Policey und frühneuzeitliche Gesellschaft

, hg. v. Härter, Karl (= Ius Commune Sonderheft 129). Klostermann, Frankfurt am Main 2000. XIII, 629 S. Besprochen von Dietmar Willoweit.

Policey und frühneuzeitliche Gesellschaft, hg. v. Härter, Karl (= Ius Commune Sonderheft 129). Klostermann, Frankfurt am Main 2000. XIII, 629 S.

 

Das Thema entfaltet beträchtliche Anziehungskraft. Dazu hat sicher die wis­senschaftliche Schwerpunktbildung im Max-Planck-Institut für europäische Rechts­geschichte und das große Engagement von Michael Stolleis und Karl Härter beige­tragen. Doch der Blick in das Inhaltsverzeichnis des vorliegenden Bandes ruft in Er­innerung, dass in den letzten Jahren das Thema Policey eine jüngere Generation von Wissenschaftlern motivieren konnte, einzelne Aspekte des großen Forschungs­feldes intensiver zu analysieren. Obwohl auf eine vom Max-Planck-Institut gemein­sam mit dem Institut für Europäische Geschichte in Mainz veranstaltete Tagung vom März 1998 zurückgehend, handelt es sich nicht um einen Tagungsband im landläufi­gen Sinne. Von den zwanzig Beiträgen sind zwölf aus Vorträgen hervorgegangen. Eine ganze Reihe dieser Studien wurde zu umfassenden Abhandlungen mit einem Umfang von jeweils dreißig bis fünfzig Seiten ausgearbeitet. Im Hintergrund stehen vielfach größere, abgeschlossene oder in Arbeit befindliche Forschungsvorhaben. So ist ein Werk entstanden, dessen inhaltliches Gewicht sich von anderen Bänden vergleichbaren Zuschnitts vorteilhaft abhebt und das für das Thema Policey auch auf längere Sicht Beachtung finden wird.

 

Versucht man das Spektrum der einzelnen Aufsatzthemen systematisch zu ordnen, so erhält man einen Aufriss der gegenwärtig erprobten und beschrittenen Zugänge zum Thema Policey: Der Einstieg von der Gesetzgebungsgeschichte aus wird nur noch selten gewählt; vielfältigere Möglichkeiten bietet das Studium der poli­ceylichen Verwaltung, Verfahrensabläufe und Sanktionen; als äußerst ergiebig er­weist sich die Auseinandersetzung mit einzelnen Sachbereichen des Policeywesens; weiterhin Interesse beanspruchen können Fallstudien zur Policey in einzelnen Terri­torien oder Städten, die für einen begrenzten Raum mehr oder weniger das Gesamt­phänomen zu erfassen versuchen; schließlich werden weiterhin auch Angebote, das Verhältnis von Policey und Gesellschaft überhaupt zu bestimmen, diskutiert werden, und nicht zuletzt kommt auch der Disput über die wissenschaftlichen Kategorien noch nicht zur Ruhe.

 

Beginnen wir unseren Bericht mit dem Letzteren. Kersten Krüger prä­sentiert unter dem Titel „Policey zwischen Sozialregulierung und Sozialdisziplinie­rung, Reaktion und Aktion - Begriffsbildung durch Gerhard Oestreich 1972-1974“ Nachforschungen im Nachlass dieses Historikers unter Mitteilung längerer, bisher unbekannter Originaltexte (S. 107-119). André Holenstein hat sich das ehrgei­zige Ziel gesetzt, der Policeyforschung jenseits von Gesetzgebung und Staat einer­seits, sozialhistorischer Kritik und Klage über Durchsetzungsdefizite andererseits neue Horizonte eines gesamtgesellschaftlichen Verständnisses zu eröffnen. In sei­nem Beitrag über „Die Umstände der Normen - die Normen der Umstände. Policey­ordnungen im kommunikativen Handeln von Verwaltung und lokaler Gesellschaft im Ancien Régime“ geht es Holenstein darum, die Gesetzesvorstellungen der Frühen Neuzeit zu historisieren, also das uns insofern beherrschende moderne Vorver­ständnis durch Analyse zeitgenössischer Spezifika - Supplikationen und Dispensati­onen z. B. - zu relativieren (S. 1-46). Manche Anleihe bei der Rechtsgeschichte er­scheint dabei freilich etwas waghalsig (S. 26ff. zur Unmöglichkeitslehre, S. 31 zur normativen Kraft des Faktischen). Auch Achim Landwehr wehrt sich in seinem sehr grundsätzlich angelegten Beitrag unter dem Thema „Policey vor Ort. Die Implementation von Policeyordnungen in der ländlichen Gesellschaft der Frühen Neuzeit“ gegen den herkömmlichen Antagonismus von Norm und Praxis, den er durch die Untersuchung des Dreiecksverhältnisses zwischen Normgeber, Norman­wender und Normempfänger ersetzen möchte (S. 47-70).

 

Dennoch behauptet sich die schon klassisch gewordene Frage, ob und wie die Gesetzesflut der guten Policey die Untertanen wirklich erreicht und gelenkt hat. Nicht nur der Herausgeber selbst spricht in seinem knappen Vorwort von vier Seiten mehr als ein Dutzend Mal von „Durchsetzung“, „Umsetzung“, „Wirkungszusammen­hang“ usw. Auch einige fundierte Beiträge sind der Gesetzgebungsgeschichte ge­widmet, so der von Ulrike Ludwig zum Thema „Der Entstehungsprozeß der Reichspoliceyordnung auf dem Reichstag von Augsburg 1547/48“ (S. 383-411) und Julia Maurers „Policeygesetzgebung und Verwaltungspraxis in Baden-Durlach im 18. Jahrhundert“ (S. 453-572). Ulrike Ludwigs Ausführungen rufen in Erinnerung, dass die Frage der Durchsetzbarkeit reichspoliceylicher Anordnungen schon die Zeitgenossen beschäftigt hat - weshalb dieses Thema nicht einfach zu einem mo­dernen Missverständnis erklärt werden kann. Sicher scheint jedoch, dass die staat­lich-administrative Seite des Policeywesens nur durch archivalische Studien zum Verwaltungsvollzug weiter aufgehellt werden kann. Dazu steuert Thomas Simon einen Aufsatz über „Policey im kameralistischen Verwaltungsstaat: Das Beispiel Preußen“ bei, womit ihm ein moderner, erfrischender Zugriff auf ein altes Königs­thema der Geschichtsschreibung gelingt (S. 473-496). Auch die Beiträge von Frank Konersmann über „Auftrag und Amtspraxis der Policeygarden im Herzogtum Pfalz-Zweibrücken (1757-1793)“ (S. 525-559), von Matthias We­ber, der ein Forschungsvorhaben zur Denunziation begonnen hat und hier erste Eindrücke unter dem Titel „,Anzeige’ und ,Denunciation’ in der frühneuzeitlichen Poli­ceygesetzgebung“ präsentiert (S. 583-609) und schließlich Gerhard Schuck über „Arbeit als Policeystrafe. Policey und Strafjustiz“ (S. 611-625) führen den Leser gleichsam in das Innenleben der staatlichen Policeypraxis ein. Ähnliches gilt für die weiterhin unverzichtbaren regionalen Fallstudien, die hier mit Peter Kissling über „,Gute Policey’ und Konfessionalisierung im Berchtesgadener Land“ (S. 71-105) und zwei für deutsche Leser, die sich gerade der europäischen Rechtsgeschichte zuwenden, besonders interessante Studien vertreten sind: Andrea Iseli schreibt über „Die ,bonne police’ als Zivilisierung des öffentlichen Lebens. Ein Interpretations­versuch am Beispiel der ,voirie’ von Marseille im 18. Jahrhundert“ (S. 497-523), und Gerhard Sälter berichtet über „Obrigkeitliche Kontrolle durch Inspektion. Zum Wandel einer Herrschaftstechnik am Beispiel der Pariser Polizei“ (S. 561-581). Auch den Beitrag Lothar Schillings über „Policey und Druckmedien im 18. Jahr­hundert. Das Intelligenzblatt als Medium policeylicher Kommunikation“ möchte man in den Kontext von Norm und Praxis einordnen, stellt er doch eine geschichtliche Erscheinung in den Zusammenhang des Policeywesens, die für den modernen Be­obachter dort nicht ohne weiteres angesiedelt ist, aber zweifellos zu den zeittypi­schen Mechanismen gehört, ohne die Policey eine gesellschaftsferne Kopfgeburt hätte bleiben können.

 

Das bisher vorgestellte Themenspektrum gruppiert sich im Großen und Gan­zen um Fragestellungen, die dem Rechtshistoriker vertraut sind oder von ihm ohne Mühe erschlossen werden können. Der Rezensent bekennt, dass ihn am stärksten allerdings jene Beiträge fasziniert haben, die sich überwiegend ebenso breit wie tief eindringend mit einzelnen Policeymaterien befassen. Dabei bearbeitete Bettina Günther noch ein relativ bekanntes Feld, als sie die „Sittlichkeitsdelikte in den Po­liceyordnungen der Reichsstädte Frankfurt am Main und Nürnberg (15.-17. Jahrhun­dert)“ (S. 121-148) untersuchte. So genau hat man die obrigkeitlichen Ziele dieser Ge­setzgebung bisher nur selten studieren können. Doch darf man die Frage stellen, ob es nicht an der Zeit ist, die Rede vom „abweichenden Verhalten“, mit der die Welt des HRG als antiquiert abgetan werden soll („Straftaten gegen geltende Moralvor­stellungen“), durch einen schärferen analytischen Zugriff zu ersetzen. Hier bestünde die Chance, die Kategorie der „Disziplinierung“ auf die Frage nach der Sozialverträg­lichkeit sexuellen Handelns überhaupt zurückzuführen und möglicherweise eine Brücke zur Biologie zu schlagen. Auf sichererem Terrain bewegt sich Michael Frank, dessen Ausführungen über „Exzeß oder Lustbarkeit? Die policeyliche Re­glementierung und Kontrolle von Festen in norddeutschen Territorien“ die Ambiva­lenz der Festlichkeiten zwischen ihren unverzichtbaren sozialen Funktionen und der Gefährdung jeglicher Sozialkontrolle reflektieren (S. 149-178). Josef Pauser un­tersucht Umfeld und Hintergründe der Spielverbote in seinem Beitrag über „,Verspi­len / ist kein Spil / noch Schertz’. Geldspiel und Policey in den österreichischen Län­dern der Frühen Neuzeit“ (S. 179-233). Leo Lucassen informiert unter dem Titel „Zigeuner im frühneuzeitlichen Deutschland: neue Forschungsergebnisse, -probleme und -vorschläge“ umfassend über den Stand der lebhaften wissenschaftlichen Dis­kussion zu diesem Thema (S. 235-262). Der Amsterdamer Autor kritisiert die ethno­zentrierte Sicht der deutschen Forschung, die sich mit dem Gebrauch der Stammes­namen „Sinti“ und „Roma“ noch verschärft habe und daher die zumindest auch vor­handenen Nomadisierungserscheinungen der einheimischen Bevölkerung nicht erkennen könne. Einen weiteren wichtigen, für Rechtshistoriker am Rande lie­gen­den, jedoch zukunftsträchtigen Bereich des Policeywesens stellt Martin Dinges in seinem Beitrag über „Medicinische Policey zwischen Heilkundigen und ‘Patienten’ (1750-1830)“ vor (S. 263-295). In diesem wie auch in anderen Aufsätzen über be­stimmte Sachbereiche der Policey, z. B. auch bei Pauser, kehrt die Frage nach der Durchsetzung oder Umsetzung der Policeyordnungen wieder - sie lässt sich vorerst nicht für obsolet erklären. Zwei weitere, hier zu nennende Beiträge über bestimmte Policeybereiche scheinen mir vor allem von wissenschaftsgeschichtlichem Interesse. Christoph Ernst erörtert intensiv den Forschungsstand der „Forstgeschichte“, die lange von einer pragmatischen Perspektive aus betrieben wurde. Für die notwen­dige Historisierung dieses Forschungsgebietes nutzt der Autor vor allem auch mo­derne rechtsgeschichtliche Differenzierungen, z. B. zwischen Recht und Gebot. Der Titel lautet: „Forstgesetze in der Frühen Neuzeit. Zielvorgaben und Normierungs­instrumente für die Waldentwicklung in Kurtrier, dem Kröver Reich und der Hinteren Grafschaft Sponheim (Hunsrück und Eifel)“ (S. 341-381). Und schließlich Jutta Nowosadtko: „Die policierte Fauna in Theorie und Praxis. Frühneuzeitliche Tier­haltung, Seuchen- und Schädlingsbekämpfung im Spiegel der Policeyvorschriften“ (S. 297-340). Auf den ersten Blick scheinen hier unter dem Kri­terium „Tier“ die heterogensten Sachverhalte zusammengefasst, von der Pferde­zucht eben bis zur Schädlingsbekämpfung. Eine der Rechts-, Kirchen- oder Kunst­geschichte vergleich­bare Disziplin der „Tiergeschichte“ gibt es noch nicht. Aber - und darin liegt das wis­senschaftsgeschichtlich Interessante dieses Beitrages - vielleicht sollte es sie geben, etwa als Zweig der sich unaufhaltsam etablierenden Umweltgeschichte.

 

Angesichts der geballten Forschungsenergie, die sich in diesem Bande zum frühneuzeitlichen Policeywesen niedergeschlagen hat, erscheint es überflüssig, wenn nicht vermessen, kritische Ratschläge für den weiteren Gang der Forschung erteilen zu wollen. Der Stoffgewinn durch archivalische Studien, die Zunahme der Detailkenntnis durch thematische Beschränkung und die Intensivierung der Diskus­sionen um Paradigmen und Methoden sind so offenkundig, dass dieses jetzt er­reichte wissenschaftliche Niveau mit den Anfängen der Policeyforschung vor einer Generation kaum noch zu vergleichen ist. Eine Anfrage aber sei gestattet: Hat man vor lauter Bäumen den Wald noch im Blick? Gerhard Oestreich wollte mit dem Stichwort „Sozialdisziplinierung“, das eine so unglaubliche Karriere machen sollte, den Wald, also das Ganze, charakterisieren. Sind wir nun darüber eigentlich hinaus­gelangt? Ich fürchte: nur wenig. Und dies, obwohl sich die kritischen Stimmen meh­ren, weil Oestreichs Kategorie vielleicht mehr über das Emanzipationsverlangen des liberalen Bürgertums aussagt als über jene merkwürdige Epoche, in der die alteuro­päische Ständegesellschaft ihr Ende fand. Mein Vorschlag wäre, die vertrackten Dis­ziplingrenzen historischer Institute, die dafür sorgen, dass die „Frühneuzeitler“ schön unter sich bleiben, einmal zu überspringen und „Disziplinierung“ der Gesellschaft als ein epochenübergreifendes Phänomen zu verstehen. Dann könnten die Policeyord­nungen sogar als bloße Sollensnormen, nämlich als Zeugnisse ihrer Epoche, ernst genommen und mit den disziplinierenden Mechanismen des Mittelalters wie des 19. und 20. Jahrhunderts verglichen werden. An diesen Längsschnitt zu denken, sollten gerade die Rechtshistoriker trotz der notwendigen Tiefenbohrungen auf engem zeit­lichem Raum nicht vergessen.

 

Würzburg                                                                                                    Dietmar Willoweit