeine zwingende Voraussetzung für „eine kausale Verknüpfung von Erzamt und Erstkurrecht“[11] war, kann nach Erkens„ebensowenig ... sicher nachgewiesen werden“ (S. 89, auch 66). Es gibt jedenfalls keinen Text, der die Erzämtertheorie vertritt und älter als der Eikesche Sachsenspiegel ist.
Die Vorstellung von einer Verbindung der Wahlberechtigten mit den (Erz)Ämtern ist vielmehr erst in der Papst-Kaiser-Chronik Martins von Troppau (1268/71) nachweisbar (Q 52). Da ein solcher Text vom 2. Königswahlparagraphen vorausgesetzt wird (S. 12, 88), wird dieser viel wahrscheinlicher erst um 1273 als schon zur Zeit Eikes entstanden sein. Festzuhalten ist dabei auch, daß sowohl die Papst-Kaiser-Chronik als auch der 2. Königswahlparagraph noch keine Kausalität zwischen Wahlrecht und (Erz)Amt kennt.
5. Die Braunschweiger Wahl 1252
Den „Durchbruch“ der Erzämtertheorie bildet für Erkens „zweifellos die Braunschweiger Nachwahl von 1252“ (S. 96). Damals gaben der Herzog von Sachsen und der Markgraf von Brandenburg ihre Stimme für Wilhelm von Holland ab. Weil diesen beiden Fürsten im 2. Königswahlparagraphen des Sachsenspiegels „eine herausgehobene Rolle als Erstkieser zugewiesen wird,“ vermutet Erkens, die hier „sichtbar werdenden Vorstellungen seien von Eikes Rechtsbuch beeinflußt worden.“ (S. 73-74). Erkens setzt also voraus, daß der Sachsenspiegel wie ein modernes Gesetz Rechtsänderungen erwirken konnte und nicht umgekehrt die bestehende Wirklichkeit spiegelte, wie es die Reimvorrede nahelegt. Außerdem hatten beide Fürsten schon an der Wahl von 1198/99 teilgenommen (Q 11). Ihr Wahlrecht bedurfte also nicht des 2. Königswahlparagraphen des Sachsenspiegels.
Für dessen frühe Existenz zieht Erkensauch das Braunschweiger Fürstenweistum von 1252 heran, das Hostiensis als Teilnehmer der Versammlung in einer Glosse zu Imperatorum vel regum überliefert (Q 44). Das Weistum beruht „offenkundig auf den im Sachsenspiegel vertretenen Ansichten und greift vielleicht sogar unmittelbar auf den Text selbst zurück“ (S. 74). Erkenshat aber übersehen, daß diese Glosse des Hostiensis zweifellos nur von dem unstreitig echten 1. Königswahlparagraphen abhängt[12], in keiner Hinsicht aber von dem im Alter umstrittenen 2. Königswahlparagraphen. Sie kann also gar nicht als Argument für dessen Alter dienen.
6. Rezeption des Sachsenspiegels Fernerhin beruft sich Erkens auf eine „nach 1250 einsetzende breitere Rezeption des Sachsenspiegels und einzelner seiner Bestimmungen“, die „nicht ohne Folgen für die Entstehung und Durchsetzung des kurfürstlichen Wahlrechtes“ gewesen sei (S. 16-17, ähnlich 89). Für die „breitere“ Rezeption des Sachsenspiegels gibt es lediglich drei Zeugnisse:
Im Jahre 1235 haben ihn die Schöffen von Halle für eine lateinische Rechtsmitteilung nach Neumarkt in Schlesien benutzt, im Jahre 1261 die Schöffen von Magdeburg für eine Rechtsmitteilung in deutscher Sprache nach Breslau. Das Hamburger Ordeelbook von 1270 kennt den Sachsenspiegel ebenfalls. Dies sind sämtliche Belege für eine Wirkung des Sachsenspiegels vor der Wahl Rudolfs von Habsburg 1273. Keiner davon bezeugt aber, daß der 2. Königswahlparagraphen vor 1273 im Sachsenspiegel schon vorhanden gewesen sei. Die Rezeption des Sachsenspiegels „seit den fünfziger Jahren des 13. Jahrhunderts“ kann also nicht erweisen, daß damals auch die Erzämtertheorie „ihre volle Wirkung entfalten“ konnte (S. 89).
Nach Erkens haben bei den Königswahlen von 1257, obwohl bei den Vorverhandlungen noch weitere Fürsten tätig geworden waren, „nur noch die sieben im Sachsenspiegel genannten Erstkieser ihre Stimme“ abgegeben (S. 75, ebenso 97). Daß die bekannten sieben späteren Kurfürsten an den zwei Wahlen von 1257 beteiligt waren, wird nicht bestritten, wohl aber, daß die zwei gegnerischen Wählergruppen bereits als abgeschlossenes Kurfürstenkolleg konstituiert gewesen wären.
Die einzigen sicher vor 1273 zu datierenden Nennungen von sieben Königswählern – der Entwurf von Qui celum 1263 (Q 49, Handschrift 1280/81), die Glosse des Hostiensis zu Venerabilem vor 1271 (Q 51) und die Papst-Kaiser-Chronik Martins von Troppau um 1268/71 (Q 52) – sind mit Sicherheit nicht vom Sachsenspiegel abhängig. Sie sind alle an der Kurie entstanden und gehen auf den ergebnislosen Prozeß zurück, den die von zwei zerstrittenen Wählergruppen 1257 gewählten beiden Könige vor der Kurie 15 Jahre lang ohne Ergebnis führten. In Deutschland ist ihre Wirkung erst 1273/75 anzunehmen. Leider ist der Text der Aufforderung des Papstes an deutsche Fürsten zur Neuwahl eines Königs 1273 nicht erhalten.
Wie Erkens ausführt, habe „nach 1265“ ein Bemühen um eine oberdeutsche Adaption und Anverwandlung des Sachsenspiegels eingesetzt. „Um 1270“ habe die Rezeption des Sachsenspiegels im oberdeutschen Raum begonnen. Wie Erkensselbst bemerkt, liefert „den ersten Beleg dafür“ jedoch erst der 1274/75[13] entstandene Deutschenspiegel (S. 19). Die Rezeption vor 1273 ist also eine petitio principii. Dennoch fällt unter den Einschränkungen „wenn“, „vielleicht“ und „offenkundig“ für Erkens „die Annahme schwer, nach dem Oktober 1273 könne ein Interpolator den 2. Kurfürstenparagraphen in ein Exemplar des Sachsenspiegels eingefügt haben, das dann unmittelbar zur Vorlage für eine oberdeutsche Übersetzung (eigene Anm. Erkens: Die oberdeutsche Sachsenspiegelüberlieferung ist freilich nicht überliefert) und sofort anschließend im Deutschenspiegel wie im Schwabenspiegel nachwirkte ...“ (S. 20, ähnlich im Resumée 94). Dieses „unmittelbar“ und „sofort“ umfaßt bis zum Abschluß des Schwabenspiegels 1275/76 nicht nur „wenige Monate“ (S. 94), sondern immerhin zwei bis drei Jahre. Ein solcher Prozeß ist daher nicht nur „theoretisch denkbar“ (S. 21), sondern auch praktisch möglich.
Im Anschluß an die Wahl Rudolfs von Habsburg im Oktober 1273 wird daher der 1. Königswahlparagraph Eikes um den jetzt erstmals aktuellen 2. Königswahlparagraphen ergänzt worden sein. Der Wunsch, die Rechtmäßigkeit der Wahl Rudolfs und den Ausschluß des Böhmen, gegen den dann sogar Krieg geführt wurde, abzusichern, sind als die von Erkensvermißten „Motive für eine Interpolation“ (S. 22) wohl hinreichend.
7. Exklusivität von sieben Königswählern
Den Beginn der Exklusivität von sieben Wählern datiert Erkens teilweise widersprüchlich. An einer Stelle nimmt er eine „schon um 1252/57 zum Abschluß gekommene Entstehungsgeschichte des Kurfürstenkollegs“ an (S. 97). An einer anderen Stelle schreibt er, die Quellen ließen „schon zwischen 1257 und etwa 1270 das alleinige Wahlrecht der sieben Kurfürsten erkennen“ (S. 94). Nach einer dritten Stelle hat „frühestens im Jahre 1257 und spätestens im Jahre 1273 das exklusive Königswahlrecht der sieben Kurfürsten“ gestanden (S. 54). Dementsprechend habe 1273 „die Königswahl schon als Exklusivrecht der Kurfürsten“ gegolten (S. 71). M. E. liegen alle diese Daten zu früh.
Abgesehen von dem von mir auf 1273 datierten 2. Königswahlparagraphen im Sachsenspiegel geht in Deutschland sogar noch der 1274/75 verfaßte Deutschenspiegel von den 2 mal 3 Erstkiesern, vom Ausschluß des Böhmen und von anschließender allgemeiner Fürstenwahl aus. Erkens selbst erkennt an einer fünften Stelle, daß erst der 1275/76 entstandene Schwabenspiegel „völlig andere Verhältnisse, nämlich ein exklusives Wahlrecht der <Kurfürsten> belegt“ (S. 37).
Dieser Textbefund führt m. E. zu dem Schluß, daß in Deutschland zwischen dem Deutschenspiegel und dem Schwabenspiegel, d. h. 1275, ein entscheidender Schritt zur Exklusivität von sieben Königswählern vorgenommen wurde.
Es läßt sich sogar über den Anlaß zu diesem Schritt spekulieren: Im Februar 1275 weilte eine Gesandtschaft König Rudolfs von Habsburg beim Papst in Lyon, um über eine vorgesehene Kaiserkrönung in Rom zu verhandeln. Dort war auf dem Konzil nur wenige Monate zuvor das Papstwahldekret Ubi periculum erlassen worden. Ist es denkbar, daß der Papst in den Verhandlungen mit der Gesandtschaft sein Interesse bekundete, daß die Zahl der deutschen Königswähler verbindlich festgelegt werde? Ich weiß, dies steht nicht in den „Quellen“ (eine Festlegung zwischen 1252 und 1257 aber auch nicht). Immerhin vertrat die Kurie schon 1202 und 1234 die Auffassung, daß der apostolische Stuhl den deutschen Fürsten das Königswahlrecht übertragen habe (Q 15, Q 31), so dass sie aus ihrer Sicht ein solches Ansinnen für berechtigt halten konnte.
Auffällig ist jedenfalls, daß nach der Rückkehr der Gesandtschaft auf dem Hoftag in Augsburg im Mai 1275 erstmals die Siebenzahl der Wähler in einem in Deutschland entstandenen Dokument (bei der königlichen Anerkennung des Wahlrechts des Herzogs von Baiern) erscheint (Q 60). Der – ebenfalls in Augsburg entstandene – Schwabenspiegel (1275/76) nahm daraufhin an den entsprechenden Stellen wesentliche Änderungen gegenüber dem Sachsenspiegel und dem Deutschenspiegel vor und schrieb die Exklusivität der Königswähler fest: Wählen sollten jetzt drei Geistliche und vier Laien, darunter der Herzog von Baiern, also insgesamt sieben, aber noch nicht die späteren Kurfürsten (zu denen ja der Böhme statt des Baiern zählte). Die übrigen Fürsten wurden nicht mehr erwähnt. Die Warnung vor dem Mutwillen der êrsten an deme core wurde ersetzt durch die Folgepflicht der Minderheit an die Mehrheit. Daz ist an aller chur recht.
Es dauerte bis 1289/90, bis der Böhme wieder als Wähler anerkannt wurde[14] und bis zur zweiten Wahl Albrechts von Österreich 1298, bis das bekannte siebenköpfige Kurfürstenkolleg unter Ausschluß anderer zu einer gemeinsamen Wahl schritt. Dabei hatte der Baier noch bei der Absetzung König Adolfs (Q 73) und der ersten Wahl Albrechts mitgewirkt.
8. Stader Annalen Einigkeit besteht darüber, daß die „Erzämtertheorie“, insofern sie das Königswahlrecht kausal vom (Erz-)Amt abhängig macht, erstmals in den Annales Stadenses bezeugt ist (S. 11). Strittig ist jedoch das Datum der betreffenden Stelle (Q 80). Gegen eine Entstehung zu Lebzeiten Alberts von Stade († um 1265) spricht, daß der Böhmenkönig an den Wahlen von 1237, 1252 und 1257 teilgenommen hatte, sein Wahlrecht in den Annales Stadenses jedoch ausgeschlossen wird. Die mit electio beginnende Stelle weist auch typische Merkmale einer nachträglichen Randglosse auf, indem sie mit dem Wort electio beginnt und das Wort electio im Haupttext erklärt.
Obwohl die Stelle auch auf Erkens „in Alberts Darstellung holprig und zusammengestückelt wirkt“ (S. 23), denkt er doch daran, daß Albert selbst die Stelle eingefügt habe (S. 24). Er argumentiert dabei „für deren Authentizität“ mit dem bisher kaum beachteten Absatz über den Trierer Erzbischof, der zwar nicht de Alemannia sei, aber dennoch das Wahlrecht habe. Dies deute auf eine „frühe (d. h. vor 1270 zu datierende) Entstehung der Kurfürstenpassage“. „Spätestens seit 1270“ habe nämlich die Erzämtertheorie „zur Begründung auch des trierischen Rechtes“ gedient; deswegen hätte man danach nicht mehr auf die frühe Geschichte von Trier zurückgreifen müssen (S. 25-26). Der älteste – und für lange Zeit einzige – Beleg für eine kausale Begründung (quia) des Kurrechts mit dem (Erz)amt ist aber doch gerade die Stelle in den Annales Stadenses. Deren behauptetes Alter kann daher nicht zur Datierung der kausal verstandenen Erzämtertheorie und diese dann zur Datierung der Stelle in den Stader Annalen herangezogen werden. Ein perfekter Zirkelschluß! Immerhin will Erkens „keinesfalls die Authentizität“ der Stelle verkünden (S. 25).
Einigkeit besteht darüber, daß diese Stelle „die Kenntnis der Königswahllehre des Sachsenspiegels“ voraussetzt (S. 6) und in einer „unverkennbaren Abhängigkeit“ von dem 2. Königswahlparagraphen steht (S. 23-24). Daher hängt das Datum der Königswählerstelle in den Stader Annalen von der Datierung des 2. Königswahlparagraphen im Sachsenspiegel ab. Wenn dieser wirklich von Eike stammen sollte (1220/35), kann jene auf Albert von Stade zurückgehen, wenn sie jedoch erst um 1273 interpoliert wurde, muß jene ebenfalls jünger sein.
9. Lütticher Gesta abbreviata
Auch die Nennung von sieben electores in den Lütticher Gesta abbreviata kann nicht dazu dienen, die Autorschaft Eikes am 2. Königswahlparagraphen, also ein Entstehen vor 1235 zu belegen. Erkensweist zwar darauf hin, daß Albert von Orval seine Geschichte der Lütticher Bischöfe 1251 abschloß und daß sogar „das Original der Handschrift“ erhalten geblieben sei. Er betont auch, daß Teile des mittelalterlichen Manuskripts in MGH SS 25 faksimiliert sind (S. 26), hat aber übersehen, daß dort nur Seiten der Gesta und der Vita Alberti abgebildet sind. Die Gesta abbreviata, in der sich die entscheidenden Stellen (Q 3 und Q 66) finden, sind dagegen nur in einer einzigen Handschrift des 16. Jahrhunderts überliefert (Brüssel Bibl. Roy. 19627). Eine Datierung ist also durch den Handschriftenbefund gar nicht zu begründen.
Die sieben Wähler stehen in der Partie zu Karl den Großen, während der Text zu 1195/96 die Zahl von 52 wahlberechtigten Fürsten nennt. Dies spricht für eine spätere Einfügung der Sieben-Wähler-Stelle. Die von Max Buchner und anderen vermutete Abhängigkeit von der um 1270 geschriebenen Glosse des Hostiensis zu Venerabilem (Q 51) wird von Erkensabgelehnt (S. 27). Weil die Reihe der Wähler – wie in der ältesten Handschrift des Sachsenspiegels – mit dem Erzbischof von Trier beginnt, erwägt er „eine Kenntnis des Sachsenspiegels“, die er freilich „nicht mit Sicherheit behaupten“ will (S. 28). Abgesehen davon, daß Orval zum Sprengel des Erzbischofs von Trier gehörte, was dessen Nennung an erster Stelle hinreichend begründete, wäre zu erklären, warum von dem Ausschluß des Böhmen bei der Kur im Sachsenspiegel in den Gesta abbreviata gar nichts übrig geblieben ist.
Die angebliche Abhängigkeit von dem 2. Königswahlparagraphen im Sachsenspiegel kann daher nicht dazu dienen, die Sieben-Wähler-Stelle in den Gesta abbreviata „wohl in das dritte Viertel des 13. Jahrhunderts“ (S. 27), zu datieren, d. h. 1250-1275, bzw. „um 1260“ (S. 30) und erst recht nicht, eine Spätdatierung des 2. Königswahlparagraphen im Sachsenspiegel 1273 zu widerlegen; denn dies wäre wiederum ein Zirkelschluß: Die Frühdatierung des 2. Königswahlparagraphen wird vorausgesetzt, um die Stelle in den Gesta abbreviata zu datieren; und deren Datierung soll wieder dazu verhelfen, die angeblich breite Rezeption des 2. Königswahlparagraphen im Sachsenspiegel schon vor 1273 zu begründen.
10. Kaiserrecht Die Wirksamkeit der Erzämtertheorie führt Erkens auf die angeblich „um 1250“ einsetzende „breite Rezeption“ des Sachsenspiegels zurück, der „dabei zugleich und zunehmend auch als kaiserliches Gesetzbuch betrachtet“ worden sei und dadurch eine „ungeheure Autorität“ gewonnen habe (S. 97, ähnlich 82).
„Noch vor der Königswahl von 1273“ habe eine „Umdeutung der ursprünglich privaten Arbeit zu einem Werk des <Kaiserrechts>“ geführt (S. 81). Doch belegen die dafür in Anm. 460 genannten Gewährsleute eine solche frühe Datierung keineswegs. Nach Hermann Krause wurde der Sachsenspiegel erst „seit dem 14. Jahrhundert“ für ein Werk Karls des Großen gehalten. Winfried Trusen belegt die Auffassung, im Sachsenspiegel liege Kaiserrecht vor, ganz unzureichend mit einem Zitat aus dem Magdeburger Weichbildrecht, dessen genaue Datierung „noch unsicher“ sei, sowie mit den Bilderhandschriften, deren Archetyp erst 1292/95 entstand. Karl Kroeschell verweist auf Krause.[15]
Die Auffassung von der Geltung der deutschen Rechtsbücher als königliches Recht ist also zuerst nach 1273, d. h. nach dem sogenannten Interregnum, nämlich in der Vorrede zum Deutschenspiegel und dann im Schwabenspiegel als Kaiserrecht bezeugt (S. 82)[16].
11. Fehlender Protest
Erkenswendet sich gegen das Vorliegen einer Verfassungsreform des Heiligen Reiches (sacri status imperii reformacio) bei der Wahl Albrechts von Österreich 1298, weil er einen „Protest der übrigen, nun ihres Wahlrechts beraubten Fürsten“ vermißt (S. 34). Doch haben die Herzöge von Sachsen-Lauenburg, die nicht wie ihre Wittenberger Vettern von Rudolf von Habsburg abstammten, noch 1298 und 1301 protestiert, dann wieder 1314 und 1349 (konkludent durch Teilnahme an Gegenkönigswahlen) und erneut 1361 gegen ihre Nichtberücksichtigung in der „Goldenen Bulle“. Herzog Ludwig der Baier hatte bei der Absetzung Adolfs 1298 seine Zugehörigkeit zum collegium der wahlberechtigten Fürsten behauptet und sich 1314 zum Gegenkönig wählen lassen. Bis zu ihrer 1623 endlich erworbenen Kurwürde haben die Herzöge von Baiern wiederholt ihren Anspruch verfolgt. Die Wettiner waren offenbar durch den Verlust der sächsischen Pfalzgrafschaft 1291, Meißens und Thüringens 1294 ausgeschieden.
12. Spuren im Gedächtnis Erkens meint auch, „Schaffung und Verkündung eines neuen Rechts im Jahre 1298 sollten eigentlich deutlichere Spuren im Gedächtnis der Zeitgenossen zurückgelassen haben“ (S. 34). Immerhin wurde die erste Urkunde, die von allen sieben Kurfürsten – keinem mehr und keinem weniger – besiegelt wurde, anläßlich der zweiten Wahl Albrechts ausgestellt. Es haben sich auch die 1298 erstmals auftretenden Bezeichnungen kurfursten und collegium im deutschen Sprachgebrauch bis heute erhalten. Seitdem, zuerst wohl schon 1299, gibt es in zahlreichen Rathäusern und an anderen Stellen bildliche Darstellungen des Königs mit den sieben Kurfürsten (und nicht nur mit 2 x 3 êrsten an deme core wie zuvor schon am alten Aachener Rathaus und im Archetyp der Bilderhandschrift des Sachsenspiegels von 1292/95). Die Colmarer Chronik vermerkte, daß auf Albrechts erstem Hoftag 1298 in Nürnberg das Ehrenamt jedes der Kurfürsten feierlich vorgetragen und ausgeübt wurde. Johann von Viktring erinnerte sich noch Jahrzehnte später, daß damals zum ersten Mal seit Menschengedenken alle Wähler, nämlich die bekannten Sieben, beisammen waren (Q 81). Im Liber Sextus von 1298 hieß es nur allgemein, daß jene, denen im Reich das Recht zur Wahl zusteht, den Nachfolger frei wählen sollen (VI 2.14.2 De sententia et re iudicata). Aber schon 1301 oder kurz danach fügte Ioannes Andreae im Kommentar die Namen aller sieben Kurfürsten – nicht aber ihre offenbar als sekundär betrachteten (Erz-)Ämter! – hinzu. Papst Bonifaz VIII. erklärte 1300 gegenüber den einzelnen Kurfürsten, daß der apostolische Stuhl ihnen das Wahlrecht übertragen habe, und Albrecht von Österreich war der erste König, der dies gegenüber der Kurie 1303 ausdrücklich anerkannte. Dieses Ereignis wurde noch im 17. Jahrhundert im päpstlichen Archiv in einer Serie von Fresken, die den Erwerb der wichtigsten Rechte des Heiligen Stuhls darstellte, im Bild verewigt. Hier scheinen mir deutlichere „Spuren“ vorzuliegen als nach dem angeblichen „Durchbruch“ von 1252 (S. 96).
13. Hákonar saga Hákonarsonar
In der Hákonar saga Hákonarsonar wird der Herzog von Sachsen als „einer der sieben Männer, die den Kaiser wählen sollten“ bezeichnet. Gegen meine Feststellung, daß diese Partie nicht zu dem 1265 datierten Teil der Saga gehört, sondern zu einem der anschließenden letzten Kapitel und daß sie wohl 1275/79 (spätestens vor Sturlas Tod 1284) entstanden ist, argumentiert Erkensmit der traditionellen Datierung aus einem Lexikon, das vier Jahre vor meinem Aufsatz erschienen ist, und einem Buch, in dem dieser gar nicht diskutiert wird. Der von Erkens ebenfalls zitierte Hans-Joachim Schmidt und andere Kenner der altnordischen Literatur haben der Spätdatierung zugestimmt. Magnús Stefansson von der Universität Bergen teilte mir sogar mit, daß man die Partie noch genauer auf 1278/84 datieren könne.
14. Fürstenlob
Als letzten Trumpf für die Frühdatierung des 2. Königswahlparagraphen spielt Erkensdas Fürstenlob aus dem Wartburgkrieg aus, das er „nach 1257 und zwar am ehesten um 1260“ datiert. Die Stelle lasse „kaum mehr Raum für Zweifel an einer vor 1273 existierenden siebenköpfigen Gruppe von Königswählern“ (S. 33). Die Argumente in der unsicheren Datierung des Fürstenlobs nennt Erkensnicht, er weist nur auf verschiedene Datierungen in der Literatur hin (Albert Rompelmann 1939: „etwa 1230“, Burghart Wachinger 1973: „1246/48 bis 1289, am ehesten um 1260“, derselbe 1999: „etwa 1250 bis 1289“). Die Stelle kann also durchaus nach 1275 entstanden sein. Sie lautet: Siben vürsten sint des vert, daz in ein roemisch küninc ist ze welenne benan t... Sie ist also zweifellos ein Beleg für die Siebenzahl der Königswähler, sagt aber nicht, wer dies im einzelnen waren. So bezeugt sie nicht, daß das Kurfürstenkolleg in der später traditionellen Zusammensetzung bereits existiert habe. Der Autor scheint sogar, wie Erkensdarlegt, Hermann von Thüringen, den er besonders ehren wollte, dazugezählt zu haben.
15. „Kiesen“ und „welen“
Es ist unstreitig, daß informelle Wahlverhandlungen von einem konstitutiven Erhebungsakt zu unterscheiden sind[17]. Man kann auch diesen Kur und jenen Wahl nennen[18]. Es ist jedoch problematisch, ob bereits „die“ Rechtsspiegler die beiden Wörter „zur Kennzeichnung unterschiedlicher Vorgänge benutzt haben“ (S. 36). Tatsächlich läßt sich der 2. Königswahlparagraph im Sachsenspiegel und im Deutschenspiegel mit Erkens als „Abfolge von Auswahl durch alle Fürsten, Kur durch sechs (bzw. sieben [?]) genannte Fürsten, denen aber lediglich ein Vorrecht und kein Exklusivrecht zustand, und daran anschließend die Kur durch alle anwesenden Fürsten“ interpretieren (S. 37). Aber schon im 1. Königswahlparagraphen kommen die Begriffe durcheinander. Hier schreibt der Sachsenspiegel kiesen, der Deutschenspiegel erwelen.
Im Wortgebrauch des Schwabenspiegels, in dem nunmehr sieben Wähler das Exklusivrecht haben, sieht Erkens einen Bedeutungswandel. In cap. 130a [133], das den 2. Königswahlparagraphen aus dem Sachsenspiegel „ersetzt“, sei „mit kiesen nicht nur der Kurruf, sondern auch die (Aus-)Wahl selbst gemeint“ (S. 37-38). Hier wird jedoch übersehen, daß die ältesten Handschriften des Schwabenspiegels an denselben Stellen die beiden Wörter promiscue gebrauchen[19]. Während die Tambacher Handschrift (Kt) und die Zürcher Handschrift (Zü) chiesen/kiesen schreiben, hat die Ingolstädter Handschrift (Us) an dieser Stelle weln. Auch bei der Rangfolge der Stimmen zeigt sich eine Unsicherheit in der Begrifflichkeit. Während Kt und Us vom Mainzer sagen, er habe die erste Stimme an der wal, heißt es in der Zürcher Handschrift (Zü): kvr.
In cap. 118, das dem 1. Königswahlparagraphen im Sachsenspiegel entspricht, verwenden die Laßbergsche Handschrift (La) und Zü kiesent, Kt aber welent. Im Lehnrecht des Schwabenspiegels (cap. 8b) ist der Gebrauch ebenfalls austauschbar. Wenn die deutschen Fürsten den König erwelnt (La) oder welent (Kt), aber in einer anderern Handschrift kiesent (Zü), sollen mit dem König nach Rom fahren, die ihn zum König erkorn (La, Zü) oder aber erwelt (Kt) haben.
Im Schwabenspiegel wird also kein inhaltlicher Unterschied zwischen kiesen und welen mehr gemacht.
16. Die Erzämtertheorie im Schwabenspiegel?
Zur Stützung der Erzämtertheorie zieht Erkens – außer den Stader Annalen – auch den Schwabenspiegel heran. In diesem Rechtsbuch von 1275/76 sei „ein deutlicher kausaler Bezug“ zwischen dem Wahlrecht und dem Erzamt – „direkt zwar nicht, aber immerhin indirekt“ – hergestellt worden. Er begründet dies auf folgende Weise: „Die älteste datierte Schwabenspiegel-Handschrift“ nenne im „Kurfürstenparagraphen“ (cap. 130a [133]) keinen vierten Laienfürsten, „sondern nur das Schenkenamt“. Sie führe „auf diese Weise das Erzamt als Rechtsgrund für das Wahlrecht vor“ (S. 39-40). Dieser frappierende Gedankengang basiert jedoch auf einer folgenschweren Verwechselung von Handschriften. Der Text, auf den Erkensin Anm. 212 verweist und den er in seiner Text-Synopse (S. 116-118) als „Laßberg-Hs von 1287“ abdruckt, kann nämlich gar nicht aus dieser ältesten Handschrift stammen, weil dort im Landrecht die ganze Seite mit cap. 130 fehlt. Laßberghat in seiner Edition (1840, Nachdruck von Eckhardt) den betreffenden Passus aus der jüngeren Zürcher Handschrift (Zü) ergänzt. Laßberg gibt dies auch auf S. 63 in einer Fußnote an.
Die beiden ältesten Handschriften, die das cap. 130 enthalten (Kt von 1295 und Us vor 1300) sprechen jedoch keineswegs von einem abstrakten Wahlrecht des Schenken, sondern benennen als vierten Laien stets den herzoge von paieren, des reiches schenche. Der von Erkens zitierte Text aus Zü stammt vom „Ende des 13. Jahrhunderts“. Erst diese Handschrift ließ den Baiern weg und nur den Schenken stehen. Dies scheint der heiklen politischen Situation von 1298 zu entsprechen, als der Baier sich vergeblich um die Zugehörigkeit zum collegium der Kurfürsten bemühte, der Böhme aber an dessen Stelle trat und auch tatsächlich das Schenkenamt im November 1298 ausübte. Daß auch Zü kein abstraktes Wahlrecht des Schenken vertrat, zeigt das Lehnrecht. In dieser Handschrift steht nach den sechs anderen Fürsten nur das Wort der mit einer folgenden Lücke: Kein Schenke ersetzt den Baiern oder Böhmen.
Die Stellen, die die Aufgaben der vier weltlichen Ämter nennen (Schüssel, Schwert, Wasser und Becher tragen), druckt Erkens in seiner Synopse kursiv und bezeichnet sie „als die wesentlichen Änderungen des Schwabenspiegels gegenüber dem Sachsen- und Deutschenspiegel“ (S. 117). Sie gehören aber nicht zum Schwabenspiegel von 1275/76, sondern vielmehr erst zu dessen Einfügungen und Anreicherungen, die gerade die Königswahlpassagen im Laufe der Jahre erfuhren. Sie fehlen nämlich in La von 1287 und Kt von 1295 und stehen erst in der „vor 1300“ entstandenen Handschrift (Us) und in Zü vom „Ende des 13. Jahrhunderts“. Wegen des Fehlens dieser Passagen in Kt werden sie erst nach 1295 entstanden sein, offenbar im Anschluß an die Verteilung der Ämter und deren nachweislich erste Ausübung durch Pfalz, Sachsen, Brandenburg und Böhmen auf dem Nürnberger Hoftag König Albrechts von Österreich im November 1298. Us fügte noch hinzu: daz sind dy Ampt dy gehorent zu der Wal – nicht etwa umgekehrt.
Von der ältesten Handschrift La von 1287 ist jedoch das Lehnrecht erhalten. Sie nennt ebenso wie Kt von 1295 in cap. 8b unter den sieben Wählern und Romfahrern den Herzog von Baiern. Bei keinem der Sieben wird ein (Erz-)Amt erwähnt. In La wurde zu einem unbekannten Zeitpunkt der herzoge von Peigern getilgt, allerdings so, daß man ihn noch lesen kann. Erst in der Peutingerschen Handschrift des Lehnrechts (Up), die aus dem 14. Jahrhundert stammt, findet sich dann an dieser Stelle der Kunige von Behain.
Der Handschriftenvergleich zeigt also, daß der Schwabenspiegel von 1275/76 keineswegs die Erzämtertheorie vertrat, sondern erst um 1298 Elemente davon aufnahm, nicht aber die Kausalität.
Ebensowenig beweist die Determinatio compendiosa des Tolomeo von Lucca „für das letzte Drittel des 13. Jahrhunderts zugleich auch die Wirksamkeit der sog. Erzämtertheorie“ (S. 40). Das Werk wird nämlich von Jürgen Miethke – ohne Bezug auf die Königswahl – nicht auf 1281, sondern erst um 1300 datiert. Die Datierung nach 1298 macht für die Entstehung des Kurfürstenkollegs einen wesentlichen Unterschied.
17. Kurfürstenspruch
Der Kurfürstenspruch (Q 77) nennt die sieben Fürsten, die den König wählen sollen, und auch die Ämter der vier Laienfürsten. Zwischen 1237 (Heinz Thomas) und der Mitte des 14. Jahrhunderts (Ottokar Lorenz) ist das Datum des Spruchs umstritten. Auf dessen Deutung als Zeugnis „verzichtet“ Erkens (S. 31) und vermeidet auf diese Weise eine Auseinandersetzung mit der Handschriftenanalyse, die gegen eine Autorschaft Reinmars von Zweter († bald nach 1248) und für die schon von Max Buchner vorgeschlagene Datierung um 1298 spricht.[20]
18. Zur erbrechtlichen Theorie
Erkens Argumentation basiert in so vielen wichtigen Punkten auf Zirkelschlüssen, mißlichen Handschriftenverwechselungen, Ignorierung wichtiger Texte oder auf Behauptungen, die von der angegebenen Sekundärliteratur nicht gestützt werden, daß sich sein Urteil als nicht sachgerecht erweist. Daß die „erbrechtliche Theorie“ zur Entstehung des Kurfürstenkollegs „durch keinerlei Quellennachricht explicit“ (S. 47) gestützt werde, ist zurückzuweisen.
Abgesehen davon, daß Sukzessionen von Herrschern im alten Europa jahrhundertelang nach erbrechtlichen Prinzipien bestimmt wurden und, wenn dabei mehrere Ansprüche aufeinander stießen, durch Kampf, Vergleich oder Wahl entschieden werden mußten, so hat das vornehmste Zeugnis der alten Reichsverfassung, die „Goldene Bulle“ Karls IV. von 1356, die bereits bestehende Erblichkeit des Königswahlrechts festgelegt (cap. VII und XXV). Beispielsweise ließ sich der Kaiser schon im Vorfeld gegen Zweifel am Wahlrecht des Böhmenkönigs bestätigen, daß dieser (also er selbst) von seinen urenen (Ur-Ahnen), enen, vetern und vorfarn geleich uns und allen andern unsern mitk#ue#rfursten, geistlichen und werltlichen, in der wale und k#ue#re eins Romischen kuniges eines kumftigen keysers volenkomenes recht gehabt hat und ouch noch hat.“[21]
Wenn aber mehrere gemeinsam ein gleiches Recht von ihren Vorfahren ererbt haben, so bilden sie eine Erbengemeinschaft und es ist zu fragen, wer der gemeinsame Vorfahre ist, von dem dieses Recht stammt. Dies war für die weltlichen Kurfürsten von 1356 König Rudolf von Habsburg und für die Königswähler von 1198 König Heinrich I. und Mathilde.
Auch Erkens spricht von der „Erblichkeit“ der – seiner Meinung nach das Wahlrecht begründenden – Erzämter (S. 89), von Problemen, weil manche Fürstenhäuser „in mehrere Linien geteilt“ waren oder „zur gesamten Hand“ regiert wurden (S. 42), daß beim Aussterben wahlberechtigter Fürstenhäuser „Erbambitionen“ geweckt wurden (S. 78) und daß „hervorragende Repräsentanten“ (wessen?) die Auswahl des Thronkandidaten lenkten (S. 95). Auch wenn er gewiß nicht die „erbrechtliche Theorie“ stützen wollte, so weisen diese Bemerkungen doch auf die Gültigkeit erbrechtlicher Kategorien bei den Königswählern hin und könnten vielleicht einmal zu einer Annäherung der Positionen führen. In jedem Fall ist Erkens zu danken, daß er die Diskussion über die Entstehung des Kurfürstenkollegs lebendig erhalten hat.
Frankfurt am Main Armin Wolf
[1] Die Seitenzahlen in Klammern beziehen sich stets auf das hier besprochene Buch von Erkens.
[2] Armin Wolf, Die Entstehung des Kurfürstenkollegs, Zur 700-jährigen Wiederkehr der ersten Vereinigung der sieben Kurfürsten, (= Historisches Seminar Band 11) Idstein 1998, 2. bearbeitete Aufl. 2000. Die Quellensammlung dieses Buches wird mit Q und der betreffenden Zahl zitiert. Erkensbenutzt leider nur die 1. Auflage. Noch nicht berücksichtigen konnte er den Tagungsband: Königliche Tochterstämme, Königswähler und Kurfürsten, hrsg. v. Armin Wolf, Frankfurt 2002.
[3] Kürzer, nämlich auf den Seiten 50-53, wendet sich Erkens auch gegen Heinz Thomas, König Wenzel I., Reinmar von Zweter und der Ursprung des Kurfürstentums im Jahre 1239, in: Festschrift für Reymund Kottje, Frankfurt 1992, S. 347-372.
[4] Bernward Castorph, Die Ausbildung des römischen Königswahlrechts, Studien zur Wirkungsgeschichte des Dekretale „Venerabilem“, Göttingen 1978, S. 109 mit Anm. 19. Nicht vergessen sollte werden, daß schon Alexander von Daniels, Alter und Ursprung des Sachsenspiegels, Berlin 1853, S. 16 darauf hinwies, daß er „den reichsstaatlichen Theil des Sachsenspiegels nicht für das Werk Eike’s halte, weil Eike nicht lehren konnte, was sich erst nach seinem Tode entwickelt hat“ und daß er die „Abfassung der entsprechenden Stelle nach 1278 annehme ...“
[5] OppitzNr. 78. Transkription bei Armin Wolf, Königswähler in den deutschen Rechtsbüchern, in: ZRG Germ. Abt. 115 (1998) S. 150-197, hier 159 Anm. 29. Die Argumentation dieses Aufsatzes wird von Erkens weithin nicht berücksichtigt.
[6] Hans-Georg Krause, Der Sachsenspiegel und das Problem des sogenannten Leihezwangs, in: ZRG Germ. Abt. 93 (1976) S. 21-99.
[7] Wolf (wie Anm. 5) S. 184-189. Vgl auch dort S. 167 Anm. 69.
[8] Ebenda S. 156-157. Vgl. Martin Lintzel, Die Entstehung des Kurfürstenkollegs, Berlin 1952, S. 26: „es hat immer, um mit Eike zu reden, irgendwelche Ersten an der Kur gegeben“.
[9] Auctor vetus de beneficiis, hrsg. von Karl August Eckhardt (MGH Fontes iuris n. s. 2) II S. 25 (cap. 4, 1).
[10] Karl Kroeschell, Von der Gewohnheit zum Recht, Der Sachsenspiegel im späten Mittelalter, in: Recht und Verfassung im Übergang vom Mittelalter zur Neuzeit, I. Teil, hrsg. von Hartmut Boockmann u. a., Göttingen 1998, S. 68-92, hier 73 betont, daß „die Frage nach der ursprünglichen Anlage des Sachsenspiegels noch immer nicht beantwortet“ ist und daß es „zur Erhellung der möglicherweise komplizierten Entstehungsgeschichte dieses ältesten Textbestandes anderer Methoden bedarf“ als bisher.
[11] Egon Boshof, Erstkurrecht und Erzämtertheorie im Sachsenspiegel, in: HZ Beiheft 2 (N. F.) 1973, S. 103.
[12] So auch die von Erkensals Gewährsmänner herangezogenen Karl August Eckhardt, Rechtsbücherstudien III, Berlin 1933, S. 53, und Karl Kroeschell, Rechtsaufzeichnung und Rechtswirklichkeit: Das Beispiel des Sachsenspiegels, in: VuF 23 (1977) S. 368 mit Anm. 137.
[13] Eckhardt, Rechtsbücherstudien I, Berlin 1927, S. 137-142: „Der Deutschenspiegel ist sicher zwischen 1273 und 1276, aller Wahrscheinlichkeit nach in den Jahre 1274/75 entstanden:“
[14] Zu den zwei Wahlen von 1292 s. Armin Wolf, König für einen Tag: Konrad von Teck, gewählt, ermordet (?) und vergessen, (= Schriftenreihe des Stadtarchivs Kirchheim unter Teck 17), Kirchheim unter Teck (1993), 2. bearbeitete und erweiterte Auflage 1995, die auch die von Erkens erwähnte Kritik zurückweist, in der Rolf Götz rex electus als „Kandidat“ versteht, während ich es als „gewählter König“ übersetze.
[15] Nach Hermann Krause, Kaiserrecht und Rezeption, Heidelberg 1952, S. 87 wurde der Sachsenspiegel erst „seit dem 14. Jahrhundert“ für ein Werk Karls des Großen gehalten. Kroeschell 1977 S. 376 verweist auf Krause. Winfrid Trusen, Die Rechtsspiegel und das Kaiserrecht, in: ZRG Germ. 102 (1985) S. 28f.
[16] So auch TrusenS. 38-47.
[17] Für Lintzel (wie Anm. 8) S. 26: brachte die Wahl „die sozusagen politische Entscheidung“ und die Kur war „der rechtsverbindliche Akt, der das Resultat der Wahl proklamierte“. Vgl. auch Eckhardt, Rechtsbücherstudien 2 (1931) S. 18-19. Zu den Definitionen von Mitteis, Schmidt-Wiegand, Reuling, Jakobs s. Wolf, Königswähler in den deutschen Rechtsbüchern, Exkurs: kiesen und irwelen, kore und wale, in: ZRG Germ. Abt. 115 (1998) S. 150-197, hier 193-197.
[18] Vgl. ebenda S. 195.
[19] Vgl. die Synopse ebd. S. 184-187 und den Exkurs S. 193-197.
[20] Vgl. Wolf, Seit wann spricht man von Kurfürsten? in: Festschrift für Hermann Jakobs zum 65. Geburtstag, Köln/Weimar/Wien 1995, S. 401-435, hier 417-421.
[21] Karl Zeumer, Die Goldene Bulle Kaiser Karls IV. Weimar 1908, II, 2 S. 116.