Frotscher, Werner/Pieroth, Bodo, Verfassungsgeschichte

*, 2. Aufl. Beck, München 1999. Besprochen von Wilhelm Brauneder. ZRG GA 118 (2001)

BraunederFrotscher20000717 Nr. 10077 ZRG 118 (2001)

 

 

Frotscher, Werner/Pieroth, Bodo, Verfassungsgeschichte, 2. Aufl. Beck, München 1999. XX, 356 S.

„Lehrbücher der Verfassungsgeschichte gibt es nicht wenige“, das bekennen die Verfasser selbst ein und sehen sich daher „unter einem gewissen Rechtfertigungszwang“ (VII). Vom Titel, der keinen territorialen Bezug aufweist, würde man nicht unbedingt auf eine deutsche Verfassungsgeschichte schließen, zumal das erste Kapitel der „Entstehung des modernen Verfassungsrechts in den USA und in Frankreich“ gewidmet ist. Eine universelle Verfassungsgeschichte liegt aber nicht in der Absicht der Verfasser, vielmehr wollen sie „die Verknüpfungen der in früheren Verfassungsepochen entstandenen oder weiterentwickelten rechtlichen Begriffe, Prinzipien und Einrichtungen mit dem Öffentlichen Recht der Gegenwart, insbesondere mit dem Grundgesetz, verdeutlichen“, woraus sich auch der eben erwähnte Anfang verstehe (VIII). Das erscheint plausibel und läßt als spezifisches Konzept aufhorchen, und zwar gerade auf Grund des Einstiegs: Denn tatsächlich hat US‑Verfassungsrecht und westliches Verfassungsdenken auf das Grundgesetz einen nicht unerheblichen Einfluß ausgeübt. Just dieses dem Konzept konforme Argument zeigt aber drastisch, daß es nicht ausgeführt ist! Denn das Buch endet nicht etwa mit dem Grundgesetz ‑ davon kein Wort. Die Darstellung „endet mit dem nationalsozialistischen Staat, der als Tiefpunkt der deutschen (Verfassungs‑)Geschichte zugleich den Wiederaufbau einer demokratischen Verfassungsordnung“ mitbestimmt habe (VIII)! Mit dem Fehlen des Endprodukts hängt das Konzept aber nicht nur in der Luft, in Wahrheit ist es gar nicht verfolgt worden. Die Darstellung ist durchaus nicht derart angelegt, daß sie bloß oder schwerpunktmäßig jene Elemente beschriebe, welche den versprochenen Einfluß ausübten. Wäre es nämlich so, dann hätte natürlich nicht nur das Grundgesetz mit seiner Entstehungsgeschichte und die erwähnten Einflüsse nicht fehlen dürfen, sondern es wären jene Entwicklungsmomente innerhalb und außerhalb Deutschlands hervorzuheben gewesen, deren Erbe letztendlich das Grundgesetz angetreten hat. Dementsprechend könnte in der Darstellung alles das entfallen beziehungsweise kurzgehalten sein, was ohne Einfluß blieb ‑ wenngleich Derartiges für eine Geschichtsdarstellung nicht ohne Problematik ist. Aber es würde dem Frotscher/Pieroth'schen Konzept entsprechen. In diesem Sinne ist die Mängelliste relativ lang, denn es fehlen der Einfluß etwa der belgischen Verfassung 1831, die Einflüsse ausländischer Vorbilder 1848/49 (mit Relativierung des US-Einflusses), ein Hervorheben der Wurzeln der Verfassungsgerichtsbarkeit mit ihrer frühen Realisierung in Österreich 1867/68 (aufgrund der Panlskirchenverfassung 1849), vor allem die Rückgriffe auf eigene Verfassungselemente einerseits wie das Ausscheiden von solchen andererseits etwa 1848, 1867, 1870/71, 1918/19 ‑ wofür gerade Grundgesetz und vorher ergangene Länderverfassungen wesentlich gewesen wären. Auf der anderen Seite hätte ‑ bei Verfolgung des Konzepts ‑ manches weggelassen werden können: so zahlreiche Details wie der Weg zur Paulskirche über die Offenburger, Heppenheimer und Heidelberger Versammlungen (147ff.), und vor allem die immer wieder so breite Darstellung der Verfassung Preußens, immerhin eines Staates, den es nicht nur nicht mehr gibt, sondern dessen Verfassung ohne wesentliche Einflußnahmen blieb.

Aber so soll das Buch ‑ trotz seines Vorwortes ‑ nicht gesehen und gewürdigt werden, sondern nach dem, was es bietet: „habeant sua fata libelli“. So besehen liegt doch keine neu konzipierte, sondern eine der üblichen deutschen Verfassungsgeschichten vor. Die Darstellung gliedert sich und gewichtet wie folgt: rund 50 Seiten „Entstehung des modernen Verfassungsrechts in den USA und in Frankreich“, rund 30 Seiten „Deutschland am Ausgang des 18. Jahrhunderts“, 40 Seiten für die Zeit 1806‑1815, 30 Seiten für die Entwicklung bis 1848, weitere 30 Seiten bis zum Ende des Deutschen Bundes, 50 Seiten bis einschließlich der Reichsgründung, 25 Seiten bis 1918, 50 Seiten für die Weimarer Republik sowie gleichfalls 50 Seiten für NS‑Deutschland. In den Abschnitten vor 1848 bildet die Entwicklung in Preußen stets deren zweiten Teil, sie bestimmt aber auch die Zeit zwischen 1848 und 1866 mit. Für eine Darstellung der Verfassungsgeschichte in ihrer Zeit fällt dies besonders dadurch auf, daß Österreich fehlt! Dies nicht nur hinsichtlich der Verfassungsgestaltung der Präsidialmacht des Deutschen Bundes, sondern besonders aus verfassungskonzeptionellen Gründen: Der Gegenpart der konstitutionellen Verfassungsentwicklung, nämlich Idee und Konzepte einer neuständisch beschränkten Monarchie, bleibt damit vernachläßigt wie auch deren theoretisches Fundament, das Historische Staatsrecht als öffentlichrechtlicher Ableger der Historischen Rechtsschule. Auch die Bundesreformpläne mit ihrer Spannung zwischen Staatenbund (Österreich) und Bundesstaat (Preußen) fehlen ‑ nicht unaktuell für jede staatenbündische Entwicklung wie etwa der Schweiz im 19. Jahrhundert und in unseren Tagen der Europäischen Union. Mit der an die ehemals kleindeutsche Geschichtsschreibung gemahnenden Preußenlastigkeit stellt sich Frotscher/Pieroths Darstellung ‑ leider ‑ deutlich in die Reihe anderer deutscher Verfassungsgeschichten (vergleiche auch die Besprechung von H. Brandt, Der lange Weg in die demokratische Moderne, 1998: in diesem Band). Was sie von diesen oft wesentlich unterscheidet ist das völlige Fehlen der Verfassungsentwicklung ab 1945: keine Nachkriegszeit mit den ersten Länderverfassungen, kein Grundgesetz, keine der DDR‑Verfassungen, keine (Wieder‑)Vereinigung ‑ ein halbes Jahrhundert deutscher Verfassungsgeschichte fehlt! Und das ist nicht nur wegen des demokratischen Aufbaus und der kommunistischen Herrschaft in Deutschland schade, sondern auch hinsichtlich des überwundenen Gegensatzes zwischen Westeuropa und den ehemaligen Ostblockstaaten.

Der Darstellung sind freilich auch zahlreiche Akzente aufgesetzt, die wichtige Momente beleuchten: die rechtsstaatlichen Bestimmungen des Allgemeinen Landrechts (75), die Vorbildhaftigkeit der Paulskirchenverfassung (164), das richterliche Normprüfungsrecht im kurhessischen Verfassungskonflikt (180), die einfachgesetzlichen Rechtsstaatsgarantien im Reich ab 1871 (225). Andere Details wieder irritieren: Es gab 1866 gegen Preußen keine Bundesexekution (Art. 31 WSA), sondern ohne eine solche eine Teilmobilmachung des Bundes‑Heeres als vorläufige Maßnahme (Art. 19 WSA), erst dies bewog Preußen zur Sezession (196). Richtig ist, daß es mit der Verfassungsnovelle vom 28. Oktober 1918 zur „Einführung des parlamentarischen Regierungssystems“ kam (248), was in Abkehr von der quasikonstitutionellen Regierungsform geschah, so daß die Wertung als „systemimmanente Oktoberreform“ (252) nicht trifft. Auch gibt es spürbare Lücken: Zum NS-Staat fehlt das territoriale Element der Ausweitung des Deutschen Reiches zum Großdeutschen Reich völlig. Von einigen Momenten abgesehen wie etwa zur „Judenverfolgung“ (insbes. 332) endet die Darstellung eigentlich schon einige Jahre vor 1945 mit unmittelbaren Auswirkungen der sogenannten Machtergreifung. Der Deutsche Zollverein, mit seinem Zollparlament neben dem Norddeutschen Bund bereits eine sachlich beschränkte Vorwegnahme des Deutschen Reiches, fehlt ‑ mit einer detailhaften Ausnahme: Erwähnung findet ein Vorschlag zu seiner Reform in der Heppenheimer Versammlung 1847 (149)! So mischen sich Lücken eigenartig mit punktuellen Details wie weiters hinsichtlich des täglichen Arbeitspensums der ALR‑Verfasser (72), wobei die Feststellung (nach Hans Hattenhauer), es habe ein Reformgespräch „in solcher Dichte und Fruchtbarkeit in Deutschlands Rechtsgeschichte“ sonst nie stattgefunden, angesichts der österreichischen Kodifikationsentwicklung zur selben Zeit falsch ist.

Eine gute „Illustration“ der Darstellung bilden die in sie eingestreuten Textauszüge meist aus Verfassungen. Aber auch für sie gilt, daß neben Schlüsseltexten weniger Wichtiges aufgenommen ist. Ein Personen‑ und Sachregister erschließt das Werk, die Stichwortauswahl ist nicht immer glücklich: Wir werden zwar auf das „Allgemeine Gesetzbuch für die preußischen Staaten“ verwiesen, das nie Gesetz wurde, nicht aber auf das dann doch über 100 Jahre geltende ALR ‑ das freilich schon das Inhaltsverzeichnis aufweist. Während allerlei Stichworte auf Preußen verweisen, so kein einziges auf Österreich. Indirekt geschieht dies einmal mit „Maria Theresia“, die aber wesentlich mehr als bloß „Erzherzogin von Österreich“ war.

Insgesamt liegt eine streckenweise interessant gehaltene, oft punktuell‑detaillierte, leider aber auch lückenhafte und ungleich gewichtende Verfassungsgeschichte vor.

Wien                                                                                                              Wilhelm Brauneder