Lamprecht, Oliver, Das Streben nach Demokratie
Lamprecht, Oliver, Das Streben nach Demokratie, Volkssouveränität und Menschenrechten in Deutschland am Ende des 18. Jahrhunderts (= Schriften zur Verfassungsgeschichte 63). Duncker & Humblot, Berlin 2001. 174 S.
Die in Freiburg im Breisgau entstandene Dissertation wendet sich gegen - zweifellos oberflächliche - Tendenzen in der „heutigen Verfassungsgeschichtsschreibung“, die, wenn es um den modernen Verfassungsstaat geht, erst 1815 ansetzt und vorherige Zeitabschnitte ausklammert oder sich auf kurze Darstellungen geistesgeschichtlicher Voraussetzungen für die Entstehung der Verfassungen beschränkt. Der Verfasser konzentriert sich auf das ausgehende 18. Jahrhundert, um nachzuweisen, dass „modernes deutsches Verfassungsrechtsdenken und Staatsverständnis nicht erst im Jahre 1806 bzw. im Vormärz seinen Anfang nimmt“. Auf der Suche nach „Trägern des modernen Verfassungsrechtsdenkens“ widmet er sich den sogenannten deutschen Jakobinern und ihren Beiträgen zur Verfassungsentwicklung um 1800. Dabei geht er so vor, dass er die deutschen Jakobiner mit den vielen Juristen in ihren Reihen so oft wie möglich selbst zu Wort kommen lässt; diese Konzentration auf die authentischen Aussagen der Jakobiner soll den Zugang zu ihrem Denken erleichtern.
Die Arbeit ist wie folgt gegliedert: Nach einem Kapitel über die Strömungen im verfassungsrechtlichen Denken in Deutschland am Ende des 18. Jahrhunderts folgt ein Kapitel über den Jakobinismus. Danach werden die Berührungspunkte zwischen deutschem Jakobinismus und dem Staats- und Verfassungsrecht untersucht. Weitere Kapitel beschäftigen sich mit ausgewählten und vertieften Aspekten des jakoninischen Staats- und Verfassungsverständnisses und den Fortwirkungen des jakobinischen Gedankenguts.
In dem Kapitel über die Strömungen mit verfassungsrechtlichen Bezügen des ausgehenden 18. Jahrhunderts fehlen Ausführungen zur Staatstheorie des aufgeklärten Absolutismus in Österreich und Preußen, nach der den Bürgern immerhin ein vom Staat nicht antastbarer Bereich der natürlichen Freiheit (auch als „bürgerliche Freiheit“ bezeichnet) gewährt wurde. Insbesondere bleibt unberücksichtigt, dass z. B. im Zuge der Schaffung des preußischen Allgemeinen Landrechts rechtsstaatliche Bestrebungen zu Tage getreten sind, die in das 19. Jahrhundert hinein gewirkt haben dürften. Hier werden verfassungshistorische Forschungsergebnisse (H. Conrad, Schwennicke) ausgeblendet.
Im Kapitel „Jakobinismus“ geht der Verfasser von dessen Ursprüngen in Frankreich aus; außerhalb Frankreichs konnte er durchaus eigenständige und unabhängige Züge entwickeln. Die Bezeichnung „deutscher Jakobinismus“ ist allerdings nicht unumstritten. Der Verfasser geht auf die zeitgenössischen Beschreibungen ein und meint, angesichts der Vielzahl von Definitionsversuchen in der ehemaligen Deutschen Demokratischen Republik, später aber auch in der Bundesrepublik sei es nicht möglich, eine allgemein gültige Aussage zu dem zu wagen, was Jakobinismus ausmache, zumal sich die Vertreter unterschiedlicher Forschungsdisziplinen dem Jakobinismus mit verschiedenartigen Erkenntnisinteressen näherten. Als kleinsten gemeinsamen Nenner zur Definition des deutschen Jakobinismus bezeichnet der Verfasser die folgende Grundannahme: „Die Jakobiner sind als radikale Oppositionsbewegung zum herrschenden Absolutismus zu verstehen, als Aufklärer und (potentielle) Revolutionäre, die demokratische Ansichten vertraten und eine neue gesellschaftliche Ordnung schaffen wollten“. Die Schriften der Angehörigen dieser Gruppe sollen als jakobinische Literatur auf ihren verfassungsrechtlichen Gehalt untersucht werden. Zunächst geht der Verfasser aber der Frage nach Herkunft und Organisationsformen der deutschen Jakobiner nach. Nicht selten kamen die Mitglieder aus Freimaurerverbünden, Illuminatenkreisen und Lesegesellschaften, deren Organisationsformen auch als Vorbilder dienten. Schwerpunkte bildeten sich im Rheinland (Mainz), aber auch in Hamburg. Hier entstanden nach dem Vorbild der französischen Jakobinerclubs bedeutende Jakobinerclubs, die ein Sammelbecken der deutschen Jakobiner darstellten und die Querverbindung zum französischen Netzwerk bildeten.
Ein umfangreiches Kapitel ist den Berührungspunkten zwischen deutschem Jakobinismus und dem Staatsrecht und Verwaltungsrecht gewidmet. Der Verfasser stellt fest, dass im Gegensatz zu ihren französischen Brüdern die deutschen Jakobiner kein „spezifisch jakobinisches Verfassungsverständnis“ durchgesetzt hätten. Es gab allerdings ihnen zugerechnete Verfassungsentwürfe, die, zusammen mit der jakobinischen Publizistik und gedruckten Reden, Schlussfolgerungen auf die Vorstellungen deutscher Jakobiner über eine staatliche Ordnung zulassen. Der Verfasser betrachtet an Verfassungsentwürfen u. a. „Die Konstitution für die Stadt Köln“ und den „Entwurf einer republikanischen Verfassungsurkunde“ ein wenig näher. Der Autor der Kölner Konstitution wollte den Kölnern die Vorzüge der französischen Verfassung unter Betonung der Gewaltenteilung und der Menschenrechte und Bürgerrechte gewähren; außerdem betonte er das System der doppelten Repräsentation. Die „Republikanische Verfassungsurkunde“ enthielt neben der Garantie von Menschen- und Bürgerrechten u. a. auf ein ausgewogenes und auf gegenseitige Kontrolle abgestimmtes Machtgefüge abzielende Regelungen, die auf die Einbindung der Exekutive ausgerichtet waren. An der Spitze der Exekutive sollte ein mit fünf Mitgliedern besetzter Staatsrat stehen, welcher der französischen Direktorialverfassung nachgebildet war.
Ein weiteres Unterkapitel ist den Erklärungen und Reden des organisierten Jakobinismus gewidmet. Der Verfasser misst den Ansprachen im Mainzer Jakobinerclub besondere Bedeutung zu. Für die Mainzer Jakobiner übte die „Fränkische Konstitution“ eine Vorbildfunktion aus; sie wurde immer wieder als Hort von Freiheit und Gleichheit beschworen. Einer der Mainzer Hauptredner, Wedekind, definierte Freiheit als die Befugnis, alles tun zu dürfen, was durch rechtmäßige Gesetze nicht untersagt sei; unter Gleichheit verstand er die Rechtsgleichheit. In Reden in dem am 17. März 1793 konstituierten Rheinisch-Deutschen Nationalkonvent und in den Reden, die in den konstitutionellen Zirkeln gehalten wurden, ging es immer wieder um die Anlehnung an Frankreich, nicht zuletzt um Fragen des Anschlusses.
Das Unterkapitel über die jakobinische Publizistik ist angesichts der Tatsache, dass die deutschen Jakobiner als Begründer des Typus der sogenannten politischen Zeitschriften angesehen werden, wenig ergiebig. Die vom Verfasser angekündigten Schlussfolgerungen auf die Vorstellungen der deutschen Jakobiner über eine staatliche Ordnung fallen ein wenig dürftig aus.
In einem weiteren umfangreicheren Kapitel geht der Verfasser auf „ausgewählte und vertiefte Aspekte des jakobinischen Staats- und Verfassungsverständnisses“ ein. Er beginnt mit Aussagen zur Staatsorganisation und arbeitet heraus, dass die deutschen Jakobiner sich für die Überwindung der Fürstenherrschaft und die Errichtung einer Republik einsetzten. Tragende Säulen dieser Republik sollten die Volkssouveränität und die Gewaltenteilung sein. Weitere Kernbegriffe jakobinischen Verfassungsverständnisses waren Demokratie und Repräsentation. Der Föderalismus war hingegen kein vorrangiges Ziel; dies ist bei der Orientierung am französischen Beispiel nicht verwunderlich. Menschenrechten und Bürgerrechten galt das besondere Augenmerk. Bei der Einordnung des jakobinischen Freiheitsverständnisses macht sich noch einmal nachteilig bemerkbar, dass der Verfasser die Beschäftigung mit der Literatur und Entwicklung der Menschenrechte und Bürgerrechte im Deutschland des ausgehenden 18. Jahrhunderts vernachlässigt hat. Ähnliches lässt sich für die - hier etwas spärliche - Behandlung des jakobinischen Gleichheitsbegriffs sagen. Bei dem Streben nach Gleichheit – der Verfasser spricht von der „Herausbildung eines modernen Gleichheitsbegriffs“ – geht es vor allem um die Überwindung der feudalständischen Rechts- und Sozialordnung, wie sie z. B. auch noch im ALR ihren Niederschlag gefunden hatte. Diese Zusammenhänge werden nicht sichtbar. Die Meinungs- und Pressefreiheit wird unter „sonstige“ abgehandelt. Damit wird man deren Bedeutung nicht gerecht. Zu Beginn des 19. Jahrhunderts galt die Pressefreiheit als die Meinungsfreiheit schlechthin; in der Terminologie des Vormärz symbolisierte sie die geistige Freiheit überhaupt. Leider ist die maßgebliche Literatur zu dieser Thematik ebenfalls nicht berücksichtigt.
In einem kurzen Kapitel äußert sich der Verfasser noch zu den Fortwirkungen des jakobinischen Gedankenguts, die nach den Befreiungskriegen wegen der ideellen Nähe zu den französischen Vorbildern erschwert waren. Außerdem fand sich der im Vordringen befindliche Liberalismus mit der monarchischen Staatsform ab, wenn er sich andererseits auch für Menschenrechte und die Bürgerrechte einsetzte. Erst im Vormärz werden Teile des Gedankengutes der deutschen Jakobiner wieder erkennbar; gleichzeitig begannen konservative Kreise fortschrittliche Kräfte als Jakobiner zu diffamieren. Der Bogen, den der Verfasser im Hinblick auf die Kontinuitäten jakobinischer Rechtsvorstellungen bis hin zum Grundgesetz zieht (z. B. Enteignung und die Einteilung des Freistaates in Kreise und Gemeinden) wirkt wenig überzeugend.
In einer Schlussbetrachtung hebt der Verfasser noch einmal die Verdienste hervor, die sich die deutschen Jakobiner seiner Meinung nach bei der Ausbildung eines modernen Staatsgebildes gemacht haben. Dabei betont er nochmals das Eintreten für das Prinzip der Volkssouveränität und für den Schutz der Menschen durch Grundrechte.
Der Wert der Arbeit liegt darin, dass es dem Verfasser gelungen ist, die Aufmerksamkeit der verfassungshistorischen Forschung auf das Wirken des deutschen Jakobinismus gelenkt zu haben. Die aufgezeigten Mängel überdecken ein insgesamt positives Bild nicht. Ob eine noch intensivere Beschäftigung mit dieser Materie mehr Aufschluss bringen könnte, mag bezweifelt werden.
Hagen Ulrich Eisenhardt