Hahn, Erich J., Rudolf von Gneist 1816-1895.
FiedlerHahn20000922 Nr. 677 ZRG 118 (2001)
Hahn, Erich J., Rudolf von Gneist 1816-1895. Ein politischer Jurist in der Bismarckzeit (= Ius Commune Sonderheft 74). Klostermann, Frankfurt am Main 1995. 298 S.
Kaum eine Persönlichkeit ist in der Gegenwart für die Diskussion des Rechtsstaates in Deutschland so wichtig geworden wie Rudolf von Gneist, dem die vorliegende Studie gilt. Das Buch hat 5 Abschnitte. Im ersten Abschnitt (S. 1-44) wird der persönliche Werdegang bis 1849 geschildert, daneben auch einige Stationen des späteren Lebens. Abschnitt 2 ist der Darstellung des englischen Verfassungs- und Verwaltungsrechtes gewidmet (S. 47-91ff.). Abschnitt 3 stellt den preußischen Verfassungskonflikt in den Mittelpunkt (S. 97-133ff.). Abschnitt 4 behandelt die preußische Verwaltungsreform (S. 135-188ff.). Abschnitt 5 spricht von der „Realität des Rechtsstaates“ (S. 193-243ff). Angeschlossen sind ein Gesamtergebnis (S. 247 ff), diverse Anhänge (S. 257 ff.), Quellen und Literatur (S. 275ff.) sowie ein Register (S. 295ff.), mit anderen Worten ein sehr gut brauchbares Stichwortverzeichnis.
Die Arbeit hat selbst eine bemerkenswerte Vorgeschichte, denn sie wurde betreut von Hajo Holborn und Hans W. Gatzke, der die Betreuung nach dem Tode Hajo Holborns übernahm. Unter Gatzke wurde die Arbeit abgeschlossen und nunmehr in Frankfurt auch auf deutsch veröffentlicht. Dies ist um so notwendiger, als die Persönlichkeit Rudolf von Gneists in Deutschland nur noch schlagwortartig bekannt ist. Bekannt geblieben ist sein Engagement für den Rechtsstaat, aber auch sein Eintreten für die Selbstverwaltung. Darüber hinaus sind weitere Stationen seines Denkens nicht gegenwärtig.
Rudolf von Gneist war lange Zeit vor allem durch seine politischen Aktionen bekannt geworden, weniger durch die Forschung. Bis zur Revolution 1848 verfaßte von Gneist vor allem politisch verwertbare Schriften, weniger Ergebnisse seiner Forschung. Seine Kritik setzte vor allem am preußischen Beamtentum an und sah die Revolution aus dieser Blickrichtung. Eine 1849 erschienene Schrift („Berliner Zustände“) gibt darüber Auskunft, auch über den politischen Geist Rudolf von Gneists. Die Schrift Hahns rechtfertigt an mehreren Stellen die Wahl des Untertitels, so etwa S. 26ff. Im Zentrum der Forschung stand bei Gneist zunächst das englische Verwaltungs- und Verfassungsrecht, dem sich der 2. Abschnitt widmet (S. 47ff.). Hier wird erkennbar, daß das Jahr 1848 weit in das Werk Rudolf von Gneists hineinwirkt. Sehr gut gelungen ist auch die Entdeckung Lorenz von Steins durch Rudolf von Gneist im 2. Abschnitt (S. 59ff.). Warum die Selbstverwaltung einen besonderen Stellenwert bei Rudolf von Gneist einnimmt, wird aus seinen Schriften über England deutlich (S. 64ff.). Zunächst durch die Broschüre „Adel und Ritterschaft“ (1853), dann aber auch durch andere Publikationen, die zum Teil sehr umfangreich ausfielen. Das Echo in Deutschland war unterschiedlich, vor allem in Bezug auf die Bedeutung der Selbstverwaltung. Heinrich von Treitschke sah in dem Werk über England zwar eine „schreckliche Ungenießbarkeit“ (S. 88), aber doch einen Fortschritt.
Ganz dem preußischen Verfassungskonflikt gewidmet ist der 3. Abschnitt (S. 97ff.). Selbstverständlich steht zunächst die Wahl von Gneists in das Abgeordnetenhaus im Jahr 1858 im Mittelpunkt. Im Einzelnen beschreibt der Autor die Rolle der Opposition, der sich von Gneist zuwandte. Das Ende des Verfassungskonflikts (1866) wurde durch eine Reihe anderer Fragen herbeigeführt (S. 121ff.). Von Gneist unterlag zwar gegenüber den Machtbekundungen Bismarcks , aber er glaubte weiter an die Unantastbarkeit des Rechts und der Verfassung.
Der 4. Abschnitt ist der preußischen Verwaltungsreform gewidmet und reicht bis zum Jahre 1875 (S. 135ff.). Aus dieser Zeit ist vor allem das erfolgreiche Eintreten für den Rechtsstaat und die Verwaltungsgerichtsbarkeit in Erinnerung geblieben, ebenso der Kampf um die preußische Kreis-Ordnung. Die bekannteste Schrift von Gneists, „Der Rechtsstaat“ erschien noch vor dem Inkrafttreten der Kreis-Ordnung im Jahre 1872 (S. 173ff.). In Erinnerung geblieben ist der erfolgreiche Kampf für eine unabhängige Verwaltungsgerichtsbarkeit, womit er sich vor allem gegen Konkurrenzschriften durchsetzte. Gewiß, von Gneist war ein Vertreter des formalen Rechtsstaates und setzte in dieser formalen Weise die Verwaltungsgerichtsbarkeit durch. Aber er schuf damit eine besondere Kategorie des Rechtsstaates, die heute nicht mehr hinwegzudenken ist. Leider enthält die Monographie Hahns kein näheres Eingehen auf die Kontroverse auf dem deutschen Juristentag am Anfang der 60er Jahre des 19. Jahrhunderts. Man wird insgesamt sagen können, daß von Gneist hier besonders konsequent vorging und aus diesem Grunde seinen Beitrag zum Rechtsstaat durchsetzte. Daß die Kreis-Ordnung wesentliche Bereiche von Gneists nicht zum Ausdruck brachte, ist zu konstatieren.
Es erscheint merkwürdig, daß der letzte Abschnitt bezeichnet wird als „Realität des Rechtsstaates“ (S. 193ff.). Einen besonderen Stellenwert nehmen die Kirchengesetze ein, nicht jedoch die besondere Rolle von Gneists bei dem Export des preußischen Rechtssystems ins Ausland. Seine Schüler haben zum Teil in besonders erfolgreicher Art und Weise in Südostasien gewirkt, vor allem in Japan. Die Namen Albert Mosse und Hermann Roesler seien nur stellvertretend genannt. Von Gneist war in jedem Falle am Ende des 19. Jahrhunderts ein Aushängeschild der preußischen und deutschen Verwaltung, an dem ausländische Besucher nicht vorüberkamen. Von Gneist hat auf diese Weise merklich dazu beigetragen, daß das deutsche Rechtssystem vor allem in Japan Fuß fassen konnte. Die Bedeutung von Gneists wird zwar auch in dieser Hinsicht angesprochen (S. 233), doch insgesamt unterbewertet. Rudolf von Gneist hat den Rechtsstaat in Deutschland durchgesetzt und ist aus diesem Grunde mit ihm stets mitzuerwähnen. Sein Anteil ist von unschätzbarer Bedeutung.
Der Anhang (S. 257ff.) enthält nicht nur Briefwechsel, sondern auch ein Zuhörer-Verzeichnis, das die besonderen Leistungen von Gneists in der Lehre dokumentiert (S. 260f.). Insgesamt liefert die Arbeit Hahns eine längst überfällige wissenschaftliche Leistung, die gerade in der Gegenwart die Bedeutung Rudolf von Gneists in Erinnerung ruft. Insofern bleibt das Buch auch permanent aktuell und sollte an die Schwierigkeiten erinnern, die die Ideen von Gneists zu überwinden hatten.
Saarbrücken Wilfried Fiedler