Kleinz, Angelika, Individuum und Gemeinschaft
Kleinz, Angelika, Individuum und Gemeinschaft in der juristischen Germanistik. Die Geschworenengerichte und das „gesunde Volksempfinden“ (= Frankfurter Beiträge zur Germanistik 36). Winter, Heidelberg 2001. 257 S.
Das gesunde Volksempfinden steht im Gegensatz zum individuellen gesunden Menschenverstand der bürgerlich-aufklärerischen Richtung des in Deutschland in der letzten Hälfte des 18. Jahrhunderts bestehenden Naturrechtsgedankens. Das gesunde Volksempfinden wurde als Schlagwort vom Nationalsozialismus zur Laienbeteiligung verwendet und 1936 in das neue Strafgesetzbuch (als § 2) eingeführt. Damit war die Wiedereinführung des Schwur- bzw. Schöffengerichts vorprogrammiert. Der Verfasserin geht es nicht um eine Geschichte der Schwurgerichtsbarkeit in Deutschland sondern um eine Geschichte des Grundsatzes der Laienbeteiligung. Zunächst stellt die Verfasserin das gesunde Volksempfinden und die analogen Formeln gemeiner Verstand oder Gemeinsinn dem französischen intime conviction und dem englischen common sense gegenüber. Neben dieser wortgeschichtlichen und philologischen Untersuchung sucht die Verfasserin nach den Quellen des gesunden Volksempfindens.
Als Vorbild für Deutschland liegt es nahe, dieses zunächst bei der Rezeption des Geschworenengerichtes und des code d’instruction criminelle während der napoleonischen Besatzung der linksrheinischen Gebiete zu suchen. Weitere Etappen bilden das Gutachten der Rheinischen Immediat Justizkommission (ohne weiteren Angaben), die sich mit der Abhandlung Anselm Feuerbachs, Betrachtungen über das Geschworenen Gericht 1813, auseinander zu setzen hatte (S. 74ff.), der Germanistenversammlung in Lübeck vom 28. bis 30. September 1847, an der Carl Joseph Anton Mittermaier sich für den Schwurgerichtsgedanken einsetzte, und die Paulskirchenversammlung von 1848. Während sich Karl Binding negativ zu den Schwurgerichten stellte, befürworteten sie Ludwig von Bar, Liepmann, Wolfgang Mittermaier, Eduard Osenbrüggen. Leue, Gneist, Köstlin und Heinze alle mit dem Argument, dass Schwurgerichte das Rechtsbewusstsein des Volkes vertreten würden. Wichtiges ausländisches Präjudiz zum gesunden Volksempfinden sind die folkways des Amerikaners Sumner.
Da die Verfasserin die „Fiktion eines kollektiven Rechtsbewusstseins“ (S. 23) an Hand der Geschichte des Schwur- bzw. des Schöffengerichtes exemplifiziert, ist ihre Monographie zugleich eine Geschichte des Schwur- bzw. Schöffengerichtes in Deutschland. Der Leser vermisst jedoch eine Klarstellung der verwendeten Begriffe „Schwurgericht“ einerseits und „Schöffengericht“ andererseits. Diese Begriffe sind nicht identisch. Beim Schwurgericht handelt es sich um „ein zum Entscheid von Strafsachen gebildetes Gericht, in welchem die Urteilsaufgabe in der Weise zwischen ständigen und nichtständigen Rechtsprechern geteilt ist, dass den nichtständigen Rechtsprechern die Schuldfrage, den ständigen Rechtsprechern die Straffrage zur alleinigen Lösung überlassen bleibt oder dass allermindestens die nichtständigen Rechtsprecher allein die Schuldfrage zu beantworten haben“ (H. F. Pfenninger, Schwur- und Schöffengericht in der Schweiz in Verhandlungen des Schweizerischen Juristenvereins Basel 1938 S. 702aff.). Das Schwurgericht unterscheidet sich vom Schöffengericht einmal dadurch, dass es nicht ständig ist. Die Laien werden vielmehr nach Zufall und von Fall zu Fall bestimmt, während die als Schöffen tätigen Laien für eine bestimmte Amtszeit bestellt werden. In seiner reinsten Form besteht das Schwurgericht nur aus Laien, an deren Entscheid kein beamteter Richter mitwirken darf. Den Nationalsozialisten ging es aber nicht um diese Differenzierung sondern lediglich darum, das Laienelement gegenüber den professionellen Richtern zu verstärken, weil angeblich die Laien das gesunde Volksempfinden vertreten, während der gelehrte und beamtete Richter als betriebs- bzw. berufsblind gilt. Die Verfasserin qualifiziert das kollektive Rechtsbewusstsein als Fiktion, ohne dies zu begründen. Das Schwurgericht wird nun von maßgebenden Juristen (so Pfenninger S. 731a) mit dem Argument verteidigt, dass der Laie wegen seiner großen Lebenserfahrung bei der Beweiserhebung aufmerksamer und empfänglicher ist und dass seine Unabhängigkeit viel besser gewährleistet ist, weil er als nichtständiger Richter und nur von Fall zu Fall eingesetzt ist. Dies sind Argumente, die das kollektive Rechtsbewusstsein auch nicht zu begründen vermögen, aber immerhin Hinweise dafür geben, warum die Laienbeteiligung an Gerichten postuliert wird. Auch wäre bezüglich Emotionalisierung der Schiedsgerichte, wofür sich offenbar die Nationalsozialisten erwärmt haben, die heutige Praxis der amerikanischen Schwurgerichte heranzuziehen gewesen.
Unerklärt bleibt, was die Verfasserin im Titel ihres Buches unter juristischer Germanistik versteht. Voraussichtlich versteht sie damit die bisher als germanisch bezeichnete Geschichte des deutschen mittelalterlichen Rechtes. Nun sind die beiden Kapitel (S. 187ff. und 202ff.), die sich damit befassen, die schwächsten:
Bezüglich Friedlosigkeit ist darauf hinzuweisen, dass diese erst in merowingischen Quellen als solche erscheint. Ob sie von der Kirche in Analogie zur Exkommunikation ins Leben gerufen worden ist, muss offen bleiben. Unübersehbar ist anderseits die Ähnlichkeit mit der römischrechtlichen tecti et aquae et ignis interdictio. Auch ist die Ausgrenzung von Ungeliebten wahrscheinlich so alt wie die Menschheit. Diese Andeutungen müssen hier genügen, da ich mich mit der Friedlosigkeit in mehreren Arbeiten befasst habe (Wüstung und Fehde, in: Schweizerisches Archiv für Volkskunde 66 [1970] S. 1ff.; Wargus – friedlos – Wolf, in: Festschrift Robert Wildhaber zum 70. Geburtstag, 1972 S. 43). Die Problematik ist jedenfalls viel komplexer als sie bei der Verfasserin erscheint.
Sicherlich war das mittelalterliche Gerichtsverfahren insbesondere auf dem Land in Formalien und Riten eingebunden, aber dies schloss nicht aus, dass die Urteiler mindestens über zwei Fragen zu entscheiden hatten, wer von den Parteien die Beweislast trägt und ob der geleistete Beweis als rechtsgenügsam zu betrachten ist. Zuweilen hatten sie aber auch Sachfragen, wie ein Grenzverlauf oder Rechtsfragen, wer erbberechtigt ist, zu entscheiden. Hierfür war massgebend, ob der Entscheid einstimmig gefällt wurde, womit erst „Recht“ gesprochen war.
Damit hängt ein weiterer Aspekt der Schwurgerichtsbarkeit zusammen, der in der besprochenen Arbeit nicht erörtert wird, die Vorstellung, dass die Geschworenen dazu legitimiert sind, in einem umstrittenen Straftatbestand über einen Verbrecher zu urteilen, weil sie den Durchschnitt der jeweiligen Volksgemeinschaft vertreten und kollektiv entscheiden müssen. Deshalb lautet § 198a Ziffer 1 der Zürcher Strafprozessordnung: „Der Angeklagte wird dem Geschworenengericht überwiesen, wenn er den eigentlichen Sachverhalt nicht anerkennt“ und für die Bejahung der Schuldfrage sind nach § 266 derselben Strafprozessordnung acht von neun Stimmen erforderlich. Man kann nun diese Regeln als Verwirklichung der Demokratie, als Ausfluss des Rechtsbewusstseins des Volkes oder als Abschiebung der Verantwortung auf ein Kollektiv interpretieren. Am Zusammenhang mit dem von der Verfasserin behandelten Thema ist nicht zu zweifeln.
Diese zugegebenermaßen lange Besprechung schließe ich mit dem Sprichwort „Kleine Ursache, große Wirkung“. Das an und für sich selbst hochbrisante Schlagwort gesundes Volksempfinden hat die Verfasserin gezwungen, einen reichlich verminten Weg zu begehen: „Minen“ stellen einmal die immer noch hoch umstrittenen Schwurgerichte, dann die wegen ihren vielfältigen Quellen hochkomplexe Friedlosigkeit und schließlich der heute mehr denn je angefochtene Begriff „Volk“, von der juristischen Germanistik gar nicht zu reden. Die Rechtsgeschichte muss aber der Verfasserin dankbar sein, dass sie wieder einmal daran erinnert wird, dass alle diese Fragen ungelöste Hausaufgaben der Rechtsgeschichte sind.
Winterthur Theodor Bühler