Heirbaut, Dirk, Over lenen en families

. Een studie over de vroegste geschiedenis van het zakelijk leenrecht in het graafschap Vlaanderen (ca. 1000-1305) (= Verhandelingen van de Koninklijke Vlaamse Academie van Belgie voor Wetenschappen en Kunsten Nieuwe reeks 2). Paleis der Academien, Brüssel 2000. 258 S. Besprochen von Kees Cappon.

Heirbaut, Dirk, Over lenen en families. Een studie over de vroegste geschiedenis van het zakelijk leenrecht in het graafschap Vlaanderen (ca. 1000-1305) (= Verhandelingen van de Koninklijke Vlaamse Academie van Belgie voor Wetenschappen en Kunsten Nieuwe reeks 2). Paleis der Academien, Brüssel 2000. 258 S.

 

Dieses Buch beschäftigt sich mit den Lehen in der Grafschaft Flandern in der Periode 1000-1305. Der flämische Rechtshistoriker Frans Lodewijk Ganshof (1895-1980) hat in seinem klassischen Werk Was ist das Lehnswesen? das Lehen definiert als eine Tenure die ein Lehnsherr seinem Vasallen unentgeltlich gewährt hat, um ihm den ihm zustehenden Unterhalt zu verschaffen und ihn in die Lage zu versetzen, den Dienst zu leisten, den er von ihm verlangte. Eine Tenure ist ein Gut, das sowohl bleibend als auch produktiv ist. Eine Tenure ist also nicht notwendigerweise eine Liegenschaft. Der Verfasser dieses Buches, der Genter Mediävist und Rechtshistoriker Dirk Heirbaut (1966), nimmt für seine Studie die Definition Ganshofs als Ausgangspunkt an, unter Streichung des Wortes ,unentgeltlich’. Nach der Meinung des Verfassers wurden in Flandern während des von ihm erforschten Zeitraumes Lehen oft vom Lehnsherrn für eine Gegenleistung gewährt.

 

Das mittelalterliche Lehnswesen (Feudalität) ist ein System von Obrigkeitsrechten. Die Karolinger (751/52-911) haben das System ins Leben gerufen, um ihre mächtigsten Untertanen damit in den Griff zu bekommen. Das Feudalrecht bestand, wie bekannt, aus zwei Teilen: einem schuldrechtlichen und einem sachenrechtlichen Teil. Der schuldrechtliche Teil oder, wie Heirbaut das nennt, das persönliche Lehnrecht, umfaβt Rechtssätze, die die persönliche Beziehung zwischen dem Lehnsherren und seinem Vasallen regeln. Diese Beziehung wird rechtlich formalisiert in einem vasallitischen Vertrag. Dieser Vertrag begründet Anfang und Ende der Beziehung und vor allem die gegenseitigen Verpflichtungen beider Parteien. Das dingliche Lehnrecht kennzeichnet das Lehen und umfaβt weiter das Lehnserbrecht, das lehnrechtliche eheliche Güterrecht und Rechtssätze bezüglich lehnrechtlicher Rechtsgeschäfte. Der Verfasser hat in seiner nicht publizierten Genter Doktorarbeit Het vroege Vlaamse leenrecht (ca. 1000-1305) (1997) das persönliche wie das dingliche Lehnrecht erörtet. Er hat seine Dissertation zum Zewck der Veröffentlichung umgearbeiteit in zwei Bücher. In Over heren, vazallen en graven. Het persoonlijke leenrecht in Vlaanderen, ca. 1000-1305 (1997) untersucht er das persönliche Lehnrecht. In dem vorliegenden Buch behandelt er das dingliche Lehnrecht.

 

Um das Jahr 1000 bricht die Feudalität in Flandern durch. Der Graf brauchte das System als ein Instrument zur Wahrung seiner Macht. Die Grafschaft hatte bis ungefähr 1305, einige Fälle ausgenommen, ein einheitliches Lehnrecht. In Westeuropa bildet das eine Ausnahme. In Flandern hatte sich ein einheitliches Lehnrecht entwickeln können, weil die meisten und wichtigsten Lehen vom Grafen gewährt waren. Die Lehnsgerichte der verschiedenen Lehnsherren befolgten das Lehnrecht des gräflichen Lehnsgerichts (der gräflichen curia). Als in der zweiten Hälfte des 12. und in der ersten Hälfte des 13. Jahrhunderts lokale gräfliche Lehnsgerichte errichtet wurden, hatte das eine Zersplitterung des flämischen Lehnrechts zur Folge. Das resultierte letzten Endes darin, dass nach dem Jahre 1305 jede flämische Region ihr eigenes Lehnrecht besaβ. Heirbaut betrachtet die Periode 1000-1305 als den Zeitraum der klassischen Feudalität. Das Jahr 1305 ist vom Verfasser gewählt als Terminus ad quem seiner Studie. 1305 nämlich beendet der französischen König beim Vertrag von Athis das feudale Verhältnis zwischen Flandern und Frankreich. In Flandern hatte dies zur Folge, dass das persönliche Element der Feudalität zu Ende kam.

 

Heirbaut bemerkt, dass es zwar einige groβe allgemeine Studien gibt über das mittelalterliche Lehnswesen, aber dass es durchaus an Studien über das Lehnrecht in einer bestimmten Region während einer bestimmten Periode mangelt. Flandern eignet sich besonders für eine solche regionale Studie. Liegt doch die Grafschaft Flandern im Zentrum des Gebietes, von dem man sagt, dass dort die Feudalität entstanden ist: zwischen Loire und Rhein. Überdies gibt es für die flämische Feudalität ausreichende Quellen, die schon von früheren Autoren genutzt wurden. So ist ein berühmter flämischer Text über die Feudalität die Beschreibung Galberts von Brügge der Mannschaftsleistung der Brügger Vasallen dem neuen Grafen gegenüber (im Jahre 1127). Erzählende Quellen über die Feudalität vor dem Jahre 1305 sind jedoch spärlich. Der Verfasser hat sich bei seiner Arbeit gestützt auf Urkunden und Rechnungen. Normative Rechtstexte sind vor dem Jahre 1305 nicht vorhanden.

 

Dieses Buch über das dingliche Lehnrecht ist damit notwendigerweise eine Studie der Rechtspraxis. Die folgenden Fragen versucht der Verfasser zu beantworten. Das persönliche Lehnrecht ist vor dem Jahre 1305 noch vital und nimmt im Ganzen des Lehnrechts noch einen fundamentalen Platz ein. Könnte man solches auch über das dingliche Lehnrecht aussagen? Ist das dingliche Lehnrecht im Zeitraum 1000-1305 ebenso veränderlich wie das persönliche Lehnrecht? Im persönlichen Lehnrecht hatte der Graf das Sagen. Trifft das auch für das dingliche Lehnrecht zu? Die zentrale Frage Heirbauts lautet schlieβlich, ob es sich beim Lehen nur um Beziehungen zwischen Herren und Vasallen handelt oder ob das Lehnrecht im Grunde ein Instrument einer dritten Partei ist. Und wer ist dann die dritte Partei? Der Graf oder jemand anders?

 

Anhand einer groβen Menge Quellen und Literatur bespricht Heirbaut den Begriff ,Lehen’, das Lehnerbrecht, das lehnrechtliche eheliche Güterrecht und die lehnrechtlichen Rechtsgeschäfte (unter anderem Übereignung, Kauf, Verpfändung). Die Analyse des Quellenmaterials ermöglicht die Formulierung folgender Schluβfolgerung. Im dinglichen Lehnrecht in Flandern dominiert die Familie; die Interessen der Familie kommen an erster Stelle. Das Erbrecht bewirkt, dass die Lehen in die Händen der Familie kommen. Die Familie versucht danach, die Lehen zu behalten, da sie das Fundament ihrer Macht sind. Der zentrale Platz der Familie bedeutet, dass die Witwen der Vasallen ein Witwentgut (doarium) bekommen, womit sie die Kinder der Vasallen erziehen können.

 

Durch die Tatsache, dass die Familie im dinglichen Lehnrecht einen zentralen Platz einnahm, hat die Sorge für Familienmitglieder, insbesondere für die jüngeren Söhne, in der untersuchten Periode viele Änderungen bewirkt. Man verzichtete auf ein System absoluter Primogenitur. Der älteste Sohn erbte Alles mit der Auflage, für seine jüngeren Brüder Sorge zu tragen. In der Praxis gab der älteste Sohn seinen Brüdern einen Teil des Nachlasses. Externe Faktoren haben auf diese und andere Entwicklungen im flämischen dinglichen Lehnrecht wenig Einfluβ ausgeübt. Zum Beispiel – vielleicht nicht so überraschend - auch nicht das römische Recht und das in den Libri feudorum aufgezeichnete norditalienische Lehnrecht, von welchem man doch wohl Einfluβ hätte erwarten können. Das kanonische Recht hat so dann und wann wohl einigen Einfluβ ausgeübt, aber dieser ist sehr beschränkt geblieben. Die eigene innere Dynamik, so Heirbaut, bildete den wichtigsten Faktor in der Entwicklung des Lehnrechts.

 

Mangels anderer regionaler Studien bezüglich des mittelalterlichen Lehnrechts ist ein Vergleich mit anderen Regionen in Europa nicht gut möglich. Der Verfasser kann aber dennoch feststellen, dass nirgendwo in Europa das Lehnrecht so sehr von der familialen Interessen durchzogen ist, wie in Flandern. Das flämische dingliche Lehnrecht steht völlig der Familie zu Diensten und fördert das Recht des ältesten Sohnes im hohen Maβe. Der zentrale Platz der Familie im dinglichen Lehnrecht wurde im persönlichen Lehnrecht vom Grafen eingenommen und nicht vom Lehnsherren oder Vasallen. Im dinglichen Lehnrecht treten nach 1305 keine groβe Änderungen mehr auf. Im persönlichen Lehnrecht dagegen sind solche Änderungen wohl fest zu stellen. Der Verfasser nennt diese Entwicklungen die Depersonalisation des persönlichen Lehnrechts. An die Stelle des Grafen tritt die Staatsverwaltung. Die vasallitischen Pflichten verschwinden. Der Graf braucht die Dienste nicht mehr. Dank der Steuererträge ist der Graf imstande, seine militärische Unterstützung anders zu organisieren.

 

Over lenen en families ist eine wissenschaftliches Werk über ein Thema, über das bis heute nur allgemeine Bücher erschienen sind. Das Buch ist sehr eingängig geschrieben und das verdient ein Kompliment. Ich habe nur zwei kritische Bemerkungen. Es ist bedauerlich, dass Heirbaut das persönliche und das dingliche flämische Lehnrecht nicht in einem zusammenfassenden Buch beschrieben hat. Durch die getrennte Behandlung bleibt das vollständige Bild der Feudalität in Flandern doch etwas hinter dem Horizont. Meine zweite Bemerkung betrifft die Annäherung an das Phänomen der Feudalität. Das Lehnswesen ist ins Leben gerufen zur Begründung fürstlicher Hoheitsrechte. Neben privatrechtlichen hatte das Lehnswesen auch öffentlichrechtlichen Aspekte. Dem öffentlichen Aspekt der Feudalität widmet Heirbaut keine Aufmerksamkeit. Ich habe das vermisst.

 

Amsterdam                                                                                                    Kees Cappon