Gerhold, Wolfgang, Armut
Gerhold, Wolfgang, Armut und Armenfürsorge im mittelalterlichen Island. Winter, Heidelberg 2002. 255 S.
Die Armenfürsorge im mittelalterlichen Island ist bisher schon Gegenstand von Darstellungen
gewesen. Zu nennen sind so bedeutende Namen wie Konrad Maurer, Karl von Amira, Alfred Schultze und Hans Kuhn. Der Verfasser, ein Schüler Klaus von Sees, unternimmt den Versuch, auf dem Hintergrund historischer Armenforschung in Kontinentaleuropa die isländischen Verhältnisse einer genaueren Analyse zu unterziehen.
Nach einer Einleitung, in der er seine Hauptquellen, die Rechtstexte und die Sagaliteratur Revue passieren läßt, wendet er sich den Ursachen und dem Ausmaß materieller Armut im Mittelalter zu. Er stellt die Verhältnisse auf dem Kontinent und schließlich auch im mittelalterlichen Island dar. Das 3. Kapitel widmet er der Versorgungswürdigkeit der Armen in der mittelalterlichen Gesellschaft. Erst das 4. Kapitel untersucht die isländische Terminologie, allen voran ómagi, framfœrslumaðr, fátœkr und ala. Das 5. Kapitel ist dann den Institutionen der mittelalterlichen Armenpflege gewidmet, für die auf Island der hreppr steht. Die wörtliche Übersetzung dieses Begriffs ist streitig: Ursprünglich eine Anzahl benachbarter Bauernhöfe meinend, hat er sich später zur Landgemeinde, zum Gemeindebezirk entwickelt. Ganz zum Schluß seiner Arbeit kommt der Verfasser dann auch auf den Armenzehnt und seine Verwaltung durch den hreppr zu sprechen und damit auch auf das Verhältnis der isländischen Armenverwaltung zur Kirche.
In der Einleitung mustert der Verfasser seine Quellen. Eine kritische Bemerkung Andreas Heuslers in seiner Einleitung zur Grágásübersetzung nimmt er zum Anlaß, den Quellenwert der Grágás überhaupt in Zweifel zu ziehen und ihr „einen kasuistisch-konstruierenden Charakter“ zu bescheinigen. Solche Pauschalaussagen sind wenig hilfreich, denn der nachfolgende Text zweifelt an keiner einzelnen Stelle an der Authentizität der Grágás, sondern nimmt ihren Wortlaut als gegeben hin. Auch führt er später die Jarnsiða und die Jónsbók an, deren Qualität als Gesetze unstreitig ist (wenngleich die Jarnsiða inhaltlich als mißlungen gilt). Bekannt ist auch, daß die Sagas keine reinen historischen Quellen sind, sondern Literatur, welche die mittelalterlichen Geschehnisse gestaltend darbietet. Aber schon Andreas Heusler hat ihnen in seinem Werk über das Strafrecht der Isländersagas[1] eine zuständliche (kulturgeschichtliche) Wahrheit bescheinigt, von der auch der Verfasser - trotz aller Bedenken im einzelnen - letztlich ausgeht. Waren ihm aber weder die Grágás noch die Sagas sicher genug, um als Ausgangslage für die mittelalterliche Wirklichkeit zu dienen, so hätte es nahe gelegen, die in reicher Fülle fließenden Informationen der im Diplomatarium Islandicum gesammelten Urkunden heranzuziehen, die über das jedem Band beigegebene Register mustergültig auch hinsichtlich der Armenterminologie und des hreppr erschlossen sind. Wenn der Verfasser (S. 67, Fn. 16) zutreffend zwischen Rechtsquelle und Rechtswirklichkeit unterscheidet, hätte diese Sammlung (die zwar im Quellenverzeichnis erwähnt ist, von deren Inhalt der Verfasser aber einen eher sparsamen Gebrauch gemacht hat) ihm eine große Chance geboten, der Rechtswirklichkeit näher zu kommen.
Den umfangreichen historischen Forschungen auf dem Gebiet des Armenwesens ist es wohl zu verdanken, daß der Verfasser ihre Ergebnisse an den Anfang seiner Ausführungen setzt. Es handelt sich aber lediglich um ein Referat aus wenigen Werken (Mollat, Geremek, Boshof, Bosl, Oexle, Wollasch) ohne eigene Beiträge des Verfassers, der hier ganz aus zweiter Hand lebt. Daß er auch die Zitate in deutschen Übersetzungen übernimmt und keine Originalfundstellen zitiert, macht die Darstellung nicht besser. Zudem wird manches doppelt gesagt, so daß überflüssige Längen entstehen. Gelegentlich ergeben sich Widersprüche, so ist Guido de Baysio auf S. 66 als Theologe, auf S. 126 richtig als Kanonist eingeordnet. Überdies erbringt die Darstellung für Island wenig und kann fast nur als Kontrast dienen, weil auf der Insel einiges anders ist als auf dem Kontinent und ganze Quellengattungen ausfallen. Den ersten Teil des Werkes zieren viele „Verweisungen nach unten“. Für die innere Ökonomie des Werkes sind sie zu begrüßen, doch fragt sich, ob der Aufbau des Buches ganz glücklich ist, wenn der Leser eigentlich gut daran täte, es gleichsam von hinten zu lesen, wo die eigentlichen isländischen Verhältnisse dargestellt sind.
Im vierten Kapitel (S. 66ff.) beginnt der Verfasser die Armutstermini Altislands darzustellen. Das ist einer der gelungensten Abschnitte des Werkes, weil er hier auf der Höhe der philologischen Diskussion steht. Ausführlich diskutiert er den ómagr balcr der Grágás. Warum er sich an Heuslers Übersetzung von ómagr „Bedürftiger“ stößt, ist nicht ganz deutlich geworden. Das Wort hat eine so umfassende Bedeutung, daß es den vollen Sinngehalt des isländischen Ausdrucks abdeckt. Aus den folgenden Ausführungen (S. 73ff.) wird denn auch deutlich, daß der Verfasser nichts anderes meint.
Für den framfœrslumaðr (Person, die unterhaltsbedürftig ist) stellt der Verfasser richtig fest, daß er in den Grágástexten nicht zu finden ist, sondern nur in der Grettla auftaucht. Immerhin finden sich eiga bzw. vera oder fœra framfœrslu in der Grágás. Wichtiger scheint mir, daß framfœzlumaðr (Person, die einen anderen zu versorgen hat) im Diplomatarium Norvegicum mehrfach nachgewiesen ist (Fritzner, Bd. I, S. 477), und es hätte sich ein Wort darüber gelohnt, wie das philologische Verhältnis zum framfœrslu maþr zu denken ist.
Die þurfamenn (Männer mit geringem Vermögen, die keinen Zehnt zahlten, aber ómagr zu versorgen hatten) bringt der Verfasser richtig mit dem isländischen Zehntgesetz von 1096/97 in Verbindung, wie es sich aus dem Diplomatarium Islandicum (Bd. I, Nr. 22) und aus der Grágás[2] ergibt. Ebenso grenzt er sie erfolgreich von den ómagi ab (S. 81). Auch die übrigen Begriffe für die isländischen Bedürftigen sind richtig dargestellt. Gleichwohl entsteht an manchen Punkten der Eindruck, daß der Verfasser die Quellen nicht völlig ausgeschöpft hat. So hat er die Herkunft und Verbreitung des Wortes fatœkr links liegen lassen (S. 103); auf S. 203 vermutet er, das manneldi (Versorgung der ómagr durch den hreppr) sei nach der Freistaatszeit gegenüber dem aus Norwegen importierten fátœkra manna flutning (Rundfahrt der Armen) ins Hintertreffen geraten, wobei er jedoch offen läßt, welche Form der Unterstützung sich durchgesetzt hat. Für das manneldi zitiert er eine Stelle aus dem Diplomatarium Islandicum 12, S. 66f. von 1500, ohne zu sehen, daß eine systematische Durchforschung dieser Urkundensammlung weiteren Aufschluß hätte geben können.
Ausführlich handelt der Verfasser auch von den Bettlern, welche die Grágás wenig zimperlich behandelt, indem sie den Bauern nicht nur erlaubt, sie zu verprügeln, sondern die männlichen Bettler auch zu entmannen, damit sie keine unerwünschten Nachkommen zeugen können.
Die Einrichtungen mittelalterlicher Armenpflege erläutert der Verfasser von denen des Kontinents aus. Während die Klöster erst nach der Freistaatszeit bei der Armenversorgung eine Rolle spielten, galten auch auf Island die Bischöfe als Väter der Armen. Des Verfassers Kritik an Vilborg Auður Ìsleifsdóttir-Bickels Ansicht (S. 132, Fn. 90) ist unberechtigt, führt er doch S. 101f. selbst mehrere Stellen für die Mildtätigkeit der Bischöfe an.
Armenpflege war in erster Linie Sache der Verwandten. Fehlten sie, trat der hreppr ein und führte die ómaga menn seinen unterhaltspflichtigen Mitgliedern zu. So war der hreppr die zentrale Institution der Armenfürsorge auf Island. Er wurde in der freistaatlichen Zeit eingerichtet, überdauerte sie jedoch und ist noch in der Jónsbók zu finden. Über den hreppr hat der Verfasser nicht nur die bisherige Literatur zusammengetragen sondern auch den Streit um die sprachliche Herleitung des Begriffs dargestellt. Soweit er freilich Lexikonartikel heranzieht, fällt auf, daß der von Else Ebel verfaßte einschlägige Artikel im neuen Hoops[3] nicht zitiert ist, wie denn überhaupt die 2000 und 2001 erschienenen fünf Bände des neuen Hoops (15-19) – vermutlich ihres kurzfristigen Erscheinens vor Abschluß der Arbeit wegen – nicht ausgewertet, aber auch in der Druckfassung nicht berücksichtigt sind. Unsere Kenntnisse über den hreppr beziehen wir hauptsächlich aus der Grágás (1, Ib, c. 255f., S. 206 ff.). Danach waren die hreppar von Goden und Kirche unabhängige geographische Einheiten, in denen mindestens 20 Vollbauern zusammengefaßt waren. In der Armenpflege oblagen ihnen die manneldi (Ernährungspflicht): Die ómaga menn des hreppr wurden auf die Bauern nach ihrem Vermögen verteilt, die sie entweder dauernd unterhalten mußten oder weiterreichen konnten. Der hreppr setzte auch den Armenzehnt fest, holte ihn ein und verteilte ihn auf die þurfamenn. Sie erhielten auch die matgjafir, Lebensmittelgaben, die beim Fasten erspart wurden.
Ein großer Streitpunkt ist das Alter der hreppar. Der Verfasser diskutiert die bisher angebotenen Lösungen. Er verwirft sie allesamt, bietet aber selbst keine neue an (S. 153ff.). Zutreffend weist er jedoch darauf hin, daß die Hreppsorganisation zu Beginn des 11. Jahrhunderts bei Einführung des Armenzehnts bereits gut durchgebildet gewesen sein muß, um ihr (und nicht der Kirche) die Zehnterhebung wirksam übertragen zu können. Das läßt Maurers und Kuhns Thesen von der Entstehung der hreppar am Ende des 10. Jahrhunderts doch nicht so zweifelhaft erscheinen wie der Verfasser meint.
Um zu klären, ob die hreppar ländliche Genossenschaften oder Vorläufer der späteren isländischen Landgemeinde waren, greift der Verfasser auf die Definition im Wörterbuch der Soziologie (S. 161) und die Gemeindeverfassung des 19. Jahrhunderts zurück (S. 164ff.). Das halte ich als Anachronismus für unzulässig. Immerhin erkennt er, daß die hreppar keine Gilden waren, denn die von ihnen versorgten Bedürftigen gehörten nicht zu ihren Mitgliedern. Als Ergebnis bleibt ein Personenverband, der sich an den Aufgaben der Armenversorgung (und der Versicherung bei Brand und Viehsterben) ausrichtete.
Schwer tut sich der Verfasser mit dem christlichen Einfluß auf die Armenversorgung in Island. So hat er selbst dasjenige, was bei Konrad Maurer zur Christianisierung Islands und zum Zehnten steht[4], nicht verwertet und auch kein Wort darüber verloren, daß der Zehnt praktisch den früheren „Tempelzoll“ ersetzte. Es überrascht zunächst, daß die Erhebung des Zehnten nicht der Kirche, sondern den hreppar übertragen wurde. Geht man jedoch davon aus, daß die Hrepporganisation bei Einführung des Zehnten als genossenschaftlicher Armenverband bereits fest ausgebildet war und das bewohnte Island flächendeckend überzog, so bot sich wahrscheinlich der jungen christlichen Kirche, die unter Priestermangel litt, keine andere Möglichkeit als diese Lösung zu akzeptieren. Der Verfasser unterschätzt hier ihre Geschmeidigkeit und Anpassungsfähigkeit. Richtig gesehen ist, daß die Isländer im Jahre 1000 zwar das Christentum angenommen hatten, um weiteres Blutvergießen zu vermeiden, daß aber nicht alle der Kirche wohlgesonnen waren, so daß sie es schwer hatte, Mittel für ihre Aufgaben zu erhalten (S. 204f.). Die Zehnterhebung in weltlicher Hand versprach ihr vielleicht mehr Erfolg. Immerhin hat sie nicht nur den Zehnten in Island früher als auf dem skandinavischen Festland durchgesetzt, sondern auch seine Vierteilung beibehalten, wie sie sich in den frühen Canonessammlungen findet und dann um 1140 in das Decretum Gratiani in C. 12 q. 2, c. 23-31 eingegangen ist. Allerdings kann man das isländische Zehntwesen nicht ohne das dort ausgeprägte Eigenkirchenwesen verstehen. Der Verfasser hat es S. 204f. zwar erwähnt, aber zu knapp behandelt und die Frage nach den Gründen für die Zehnteinführung unbearbeitet liegen lassen (S. 205). Auch daß die beim Fasten ersparten Speisen als matgjafir der Armenversorgung zugute kamen, ist christlich gedacht. Wenn der Verfasser in seinen Quellen die christliche Motivation der Barmherzigkeit und die Armut als Tugend und Weg zur Vollkommenheit vermißt, so ist das zwar richtig beobachtet, aber nicht erstaunlich, weil er die Literaturgattung, in der diese Gedanken vorgetragen werden, nämlich theologische und philosophische Werke, für Island nicht zitiert, wenn sie denn dort überhaupt existierten. In den Rechtstexten der Grágás, pflegte der Gesetzessprecher den Thinggenossen das geltende Recht zwar vorzutragen, es aber nicht zu begründen[5], und in den Sagas überwog das literarische Interesse und fehlt das missionarische und homiletische Element kirchlicher Schriften. Bei der Stelle aus der grönländischen Eiríks saga rauða aus dem 13. Jahrhundert, die der Verfasser zitiert (S. 214), handelt es sich übrigens nicht um den Zehnten, sondern um eine Seelgabe. Die vom Verfasser nicht erwähnte Mitwirkung des Bischofs bei Übertretungen der Hreppsordnung (Grágás 1, Ib, c. 235) und bei der Bestimmung des Empfängers von Kirchenzehnten (Grágás I, Ib, c. 260) zeigt, daß die Kirche in diesen Fragen ein Mitspracherecht hatte[6]. Schließlich hat der Verfasser der Staðarhólsbók den ganzen Komplex dem Christenabschnitt eingefügt, wohin er nach Auffassung der Zeit sachlich gehörte.
Die Bibliographie des Buches ist nicht ganz vollständig. So sind das Diplomatarium Norvegicum und Migne, Patrologia Latina zwar zitiert, aber nicht nachgewiesen. Welche Bibelübersetzung der Verfasser S. 130, Fn. 83 benutzt hat, sagt er nicht. In der Sagaliteratur sind die biskupar sögur nicht einzeln aufgeführt. Warum die Übersetzung Klaus von Sees von Jyske Lov als Sekundärliteratur eingeordnet ist, obwohl der Verfasser eine Abteilung „Übersetzungen“ hat, bleibt unerfindlich. Bei diesen fehlt die der Laxdœla saga Heinrich Becks von 1997. Auch das Mittellatein kommt schlecht weg: Der kleine Stowasser kann die Standardwerke von Du Cange, Diefenbach und Niermeyer nicht ersetzen.
Der Verfasser hat die Untersuchung von Armut und Armenfürsorge in Island - vor allem sprachlich - ein Stück vorangebracht. Die historischen Hintergründe hat er weniger erhellt. Hier bleibt künftiger Forschung noch einiges zu tun.
Köln am Rhein Dieter Strauch
[1] Andreas Heusler, Das Strafrecht der Isländersagas, Leipzig 1911, S. 7.
[2] Vgl. Andreas Heusler, Isländisches Recht (Germanenrechte Bd. 9), Weimar 1937, S. 397ff.
[3] Else Ebel, Art. Hreppr, in: Reallexikon der Germanischen Altertumskunde, begr. v. Johannes Hoops, 2. Aufl. Bd. 15, Berlin 2000, S. 154-157.
[4] Konrad Maurer, Die Bekehrung des norwegischen Stammes zum Christenthume, 2 Bände, München 1855/56, hier Band II, S. 462ff.; auch spätere Literatur zum Thema Christianisierung Islands ist nicht genannt (etwa: I. Skovgaard-Petersen in Scandia 1960, S. 230 – 296 (zum isländischen Eigenkirchenwesen).
[5] Die gelegentlichen Begründungen, die Andreas Sunesen seiner Darstellung des schonischen Rechtes einfügt, erklären sich aus seinem Anliegen, eine summa dieses Rechtes zu geben.
[6] Auch hier entspricht die Grágásstelle dem kanonischen Recht, vgl. das Decretum Gratiani, ed. Friedberg C. XII, q. II, c. 25 mit Fn. 297.