Franz Sperr und der Widerstand
Franz Sperr und der Widerstand gegen den Nationalsozialismus in Bayern, hg. v. Rumschöttel, Hermann/Ziegler, Walter (= Zeitschrift für bayerische Landesgeschichte Reihe B, Beiheft 20). Kommission für bayerische Landesgeschichte, München 2001. 291 S.
Der vorliegende Sammelband macht die Vorträge eines von der Bayerischen Staatsministerin für Bundesangelegenheiten Männle und der Generaldirektion der Staatlichen Archive Bayerns am 24. Juli 1998 veranstalteten Kolloquiums mit dem Thema: „Franz Sperr (1978-1945). Ein bayerischer Beamter der Weimarer Zeit und sein Weg vor den Volksgerichtshof“ in überarbeiteter und erweiterter Form zugänglich. Ergänzt werden diese Vortragsmanuskripte um drei zusätzliche, das Thema vertiefende Beiträge.
Einleitend faßt Walter Ziegler in seinem Beitrag: „Widerstand in Bayern- Ein Überblick“ (S. 7-24) den Forschungsstand und die Vielschichtigkeit des Widerstandes gegen das NS-Regime in Bayern zusammen, indem er die wichtigsten Widerstandskreise (z. B. aus SPD, KPD, BVP, Zentrum und den Kirchen) und Aktionen (von Individuen wie z. B. Georg Elser und der Weißen Rose) in chronologischer Abfolge darstellt. Für den Rechtshistoriker interessant ist der Verweis auf die Staatsanwälte Carl Wintersberger und Josef Hartinger, die wegen der ersten KZ-Tötungen in Dachau gegen die SS Anklage erhoben, die Absetzung des Kommandanten erreichten, dann aber aus dem Dienst entfernt wurden. (S. 18)
Christian Lankes schildert in „Franz Sperr (1878-1845) – ein Lebensbild“ (S. 25-50), wie Sperr nach dem Abitur 1897 (S. 28) als Offiziersanwärter in das Königlich Bayerische 12. Infanterie-Regiment eintrat (S. 28) und die Laufbahn des Berufssoldaten einschlug (S. 29). Nach Kriegsende im Rang eines Majors übernahm er 1918 die Dienststelle des Königlich Bayerischen Militärbevollmächtigten beim Reich in Berlin (S. 35), die er 1919 nach seinem Abschied von der Armee als Ministerialrat im Bayerischen Staatsministerium des Äußern weiter leitete. 1932 übernahm er kommisarisch die Leitung der bayerischen Gesandtschaft in Berlin, der die Ernennung zum bayerischen Gesandten beim Reich am 1. März 1933 folgte. (S. 39) Auf eigenen Wunsch wurde Sperr mit Wirkung zum 1. November 1934 in den einstweiligen Ruhestand und am 1. November 1939 in den endgültigen Ruhestand versetzt. (S. 40)
Der Widerstandskreis um Franz Sperr ruhte auf mehreren Säulen aus persönlichen Vertrauensleuten von Sperr (S. 41) und einem lockeren Gesprächskreis mit ehemaligen Politikern der Weimarer Republik (S. 41). Zur Tarnung hilfreich war Sperrs Engagement in der Deutschen Gesellschaft für Wehrpolitik und Wehrwissenschaften und eine Beratertätigkeit Sperrs für die Münchner Rückversicherung seit 1943, die ihm im Krieg unauffällige Reisen und Begegnungen erlaubte. (S. 43)
Sperr verfolgte das Ziel, nach einer geglückten Invasion der Alliierten im Westen, die Nazi-Herrschaft zu beseitigen. Ein zuverlässig antinazistisch eingestellter General (konkret Generaloberst Franz Halder) sollte nach den Weisungen Sperrs den Befehl über die militärischen Machtmittel in Bayern übernehmen, Widerstand der Nazi-Parteistellen mit Gewalt brechen, für Ruhe und Ordnung sorgen und das Land Bayern intakt und ohne Kampfhandlungen an die Alliierten übergeben. (S. 45) Nach dem gescheiterten Attentat vom 20. Juli geriet Franz Sperr durch die Aussagen und Unterlagen von Mitgliedern des Kreisauer Kreises, mit denen ein loser Kontakt bestand, in das Ermittlungsverfahren der Geheimen Staatspolizei (S. 47) Vom Volksgerichtshof vor allem wegen der unterlassenen Meldung der Absichten von Klaus Graf von Stauffenberg am 11. Januar 1945 zum Tode verurteilt, wurde Sperr am 23. Januar 1945 in Berlin-Plötzensee hingerichtet. (S. 48f.)
Elke Fröhlich untersucht in ihrem Beitrag „Sperr als Offizier und Gesandter“ (S. 51-82) die beruflichen Stationen Sperrs, die Aufschluß über seine Prägungen und seine politische Haltung zum Nationalsozialismus zu geben vermögen. Ein Schwerpunkt der Darstellung liegt bei Sperrs Ernennung zum stellvertretenden Bevollmächtigten zum Bundesrat und zum stellvertretenden Mitglied des provisorischen Staatenhauses in Weimar Anfang 1919, wo er an den Besprechungen über die Reichsverfassung partizipieren und bayerische Sonderrechte in der Reichsverteidigung vertreten konnte. (S. 56-70). Er erreichte die Einfügung eines Landeskommandanten in das Reichswehrgesetz von 1921, der nur auf Vorschlag der Landesregierung ernannt werden konnte, und geschlossene Verbände der Länder innerhalb des Reichsheeres. (S. 69) Im Rahmen der Machtübernahme 1933 verwahrte sich Sperr gegen die Entsendung eines Reichskommisars nach Bayern und gegen die Gleichschaltung der Länder, wurde aber durch taktische Manöver der Nationalsozialisten über deren wahre Absichten bis zur tatsächlichen Machtergreifung in Bayern getäuscht. (S. 80)
Winfried Becker behandelt im umfangreichsten Beitrag der Sammlung „Franz Sperr und seinen Widerstandskreis“ (S. 83-159) und ergänzt diesen um einen Dokumentenanhang (S. 160-173). Nach der Zusammenfassung des Forschungsstandes (S. 83-86) bildet Becker seinen ersten Schwerpunkt in der akribischen Zusammenstellung der um den Kronprinzen versammelten Hitler-Gegner (S. 86-98) und der Mitglieder der von Sperr aufgebauten Widerstandsgruppe. (S. 109-125) Angesichts seiner diplomatischen Erfahrungen war es vor allem Sperr, der die Nationalsozialisten richtig einschätzte und sich keiner Illusion einer frühen Selbstabdankung hingab (S. 102f.) Sperr suchte daher nach der Konsolidierung und Stabilisierung des NS-Systems nach einer realistischen Möglichkeit, Hitler den Weg in den Krieg und damit in die Katastrophe zu verbauen (S. 104) Später ging es ihm in erster Linie um die Machtübernahme vor Einmarsch der Alliierten und eine gewaltfreie Übergabe Bayerns. (S. 139) Die Stärke des Beitrages liegt im Abgleich der Ereignisse mit dem allgemeinen Forschungsstand und dem Bemühen um eine objektive quellenkritische Sicht.
Während Gerhard Hetzer in: „Archivalische Quellen zu Franz Sperr“ (S. 175-185) einen mit einem umfangreichen Dokumentenanhang (S. 186-221) versehenen Überblick zur Aktenlage gibt, behandelt Sabine Schlögl „Die Bayerische Gesandtschaft in Berlin im 20. Jahrhundert“ (S. 223-265). Walter Ziegler bietet am Ende des Sammelbandes einen sehr instruktiven Überblick „Zur Widerstandsforschung in Bayern“ und ergänzt diesen um wichtige Forschungsdesiderate. (S. 267-282).
Zusammenfassend läßt sich festhalten, daß der Sammelband sein selbstgestecktes Ziel erreicht, nicht nur Beiträge zur Erforschung der Persönlichkeit Franz Sperrs, seines ‚Kreises‘ und seines Widerstandes gegen den Nationalsozialismus zu liefern, sondern zugleich die Forschungsergebnisse in den Zusammenhang der wissenschaftlichen Beschäftigung mit Widerstand und Verfolgung in Bayern zwischen 1933 und 1945 einzuordnen und zu einem Nachdenken über Stand und Perspektiven der bayerischen NS-Forschung anzuregen. (S. 1)
Berlin Fred G. Bär