Kleensang, Michael, Das Konzept

der bürgerlichen Gesellschaft bei Ernst Ferdinand Klein. Einstellungen zu Naturrecht, Eigentum, Staat und Gesetzgebung in Preußen 1780-1810 (= Ius Commune Sonderheft 108). Klostermann, Frankfurt am Main 1998. 460 S. Besprochen von Andreas Schwennicke.

Kleensang, Michael, Das Konzept der bürgerlichen Gesellschaft bei Ernst Ferdinand Klein. Einstellungen zu Naturrecht, Eigentum, Staat und Gesetzgebung in Preußen 1780-1810 (= Ius Commune Sonderheft 108). Klostermann, Frankfurt am Main 1998. 460 S.

 

Charakterisierung und Einordnung der preußischen Aufklärung sowie der im Allgemeinen Landrecht von 1794 kulminierenden Gesetzgebung im spätfriderizianischen Preußen gehören zu den umstrittensten Themen der preußisch-deutschen Rechtsgeschichte. Während die einen die rechtsstaatlichen und „konstitutionellen“ Errungenschaften der preußischen Gesetzgebung feiern und den emanzipatorischen Charakter der preußischen Aufklärungsdebatte seit 1780 betonen, stehen für die anderen die politisch und sozial konservativen Grundzüge des Allgemeinen Landrechts und der „bürokratische Werthorizont“ (Eckhart Hellmuth) der spätfriderizianischen Aufklärer und Justizreformer im Vordergrund. Für diese Autoren weisen erst die preußischen Reformen seit 1806 über den spätabsolutistischen Staat und die altständische Gesellschaft hinaus.

 

Kleensangs Arbeit geht zurück auf eine von Horst Möller betreute Magisterarbeit und entstand als Erlanger juristische Dissertation bei Gottfried Schiemann und Harald Siems. Sie hat Ernst Ferdinand Klein (1744-1810) zum Gegenstand, der als Mitautor des preußischen Allgemeinen Landrechts, Herausgeber politischer Zeitschriften und eifriger Verfasser von Büchern und Zeitschriftenartikeln wie kein anderer in der spätfriderizianischen Gesetzgebung und in der literarisch-politischen Diskussion der preußischen Aufklärung gleichermaßen zu Hause war. Dabei geht es Kleensang nicht um einen weiteren Beitrag zur Geschichte der preußischen Gesetzgebung, sondern darum, Kleins Position in der Aufklärungsdebatte zu bestimmen und die Verbindungen zwischen den Debatten der Zeit zwischen 1780 und 1810 und der beginnenden bürgerlichen Gesellschaft des 19. Jahrhunderts aufzuzeigen. Wie bei Reinhard Koselleck sollen die preußischen Reformen keine Zäsur, sondern eine Fortsetzung des in der spätfriderizianischen Zeit begonnen Reformprozesses darstellen.

 

Die kluge Distanzierung des Autors von den Diskussionen um das preußische Allgemeine Landrecht von 1794 macht den Blick auf die theoretischen Voraussetzungen sowie die Konsequenzen und Wirkungen der Aufklärungsdebatte frei. Kleensang entgeht auf diese Weise der sonst so häufigen Verwechslung der persönlichen Ansichten der Gesetzesverfasser mit ihrem von politischen Vorgaben sowie administrativen und sozialen Sachzwängen geprägten und bestimmten Gesetzgebungswerk, auch wenn er in der Einführung der Ansicht ist, die Diskussionen über den Charakter der Gesetzgebung seien aufgrund der in den Gesetzgebungsmaterialien erkennbaren Diskussionen zwischen den Gesetzesverfassern noch nicht abgeschlossen.

 

Kleensang vermeidet die sonst übliche Leben-und-Werk-Struktur vergleichbarer Arbeiten, indem er das Ergebnis seiner Untersuchung nach Themengebieten ordnet. Nach kurzen biographischen Hinweisen werden naturrechtliche Methode, Eigentumsordnung und Sozialordnung der bürgerlichen Gesellschaft, Gesetzgebung und ständische Gesellschaft sowie staatsrechtlich-politische Verfassung der bürgerlichen Gesellschaft behandelt. Kleensang definiert bürgerliche Gesellschaft im Anschluß an Manfred Riedel als das aristotelische Ideal einer rechtlich geordneten, zum gemeinsamen „guten“ Leben miteinander verbundenen Gemeinschaft von Bürgern, die einer in der Regel von ihnen selbst getragenen Herrschaftskonstruktion unterworfen sind. Für die Darstellung ist der Begriff schlecht geeignet, da er, so verwendet, auch die politischen Gesellschaftskonstruktionen der Untertanengesellschaft des 17. und 18. Jahrhunderts einschließt und es ja gerade der Gegenstand der Untersuchung ist, ob bei Klein jeweils (noch) die Untertanengesellschaft oder (schon) die auf freie wirtschaftliche Betätigung ausgerichtete Staatsbürgergesellschaft gemeint ist. Kleensang setzt mit dieser Terminologie zweierlei voraus: Einmal den Hegel’schen Dualismus von Staat und Gesellschaft, der seine besondere Berechtigung im Vormärz beweist, zum anderen das Ergebnis seiner Untersuchung, Klein als in die Richtung des 19. Jahrhunderts weisenden Theoretiker zu verstehen. Dies ist deshalb etwas unglücklich, weil Klein selbst den Begriff der bürgerlichen Gesellschaft anders verwendet (S. 391), nämlich als Synonym für den Staat. Besser wäre es gewesen, neutral von Staat und Gesellschaft zu sprechen, zumal die spätfriderizianische Gesellschafts- und Sozialordnung durch eine Fülle sich überlagernder Elemente gekennzeichnet ist, die eine Bezeichnung nur als „ständisch“ oder „bürgerlich“ wenig aussagekräftig sein lassen.

 

Ganz im Sinne Kants ist Kleins Leitmotiv nach Kleensang die allmähliche Auflösung des Spannungs­verhältnisses zwischen naturrechtlichem Anspruch und (gesetzgeberischer) Praxis durch Reformen. Klein folgt zwar der allgemeinen Auffassung des 18. Jahrhunderts vom Geltungs- und Anwendungsvorrang des positiven Rechts, erkennt dem Naturrecht aber nicht nur eine lückenfüllende, sondern eine kritische Funktion als Maßstab für die Frage zu, ob Gesetze „rechtmäßig“ sind und wie sie gestaltet sein müßten. Dies wird an Klein Eigentumsverständnis besonders plastisch. Kleensang zeigt, daß Klein das Eigentum anders als die ältere Lehre nicht als Summe historischer Berechtigungen, sondern als notwendiges Korrelat und Substrat der persönlichen Freiheit versteht, das zugleich durch die Freiheit der anderen eingeschränkt wird. Durch dieses in seinem Kern moderne freiheitsbezogene Eigentumsverständnis löst sich Klein von der sozialkonservativen herrschenden Meinung seiner Zeit, für die Kleensang exemplarisch Theodor Schmalz anführen kann. Kleensangs Überblick über die zeitgenössischen Eigentumstheorien und ihre praktischen und politischen Konsequenzen ist eines der Glanzstücke der Arbeit. Kleensang zeigt, wie sich die freiheitszentrierte Eigentumsbegründung bei Klein bei der Frage der Bauernbefreiung zwischen 1789 und 1807 vom Appell an die Einsicht der Gutsbesitzer bis zur Befürwortung der Abschaffung der Erbuntertänigkeit steigert. Der allmähliche Wandel der Ansichten ist, wie Kleensang zeigen kann, teilweise durch Wandlungen der öffentlichen Meinung bewirkt, teilweise aber auch durch opportunistische Nutznießung der durch die Ereignisse von 1806 bedingten Änderungen der Verfassung des nachfriderizianischen Preußen.

 

Im Bereich der Sozialordnung der bürgerlichen Gesellschaft kann Kleensang zeigen, daß es Klein generell um die Überwindung ständischer, auf Herkunft beruhender Differenzierungen zugunsten einer Anknüpfung an die Leistung des Individuums für die Allgemeinheit geht. Grund und Zweck der Gesetzgebung im ständisch geprägten Gemeinwesen ist für Klein ein individualistisch verstandenes Gemeinwohl, wobei Klein die freiheitssichernde rechtsstaatliche Funktion des Gesetzes betont. Vor diesem Hintergrund gelangt Klein zu einer positiven Bewertung des Preußischen Allgemeinen Landrechts von 1794 trotz seiner Unzulänglichkeiten, auch im Vergleich mit dem „moderneren“ Code Civil.

 

Während Kleins Gesellschaftslehre in die beginnende bürgerliche Gesellschaft weist, zeigt sich Klein in seinen staatsrechtlichen und politischen Anschauungen als typischer Vertreter einer Übergangszeit, der zwischen dem traditionellen absolutistischen Staatsverständnis und den neuen Ideen der französischen Revolution von Volkssouveränität und repräsentativer Verfassung schwankt, ohne aber den Boden der Verfassungswirklichkeit des friderizianischen Preußen verlassen zu wollen. Die Spannungen, denen Klein dabei als überzeugter Kantianer und Befürworter der französischen Revolution unterlag, äußern sich in einer Vielzahl unklarer und mehrdeutiger Begriffe, oder, wie es Kleensang ausdrückt, in einer generellen Diskrepanz zwischen naturrechtlichem Ansatz und staatsrechtlichen Folgerungen. Das heißt nicht, daß Klein revolutionäre Ideen der normativen Kraft des Faktischen untergeordnet hätte, sondern erweist das bei Klein wie den Vertretern des „älteren“ Naturrechts nur latent vorhandene revolutionäre Potential des naturrechtlichen Ansatzes. Der Monarch konnte auf der Basis der Staatsvertragslehre der verantwortliche und damit absetzbare Vertreter des Volkswillens sein, aber auch wie bei Klein der unwiderruflich mit uneingeschränkten Befugnissen ausgestattete absolute Herrscher, der seinen Auftraggebern nicht rechenschaftspflichtig ist. Daher steht in Kleins Denken die Revolutionsprophylaxe im Vordergrund. Dem dient die kontinuierliche Weiterentwicklung der sozialen und gesellschaftlichen Verhältnisse sowie die Erweiterung des Raums der „bürgerlichen“ Freiheit durch eine stabile, Rechtssicherheit verheißende zivile Gesetzgebung des absolutistischen Staats. Politische Freiheit hält Klein für Deutschland nicht für erforderlich, während er für Frankreich konzediert, daß ohne politische Freiheit die bürgerliche Freiheit nicht durchsetzbar gewesen sei. Kann die bürgerliche Freiheit auch ohne politische Freiheit erreicht werden, dann besteht aus der Sicht Kleins keine Notwendigkeit, die absolute Monarchie als Staatsform in Frage zu stellen und demokratisch-repräsentative Elemente einzuführen. Damit erweist sich Klein als typischer Vertreter einer nicht nur das ausgehende 18. Jahrhundert, sondern das ganze 19. Jahrhundert in Deutschland prägenden Bürokratie, die an die Stelle politischer Umgestaltung legislative und administrative Reformschritte für ausreichend hält. Es ist das Verdienst Kleensangs, dies in exemplarischer und zugleich höchst lesbarer Form herausgearbeitet zu haben.

 

Berlin                                                                                       Andreas Schwennicke