Krah, Adelheid, Die Entstehung der potestas regia
Krah, Adelheid, Die Entstehung der potestas regia im Westfrankenreich während der ersten Regierungsjahre Kaiser Karls II. (840-877). Akademie, Berlin 2001. 346 S.
Nach einem Forschungsüberblick und umrißhafter Disposition des Werkes schildert die Verfasserin zunächst die Entstehung der Königsherrschaft Karls II. in den Stufen seiner Ausstattung durch den Vater, Kaiser Ludwig den Frommen, und stellt heraus, daß dessen Pläne 840 am Sohn aus erster Ehe, Ludwig dem Deutschen, scheitern. Im Ergebnis führt dies zur Kooperation der Stiefbrüder gegen Kaiser Lothar I. Schon in dieser Einführung wird in Abkehr von mancher personenbezogenen Sichtweise der älteren Forschung ein Akzent gesetzt hinsichtlich des Auftretens von Verbänden der Magnaten. Pate für die Ausführungen ist von da an oftmals Nithard, dessen Aussagen als einem der an den Auseinandersetzungen Mitbeteiligten hoher Wert zukommt. Karls II. rasches Handeln erbrachte bald die für die Abdrängung Pippins II. und die Abschirmung gegenüber Lothar I. notwendigen Arrangements mit den Großen in Burgund und in Teilräumen Aquitaniens. Der wahrscheinlich im November 840 zwischen dem Kaiser und den Magnaten ausgehandelte Vertrag von Orléans brachte Karl II. eine vorläufige Entlastung. (Zur Chronologie vgl. besonders S. 59 Anm. 71), dessen entschlossenes Handeln in Verbindung mit dem Auftreten Ludwigs des Deutschen ließen jedoch jene Absprache bald obsolet werden (S. 67ff.). Unterstützt werden die Analysen des politischen Geschehens durch eine in dieser Klarheit erstmals vorgelegte Darstellung des militärischen Handelns im Frühsommer 841, des Verlaufs der Schlacht von Fontenoy am 25. Juni 841 (bes. S. 77-86), wie überhaupt Rüstungen, Logistik und Taktik auch in anderen Abschnitten Aufmerksamkeit geschenkt wird. Die subtilen Erörterungen über Karls II. Königsethik als Teil der geistigen Auseinandersetzung mit den auf Ludwig den Frommen und Karl den Großen zurückweisenden Traditionselementen und der Rechtfertigung des Handelns im Krieg, sichtbar gemacht nicht zuletzt im Ritual der Aufstellungen vor der Schlacht, wird von da an im Verhalten Karls II. als das wohl wichtigste Element aufgezeigt und im Rückgriff auf Bibel, Kirchenväter und Theologie sicher belegt. Von da an weitet sich die Darstellung aus auf die Diskussion der in der Forschung oftmals erörterten Leitideen der fraternitas, der Königstreue, der vasallitischen Bindung der Magnaten. Imperium, regnum, res publica als Hauptvorstellungen und Nuancierungen von Herrschaftskonzepten nicht nur der karolingischen Brüder, sondern auch der Magnaten, werden als Ergänzung des Kapitels über die Schlacht von Fontenoy behandelt (S. 87-110).
Nach diesen eher auf die Dynamik der Ereignisse nach Ludwigs des Frommen Tod gerichteten Kapiteln geht Frau Krah über zur Interpretation der in Nithards Bericht über die Schlacht von Fontenoy gebrauchten Begriffe der potestas regia, foedus, fraternitas (S. 127ff.). Das Ergebnis des Kampfes wurde aufgefaßt als Gottesurteil. Vom Bündnis Karls II. mit Ludwig dem Deutschen geht die Darstellung weiter unter Würdigung der fraternitas zu den Straßburger Eiden (S. 131ff). Überzeugend wird dargelegt, daß durch die Einvernahme der Magnaten in das Bündnis der beiden Lothar I. zunächst in die Position des Außenseiters abgedrängt wird (bes. S. 134). Die weltlichen Großen treten auf als Bewahrer und Garanten der Vertragstreue der Könige. Unter ideologischer Prägung durch die Bischöfe entstand dann wohl im April 841 das allein bei Nithard (IV,1) genannte Aachener Reichsteilungsprojekt, das von Frau Krah intensiver als von der bisherigen Forschung gewürdigt wird als Ereignis im Rahmen eines formalen Prozeßaufbaues in gewisser Parallelität mit dem des Straßburger Treffens. Anschließend wendet sie sich der ebenfalls bislang vernachlässigten Phase des Ausgleiches der drei Karolinger zu, wobei wiederum Nithards Aussagen interpretiert werden. Fraternitas und Königsbuße stehen im Mittelpunkt dieses Abschnitts, in dem klargelegt wird wie Lothar I. die geistlichen Großen für sich gewinnt, die weltlichen der von diesen entwickelten Friedensinitiative beitreten, man sich am 15. Juni 842 auf der Insel Ansille in einem Übereinkommen trifft. Darin wurde als Grundrichtung des politischen Handelns die gleichgewichtete Teilhabe aller drei Brüder an der Nutzung des Reichsgutes, faktisch also die Dreiteilung des Gesamtreiches, festgelegt (S. 165ff.). Gewähr für die Darstellung bietet jetzt nicht mehr Nithard, der unvollständig bleibt. Bessere Auskunft geben die Annales Bertiniani zum Jahr 842.
Nach einer Analyse von Nithards Darstellungsweise als Stimmungsbild seiner Zeit schließt Frau Krah breit angelegte Erörterungen über die Verträge von Verdun und Coulaines an (S. 187-256). Nach einem exzellenten Überblick über die insbesondere jüngere Forschung wertet sie die descriptio regni als Bestandsaufnahme und weist zutreffend darauf hin, daß die Grenzziehungen für die künftigen regna erheblich beeinflußt wurden durch die Rücksichtnahme auf Besitzverhältnisse der Magnaten. Die heutige Kenntnis über die Verfahrensweise leidet unter dem wohl bald einsetzenden Schwund von Inventarisationsquellen, von denen faktisch nur das 1953 durch Otto P. Clavadetscher mustergültig bearbeitete Reichsguturbar aus Churrätien erhalten blieb. Zum Vergleich sei auf Ermittlungen von Wolfgang Metz hingewiesen, der in den Weißenburger Quellen auf Spuren karolingischen Reichsgutes stieß, 1960 eine - von Frau Krah nicht herangezogene - Darstellung von Verwaltungsstrukturen aus weit gestreuten fremden Nennungen gab. Nicht unerwähnt sollen die Namen Karl Glöckner und Rudolf Kraft bleiben, deren zumeist auf das Hochmittelalter konzentrierte Beiträge immerhin Rückschlüsse auf die vorangegangene Epoche zulassen. Nach ihren Erwägungen über die Vorgehensweise der Reichsteilung, die zum Vertrag von Verdun führte, geht sie auf dies Ereignis selbst weniger ein, sondern stellt den Vertrag zutreffend dar als ein Geschehen, das nicht isoliert, sondern in einer Kette der Entwicklungsphasen in den Auseinandersetzungen seit 829 und dem Tod Kaiser Ludwigs des Frommen gesehen werden muß, zuletzt seit den Zusammenkünften in Koblenz und Diedenhofen. Ohnehin gibt es keine Vertragsurkunde. Die Reichsteilung sieht die Verfasserin im Gefolge Karl Ferdinand Werners als Werk der fränkischen Aristokratie, das maßgeblich auf die Initiative des Adels hin konzipiert wurde (so S. 187). Sehr viel mehr Gewicht haben die Ausführungen über den Vertrag von Coulaines (S. 205-225), mit dem man in der Textüberlieferung festen Boden betritt. In weiterführender Diskussion der Überlegungen Peter Classens und Elisabeth Magnou - Northiers rückt sie entschieden ab von der Vorstellung, hier sei die Grundlage für das mittelalterliche Königtum geschaffen worden, wie sie in der französischen Forschung vertreten wurde. Vielmehr betont sie den Einigungscharakter des Vertrags zwischen insbesondere weltlichen und geistlichen Großen und König Karl II. als Integrationsfigur (S. 254). Das Gebot der Friedenswahrung in den capitula erließ der König in Kooperation mit den Großen, wobei den geistlichen die normative Kraft zugesprochen wird.
Die Formung von Rechtsnormen durch die Kanonistik (S. 220ff., dazu S. 281-296 als Beitrag zur Konziliengeschichte um die Mitte des 9. Jahrhunderts) wird eindrücklich unterstrichen. In der Phase zwischen den Verträgen von Verdun und Coulaines, also von August bis November 843 fanden offenbar vielfältige Verhandlungen statt, ohne daß jedoch Inhalte zu fassen sind. Hinweise verdankt man den Synoden mit deren Bemühung um eine Herrschaftsdefinition, wobei der Synode von Germigny besonderer Rang zukommt. Auf ihre Bedeutung weist Frau Krah erstmals hin. Gleichsam als Ausblick dient ein Kapitel über die Tragfähigkeit der neuen Herrschaftsstrukturen und Karls II. offensive Politik in Aquitanien zur Überwindung einer Niederlage gegen Pippin II. im Angoumois im Juni 844, der dann in St. Benoît-sur-Loire im Sommer des Jahres 845 dessen Einbindung in den Magnatenverband folgte.
Wiesbaden Alois Gerlich