Giger, Bruno, Gerichtsherren, Gerichtsherrschaften,

* Gerichtsherrenstand im Thurgau vom Übergang des Spätmittelalters bis in die frühe Neuzeit (= Thurgauische Beiträge zur Geschichte 130 [1993], [5-216]). Besprochen von Rudolf Gmür. ZRG GA 118 (2001)

GmürGiger20000609 Nr. 1155 ZRG 118 (2001)

 

 

Giger, Bruno, Gerichtsherren, Gerichtsherrschaften, Gerichtsherrenstand im Thurgau vom Übergang des Spätmittelalters bis in die frühe Neuzeit (= Thurgauische Beiträge zur Geschichte 130 [1993], [5-216]).

Diese von H. C. Peyer betreute historische Zürcher Dissertation befasst sich mit eigenartigen ehemaligen Verfassungsverhältnissen des südlich des Bodensees gelegenen Thurgau. Der Thurgau gehörte von 1264 bis 1461 den österreichischen Habsburgern und ging 1461, nach einem Krieg, auf die alteidgenössischen „Orte“ Uri, Schwyz, Obwalden und Nidwalden, Luzern, Zürich, Zug und Glarus über. Diese verwalteten den Thurgau bis 1798 durch einen von ihnen im Zweijahresturnus abwechselnd bestellten Landvogt mit Sitz in Frauenfeld. Erst 1803 wurde der Thurgau durch die von Napoleon vermittelte Mediationsverfassung ein selbständiger Kanton der Schweiz. Viel von dem, was Giger ausführt, ist schon in älteren Publikationen dargelegt worden, und manches davon dürfte wenigstens den Schweizer Historikern allgemein bekannt sein, so etwa, dass der Landvogt unter der Oberaufsicht der von den eidgenössischen „Orten“ beschickten Tagsatzung stand und dass diese alljährlich, bis 1712 im aargauischen Baden und, nach einem konfessionellen Krieg der unterliegenden katholischen Orte gegen Zürich und Bern und ihrem anschließenden Ausschluss von der Mitherrschaft über Baden, jeweils in Frauenfeld zusammentrat. Den Landvögten gegenüber standen Gerichtsherren als Inhaber von Niedergerichten mit Twing und Bann, Jagdrecht und dem Recht, ihnen zustehende Güter zu verleihen. Sie bestimmten die zwölf Richter, welche die Einzelfälle zu behandeln hatten. Von den gerichtlich verhängten Bussen konnten sie einen erheblichen Teil für sich behalten. Im übrigen waren ihre Rechte nicht einheitlich gestaltet, zumal manche von ihnen Leibeigene unter sich hatten, bei deren Ableben sie den „Haupt‑ oder Gewandfall“ bezogen.

Die Rechte der Gerichtsherren waren sehr alt und wurden unter der schwachen österreichischen Oberherrschaft nahezu unangefochten ausgeübt. Nach dem Übergang der Oberherrschaft auf die Eidgenossen aber mussten sie gegen die neuen kräftigen Oberherren, die zunächst weiteste Kompetenzen, auch diejenigen der Gerichtsherren, beanspruchten, nachdrücklich verteidigt werden. Dies geschah dadurch, dass die Gerichtsherren eine schon in österreichischer Zeit gebildete Korporation, den Gerichtsherrenstand, dem sie alle angehörten, neu belebten. Darüber kamen seit 1504 zahlreiche Verträge und Tagsatzungsbeschlüsse zustande. Ihnen entsprechend wurden seit 1509 alljährlich Gerichtsherrentage in Weinfelden abgehalten und allerdings oft nur von solchen Gerichtsherren persönlich besucht, die besondere Interessen wahrzunehmen hatten und bereit waren, diese anschließend auch auf der eidgenössischen Tagsatzung geltend zu machen. Schrittweise kam es zur Bildung einer eigentlichen Verfassung des Gerichtsherrenstandes und gleichzeitig zu einer Verfestigung der überlieferten Verhältnisse mit der Folge, dass der Thurgau bis zum Ende des Ancien Regime in vielem, z. B. im Straßenbau und in der Aufrechterhaltung der Leibeigenschaft, rückständig blieb. Dies hing freilich auch damit zusammen, dass die alle zwei Jahre wechselnden Landvögte sich nicht genügend in ihre vielfältigen Aufgaben einleben konnten und es daher oft an Kontinuität fehlen ließen, was zwar der Entfaltung örtlicher Gemeinden zugute kam, aber von diesen doch nur im Sinne eines streng bäuerlichen Konservativismus genutzt wurde.

Neu sind die Untersuchungen, die Bruno Giger, ausgehend von einer 1717 erstellten Thurgauer Karte über die in ihr eingezeichneten 132 Niedergerichte, angestellt hat. Aus einleuchtenden Gründen hat er diese Untersuchungen auf 40 Niedergerichte beschränkt, da das für sie zu Ermittelnde entsprechend auch für die andern gelten dürfte. Es ist ihm gelungen, nachzuweisen, dass der Bestand dieser Miniaturstaaten größtenteils stabil war, ferner, dass beim nicht häufigen Herrschaftswechsel vor allem finanzielle Gründe für die Veräußerungsabsicht des Herrn maßgebend waren und dass beim Übergang auf einen neuen Herrn konfessionelle Erwägungen eine große Rolle spielten. Der Veräußerunwillige pflegte zunächst einen Interessenten zu suchen, der einen hohen Preis zu zahlen bereit war. Einen solchen anzubieten aber waren evangelische Personen, besonders Patrizier aus Zürich, Konstanz oder St. Gallen, ausnahmsweise auch Bauern, eher in der Lage als katholische, was zur Folge hatte, dass die katholischen Innerschweizer Orte den Bischof von Konstanz oder einen Abt, vor allem den von St. Gallen, zu veranlassen suchten, ein Kaufangebot zu machen. Schließlich wurde die Herrschaft fast immer dem Meistbietenden veräußert. Wie das alles rechtlich ablief, ob die Innerschweizer Orte ein eigentliches Widerspruchs- oder Vorkaufsrecht gegen beabsichtigte Transaktionen geltend machen konnten, hat Bruno Giger nicht untersucht, da seine Abhandlung mehr allgemein‑historischen als rechtshistorischen Charakter hat.

Eindrucksvoll ist es, zu sehen, wie stark trotz friedlicher Verhältnisse konfessionelle Erwägungen, besonders seit 1712, das politische Leben im Thurgau bestimmten und wie sehr der konfessionelle Gegensatz zwischen dem Bischof und der Stadt Konstanz sowie dem Abt und der Stadt St. Gallen für den Thurgau bedeutungsvoll war und zu einer allmählichen Abschwächung des lange währenden Übergewichts katholischer Gerichtsherrschaften über reformierte führte, obwohl mit dem Konfessionswechsel einer Gerichtsherrschaft nicht immer ein solcher der in ihr Lebenden verbunden war.

Nicht erwähnt wurden in dieser Besprechung manche weitere Verfassungselemente: so das thurgauische Landgericht in Frauenfeld mit hoher Gerichtsbarkeit, das der Stadt Konstanz gehörte, aber nach dem von den Eidgenossen gewonnenen „Schwabenkrieg“ von 1499 auf die sieben alten eidgenössischen „Orte“ und Bern überging; die Pflicht der Gerichtsherren, jedem neuen Landvogt zu huldigen und ihm eine feste Summe zu entrichten, wofür dieser ihnen ein „Letzimahl“ verabreichte; ferner die Stellung des Landeshauptmanns als Höchstem und Vornehmsten des Gerichtsherrenstandes; die gewichtigen Funktionen des Gerichtsherrenschreibers und des Gerichtsherrenboten; sodann die Organisation eines Vorstandes und mehrerer Ausschüsse des Gerichtsherrenstandes, ebenso die Bildung von Quartieren mit Quartierhauptleuten.

Insgesamt legt die Kompliziertheit der dargestellten Verhältnisse den Schluss nahe, dass der bekannte Satz Confoederatio helvetica Dei providentia et confusione humana regitur nicht nur für die alte Eidgenossenschaft in ihrer Gesamtstruktur, sondern auch für ihre einzelnen Glieder, zumal für ihre Gemeinen Herrschaften, zutraf.

Münster/Bern                                                                                                               Rudolf Gmür