Ortlieb, Eva, Im Auftrag des Kaisers
Ortlieb, Eva, Im Auftrag des Kaisers. Die kaiserlichen Kommissionen des Reichshofrats und die Regelung von Konflikten im Alten Reich (1637-1657) (= Quellen und Forschungen zur höchsten Gerichtsbarkeit im alten Reich 38). Böhlau, Köln 2001. 552 S.
Die Autorin trägt mit ihrer Arbeit, mit der sie 1999 promoviert wurde, dazu bei, gleich auf zweierlei Weise noch bestehende Lücken in der Erforschung der Geschichte der höchsten Gerichtsbarkeit im Reich der frühen Neuzeit zu schließen, obwohl diese insgesamt gesehen mittlerweile als blühende Forschungslandschaft bezeichnet werden kann. Denn zum einen wendet sich Ortlieb einem Instrument des Reichshofrats zu; im Vordergrund der neueren und bislang abgeschlossenen Untersuchungen stand bisher v. a. das Reichskammergericht mit Arbeiten zu dessen Geschichte, Verfassung und politischen Bedeutung, aber auch solchen, die sich mit der Rechtsprechungstätigkeit zu bestimmten Themen befassen. Dass der Reichshofrat bislang seltener Gegenstand der Untersuchungen war, hat mehrere Gründe, in praktischer Hinsicht dürfte dies an der in der Vergangenheit noch weitgehend unerschlossenen Aktenlage liegen. Nur am Rande sei erwähnt, dass es gerade die Autorin ist, die derzeit im Rahmen eines von der Volkswagenstiftung geförderten Projekts für Abhilfe dieses Zustandes sorgt – und spätestens durch die Vorlage der hier besprochenen Arbeit unter Beweis gestellt hat, dass sie als versierte Kennerin des Reichshofrats bestens dazu geeignet ist (zur Neuerschließung der Akten Ortlieb, in: MittÖStaatsarchiv 50, 1ff.). Zum anderen gilt für beide höchste Gerichte der Befund, dass bislang nur Teilbereiche der Tätigkeit kaiserlicher Kommissionen beleuchtet wurden. Die vorhandenen Einzelstudien konzentrieren sich weitgehend auf reichsstädtische Bezüge und soziale Konflikte. Ortliebs Arbeit orientiert sich zwar ebenfalls an Konflikten (16, 55), untersucht aber andere Interessengegensätze zwischen verschiedenen Gliedern des Reiches und ermöglicht so erstmals eine generellere Einschätzung des Leistungsvermögens dieses Gremiums. Die Möglichkeit, allgemeine Aussagen treffen zu können, erreicht die Autorin, indem sie ihre Untersuchung auf die Regierungszeit Kaiser Ferdinands III. (1637-1657) begrenzt und den Aktenbestand des reichshofrätlichen Archivs – der Reichshofrat entschied über die Einsetzung einer Kommission – für diesen Zeitraum systematisch und vollständig erfasst. Dabei ist diese Spanne mit Bedacht gewählt: Die reichsgerichtliche Tätigkeit wurde für das 17. Jahrhundert bislang vergleichsweise spärlich, die Bedeutung des Kaisertums hauptsächlich für die Zeit nach 1648 untersucht. Vor allem aber verklammert die Regierungszeit Kaiser Ferdinands III. das Zeitalter des Dreißigjährigen Kriegs mit dem seiner Bewältigung. Es ist deshalb als eines der besonderen Verdienste der Arbeit zu bezeichnen, wenn anhand der Quellen deutlich wird, dass durch die den Zeitraum des Krieges überdauernde Tätigkeit der Kommissionen als Reichsinstitution am Reichsverband festgehalten wurde.
Die Arbeit ist in 5 Abschnitte gegliedert. Nach einer Einführung in Forschungslage und Erläuterung der Forschungsziele (1-19) wendet sie sich zunächst dem äußeren Rahmen der kaiserlichen Kommissionen des Reichshofrats zu, den hierzu ergangenen reichsrechtlichen Bestimmungen (21-47). Im Anschluss daran greift die Autorin im dritten Teil ihrer Studie die kaiserlichen Kommissionen als Institut der Reichsverfassung generaliter auf, indem sie die Tätigkeit der Kommissionen einer quantitativen Analyse unterzieht (51-123). Der vierte Abschnitt der Arbeit ist in Abweichung zu den bisherigen Detailstudien kaiserlichen Kommissionen gewidmet, die sich nicht mit „klassischen sozialen Konflikt[en]“ (14) beschäftigten, sondern vielmehr mit ausgewählten, anders gelagerten Auseinandersetzungen, die außerhalb eines ordentlichen Reichshofratsverfahrens ausgetragen wurden (125-344). Die Arbeit schließt inhaltlich mit einer Zusammenfassung der Untersuchungsergebnisse (346-375). Danach folgen die wichtigen Hilfsinstrumentarien, das Quellen- und Literaturverzeichnis (377-410) und das Register (413-426). Mit dem systematischen Aufbau der Untersuchung und der luziden Ausdrucksweise der Autorin gewinnt die Studie nur zusätzliche Sympathien; ihre Hauptstärken liegen in der inhaltlichen Auswertung der gesammelten Daten, die dafür verantwortlich sind, dass man an diesem Werk künftig nicht mehr vorbeigehen kann.
Der im zweiten Abschnitt vorgenommene Vergleich der reichsrechtlichen Bestimmungen mit dem Aktenmaterial verdeutlicht eine bemerkenswerte Übereinstimmung zwischen Gebot und Wirklichkeit, indem die kaiserliche Autorität, instrumentalisiert durch die Eingriffsbefugnis der kaiserlichen Kommissionen, weitgehend anerkannt war (35); zudem wird deutlich, wie groß die Bedeutung des Gewohnheitsrechts war.
Zunächst aufkommende Zweifel daran, ob eine Auswahl von Beispielsfällen wirklich so getroffen sein könne, dass sie „eine von Überlieferungszufällen und Zufallsfunden weitgehend freie Zusammenstellung“ (15) darstellt, können nach Lektüre des dritten Teils der Arbeit als ausgeräumt gelten. Die Kommissionstätigkeit wird zunächst vor dem Hintergrund der von F. Ranieri erstmals vorgenommenen quantitativen Analyse für das Reichskammergericht untersucht (Recht und Gesellschaft im Zeitalter der Rezeption, 1985). Methodisch beschränkt sich die Arbeit also keineswegs auf bestimmte Einzelfälle oder Territorien. Vielmehr können mit Hilfe des quantitativen Ansatzes Fragestellungen im Hinblick auf Häufigkeit und Art und Weise der Inanspruchnahme der Kommissionen, und auf die Beteiligten – welche Parteien beantragten die Einsetzung der Kommissionen, welche kaiserlichen Kommissare wurden bestellt – generalisiert werden: So sind Aussagen zur geographischen oder sozialen Reichweite, aber auch Rückschlüsse auf Auswahlkriterien einzelner Kommissare möglich, es lassen sich Antworten auf die Fragen finden, bei welchen Konflikten gerade auf dieses Instrument zurückgegriffen wurde, und welche Aufgaben im Rahmen eines reichshofrätlichen Verfahrens übertragen wurden. Bei der Interpretation des Zahlenmaterials geht die Autorin stets behutsam und vorsichtig vor. Basis der Quellenanalyse bildeten die reichshofrätlichen Resolutionsprotokolle, aus denen sich die Kommissionsbeschlüsse entnehmen lassen (53). Da kaiserliche Kommissionen zu der bereits angedeuteten Vielzahl von „kaum vergleichbaren Zielsetzungen eingesetzt wurden“, trifft die Autorin gleichwohl eine inhaltliche Auswahl und beschränkt die Analyse geleitet von ihrem Erkenntnisinteresse auf Konflikte. So eingeengt ergeben sich für den fraglichen Zeitraum insgesamt 660 Beschlüsse des Reichshofrats, eine Kommission einzusetzen (58). Anhand einer Übersicht ihres Aufkommens im zeitlichen Verlauf lassen sich aufschlussreiche Informationen ablesen. So kann etwa von dem exorbitanten Anstieg der Kommissionstätigkeit im Jahr 1653 darauf geschlossen werden, dass der in diesem Jahr abgehaltene Regensburger Reichstag mit seiner Präsenz des kaiserlichen Hofs und damit auch des Reichshofrats verstärkten Anlass bot, die Einsetzung von Kommissionen zu beantragen (59f.). In einem dem dritten Abschnitt der Studie angefügten Exkurs (117-123) kontrolliert die Autorin die für den Untersuchungszeitraum gefundenen Ergebnisse, indem sie die kaiserlichen Kommissionen des Jahres 1629 heranzieht und so Vergleich und Relativierung ermöglicht. Der besondere Vorzug dieser Vorgehensweise wird im letzten Abschnitt der Arbeit deutlich: Es wird eine spezifische Reichspolitik, eine persönliche Handschrift, Kaiser Ferdinands III. transparent (361ff.).
Einblick in die konkrete Praxis der reichshofrätlichen Kommissionen gewährt die exemplarische Untersuchung einzelner Fälle im vierten Abschnitt der Arbeit. Hier werden Argumentationsmuster aufgedeckt, Handlungsstrategien sichtbar und das breite Spektrum der vielfältigen Aufgaben und verschiedenen Tätigkeiten der Kommissionen offenkundig. Es zeigt sich, dass die reichshofrätlichen Kommissionen ein Instrument zur rechtlichen Bearbeitung von Konflikten waren, die von Unterhaltsfragen bis zu Landfriedensbrüchen reichten. Im Rahmen eines Auftrages konnten die Kommissare flexibel mit Befugnissen agieren, die von der Anhörung eines Zeugen bis zur Vollstreckung reichten (363f). Die von der Autorin untersuchten Einzelfälle machen aber auch deutlich, dass die reichshofrätlichen Kommissionen im 17. Jahrhundert von einer bestimmten sozialen Gruppe aus bestimmten Regionen des Reiches verstärkt in Anspruch genommen wurden: sie kamen v. a. bei Konflikten reichsunmittelbarer Grafen und Ritter aus dem Südwesten und Westen des Reichs zum Einsatz und beschäftigten in auffallendem Ausmaß Vertreter der Geistlichkeit als Kommissare. Aus der Gesamtzahl der Kommissionen hat die Autorin für ihre Fallstudien solche herausgegriffen, die als Repräsentanten der Hauptbetätigungsfelder der Kommissionen bezeichnet werden können, wie sie sich durch die quantitative Analyse abgezeichnet haben (92). Dementsprechend stammen die ausgewählten Kommissionen aus den Bereichen wirtschaftlicher Konflikte („Schuldenregulierung ..., die Causa ‚Jenisch- und Böhmische Erben contra Rechberg’“, 129-184) und familiärer Konflikte („die Causa ‚Hohenzollern[-Hechingen] contra Hohenzollern[-Hechingen]’“, 185-255) sowie aus Auseinandersetzungen um hoheitliche Rechte („Donaumaut/Lendrecht ... die Causa ‚Regensburg [Reichsstadt] contra Kurbayern’“, 256-344). Die Repräsentativität der untersuchten Fälle wird noch gesteigert, indem die Verfahrensbeteiligten einen jeweils unterschiedlichen rechtlichen und sozialen Status einnehmen. So waren etwa bei der Sache „Jenisch- und Böhmische Erben“ u. a. sowohl Bürgerliche als auch eine Reichsstadt involviert, in der Causa Regensburg gegen Kurbayern erhob ein Kurfürst Ansprüche.
Das Interesse der Autorin ist erklärtermaßen auf die kaiserlichen Kommissionen „als einem Regelungsinstrument des Alten Reichs“ (15) gerichtet, die Arbeit versteht sich als genuin historische Untersuchung (10, 346). Die in diesem Zusammenhang benannten Forschungsziele, „einen ergänzenden Beitrag zur Vielfalt des rechtlich-politischen Lebens innerhalb des Reichsverbandes“ zu liefern, „an der Fundierung und Differenzierung einer Gesamtdeutung des Alten Reichs mitzuarbeiten“ und – bedingt durch die starke Verknüpfung der reichshofrätlichen Kommissionen mit dem Kaisertum – weitere „Grundlagen und Funktionsweise dieser höchsten Institution des Reichs“ auszuleuchten (17) werden vollends erreicht. Denn im fünften Abschnitt der Arbeit werden nicht nur Ergebnisse im Hinblick auf die Untersuchung des Instituts der Reichshofratskommissionen zusammengefasst, sondern auch die Antworten auf diese Fragen im Rahmen einer Gesamtinterpretation geliefert (345-375); nur einige wenige der spannenden Rückschlüsse sollen hier aufgegriffen und angedeutet werden: Das Bild von den Kommissionen, wie es durch die bisherigen Detailstudien entstanden ist, muss korrigiert werden (346); die Studie hat gezeigt, dass die bislang aufgearbeiteten prominenten Einzelfälle ein verzerrtes Licht auf die Kommissionen im Vergleich zu ihrer Gesamttätigkeit werfen. Der Westfälische Friede ist nicht als qualitative Zäsur in dem Verlauf der Kommissionsarbeit spürbar, die Zunahme der Kommissionstätigkeit in quantitativer Hinsicht wird als verstärktes Vertrauen in die kaiserliche Rechtsprechung gedeutet (347). Es zeigt sich, dass die zentrale Bedeutung der Kommissionen in ihren mediativen Bemühungen liegt; am Ende eines Konflikts stand meist ein Vergleich der streitenden Parteien, bei dem es allen Beteiligten möglich war, gesichtswahrend aus dem Streit hervorzugehen (348f.). Mit dieser Einschätzung in engstem Zusammenhang steht die positive Bewertung der Funktionsfähigkeit der Kommissionen: Denn die Autorin sieht als primäres Ziel der Kommissionsarbeit keine gerichtliche Entscheidung und deren Durchsetzbarkeit, sie stellt Untätigkeit nicht mit Versagen gleich, sondern sieht in der einvernehmlichen Beilegung eines Konflikts ein gleichwertiges, legitimes Mittel, den Rechtsfrieden zu wahren oder wieder herzustellen (351). Schließlich zeigt es sich, dass die reichshofrätlichen Kommissionen für die Anerkennung des Kaisertums und für eine erfolgreiche Reichspolitik ein eminent wichtiges Instrument darstellten (355ff.). Dass sämtliche Beteiligten sich im Rahmen des Kommissionsverfahrens förmlich, und dies in vielfacher Weise, auf einen kaiserlichen Auftrag beriefen, ist hierfür nur ein äußerlicher Beleg. Entscheidend war insbesondere auch die Art und Weise der Kommissionstätigkeit. Dabei waren weniger die spektakulären Einzelfälle mit politischer Brisanz als vielmehr die Vielzahl der eher unbedeutenden Konflikte des täglichen Lebens dazu geeignet, das Engagement des Kaisers zu demonstrieren und die kaiserliche Oberhoheit in toto zu dokumentieren. Dieser an sich positive Befund erfährt eine Einschränkung: die von Ortlieb vorgenommenen Einzelstudien zeigen nämlich auch, dass nicht alle Glieder und Regionen des Reiches gleichförmig im Hinblick auf Kaisertum und Reichspolitik agierten und reagierten (358f.). Endlich zeichnet die Studie ein Bild von Rechtssystem im Alten Reich, das „weder ein einheitliches noch ein geschlossenes Ganzes bildete“ (365). Normenhierarchie, Geltungsdauer und Geltungsanspruch erscheinen oft unklar, widersprüchlich und spiegeln insgesamt eine Rechtsordnung wider, deren charakteristische Merkmale die Vorläufigkeit von Konfliktbeilegungen und die beträchtliche Dauer der Verfahren zu sein scheinen. Hier findet das von B. Diestelkamp entworfene Modell des Entwicklungsstadiums vom „Rechtswegstaat“ hin zum Rechtsstaat (Das Reichskammergericht im Rechtsleben des Heiligen Römischen Reichs Deutscher Nation, 1985, 23ff.) seine Bestätigung.
Frankfurt am Main Anja Amend