Thauer, Jenny, Gerichtspraxis in der ländlichen Gesellschaft
Thauer, Jenny, Gerichtspraxis in der ländlichen Gesellschaft. Eine mikrohistorische Untersuchung am Beispiel eines altmärkischen Patrimonialgerichts um 1700 (= Berliner juristische Universitätsschriften, Grundlagen des Rechts 18). Berlin Verlag, Berlin 2001. 333 S. 2 Abb.
Die Berliner juristische Dissertation, welche von Rainer Schröder angeregt und betreut wurde, wendet sich mit originellem Zugang einer tiefgründigen Analyse dörflichen Zusammenlebens im Sprengel des Patrimonialgerichts der Herren von der Schulenburg in der Altmark um das Jahr 1700 zu. In einem exakt abgesteckten, durch serielle Quellen reich belegten Untersuchungsgebiet werden die rechtlichen und sozialen Verhältnisse zwischen den Gerichtsuntertanen einerseits und deren Beziehungen zur Gerichtsherrschaft andererseits komplex untersucht. Dabei werden stets auch die für „Justiz in der frühneuzeitlichen Gesellschaft“ (S. 19) relevanten sozialen Aspekte hervorgehoben, was sich auf den Erkenntnisgewinn der Arbeit überaus positiv auswirkt.
Die Arbeit gliedert sich in neun Abschnitte. Vorangestellt sind neben dem Inhaltsverzeichnis ein „Verzeichnis der Maße, Gewichte und Werte“, ein Glossar sowie zwei Kartenabbildungen. Der Band schließt mit einem „Literaturverzeichnis“, das vor der Literatur die umfangreich genutzten Archivalien (vorwiegend solche des Landeshauptarchivs Magdeburg, Außenstelle Wernigerode) und gedruckten Quellen angibt.
In der Einleitung (I.) skizziert die Verfasserin ihren methodischen Ansatz, die Quellen und den rechtsgeschichtlichen Forschungsstand. Sie glaubt, in den bisherigen Darstellungen zu ähnlich gelagerten Themen eine „linearisierende Entwicklungsperspektive, die das Gerichtswesen zwischen dem 16. und dem ausgehenden 18. Jahrhundert tendenziell als Vorform der im 19. Jahrhundert entstandenen modernen Justiz“ (S. 20) sehen zu müssen. Ihre Arbeit will dagegen die frühneuzeitliche Justiz als „etwas Eigenständiges“ begreifen (S. 20). Das soll durch die Erweiterung der sich „nach wie vor an dogmatisch-juristischen Denkformen“ orientierenden Rechtsgeschichte „um einen historisch-empirischen Ansatz“ erfolgen (S. 20). Der Verfasserin ist gewiß darin zuzustimmen, daß die Rechtswirklichkeit der Gerichte auf der lokalen Ebene noch weitgehend einschlägiger Untersuchungen harrt. Doch will die zitierte Literatur zur Spruchpraxis der Juristenfakultäten an dieser Stelle gar nicht zur „Rechtsprechung höherer Gerichtsinstanzen“ passen (S. 21). Insofern will die Verfasserin mit ihrer Untersuchung „Rechtsgeschichte als Mikrogeschichte“ (S. 27) und eine „mikroskopisch genaue Betrachtung“ betreiben (S. 29). Bei der hier angeführten Literatur hätte durchaus die Untersuchung von Uwe Schirmer, Das Amt Grimma 1485 bis 1548. Demographische, wirtschaftliche und soziale Verhältnisse in einem kursächsischen Amt am Ende des Mittelalters und zu Beginn der Neuzeit, Beucha 1996, die gewiß dem „mikrohistorischen“ Rahmen der Verfasserin sehr nahe kommt, Erwähnung verdient.
Im Vordergrund der Arbeit soll die „genaue Rekonstruktion der Gerichtspraxis“ und nicht eine „kontrastierende Gegenüberstellung von Norm und Normanwendung“ stehen (S. 31). Mit dem Hinweis auf Döhring (S. 33, Fn. 44) wird auf die komplizierten Zuständigkeitsverhältnisse von Gerichten in der frühen Neuzeit hingewiesen. Das Erscheinungsjahr (1953) ist nicht exakt wiedergegeben (richtig dagegen im Literaturverzeichnis, S. 311). Modernere Literatur hätte sich dazu gewiß gefunden (zumindest Gerhard Buchda, Gerichtsverfassung, in: HRG 1 [1971], Sp. 1563-1576).
Mit dem zweiten Abschnitt (II. Gerichtliche Zugangsschwellen und das Gerichtsverfahren bis zur Hauptverhandlung: Klage und Denunziation, Ladung, Anreise, Kosten) beginnt die eigentliche Untersuchung. Zu Recht hebt die Verfasserin hervor, daß zunächst erst einmal „Zugangsschwellen“ zu überwinden waren, um einen Prozeß vor dem Gericht in Gang zu setzen. Damit war auch die Reise der Rechtsuchenden zu den beiden Tagungsorten des Gerichts verbunden, die gewisse Aufwendungen und das Versäumnis von Arbeiten auf dem eigenen Hof mit sich brachten. Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang die Vertretung männlicher durch weibliche Familienmitglieder (S. 47).
Der dritte Abschnitt (III. Das Gericht und seine Akteure) ist dem Gericht sowie den in ihm und vor ihm handelnden Personen (Richter, Gerichtsvögte, Dorfschulzen, Anwälte) gewidmet. Die Verfasserin hebt mit Argumenten aus der modernen Forschung hervor, daß ein solches Patrimonialgericht überwiegend „von unten“ als „Schiedsinstanz“ angerufen wurde und der Gebrauch der Patrimonialgerichtsbarkeit als „Machtmittel“ des Gutsherrn eher nicht typisch war (S. 55). Vielmehr nahmen die Gerichtsuntertanen der Schulenburgs ihr Patrimonialgericht „als gerechte und objektive Rechtsinstanz“ wahr (S. 61). Zu dieser Erwartungshaltung hat gewiß dessen Besetzung mit (vorwiegend an der kurbrandenburgischen Universität Frankfurt/Oder) ausgebildeten Juristen beigetragen.
In Teil 4 (IV. Vor Gericht) geht die Verfasserin detailliert den Vorgängen vor Gericht nach (Die gerichtliche Szenerie; Die Gerichtsprotokolle; Der Gang des Gerichtsverfahrens; Handlungsstrategien der Dorfbevölkerung im Gerichtsverfahren; Die Verfahrensdauer). Mit besonderem Gewinn liest sich der Abschnitt über „Handlungsstrategien“. Einerseits kannte die dörfliche Bevölkerung im wesentlichen den „summarischen“ Prozeß mit seinen relativ geringen formalen Anforderungen und das lokale Gewohnheitsrecht; andererseits nutzte sie auch Unwissenheit, um Vorteile im Prozeß zu erlangen. Interessant ist der Hinweis auf die finanziellen Aspekte des Gerichtsverfahrens, insbesondere der Inquisitionsprozesse. Sie trugen wegen ihrer immensen Belastungen für Gerichtsherrschaft und Gerichtsuntertanen in der Rechtswirklichkeit dazu bei, Gnadengesuche der Inquisiten anzunehmen (S. 99) und den angestrengten Inquisitionsprozeß letztlich abzuwenden. Bemerkenswert ist auch die Verfahrensdauer, die sich bei zwei Dritteln aller Fälle auf maximal drei Stunden belief (S. 102).
Der fünfte Abschnitt (V. Justiznutzung als soziale Praxis) handelt von den sozialen Gruppen (Männer, Frauen, Kinder, Jugendliche, Behinderte, Arme), die in einem Zusammenhang mit dem Patrimonialgericht stehen. Hier hätte der von Ute Gerhard herausgegebene Sammelband „Frauen in der Geschichte des Rechts“, München 1997, Erwähnung verdient.
Dem inhaltlichen Geschehen vor Gericht wendet sich die Verfasserin im sechsten Abschnitt (VI. Konfliktkonstellationen vor Gericht) zu. Dabei analysiert sie „gut 1000 Protokolleintragungen“ (S. 119), die nach „zeitgenössisch bestimmten Bereichen“ geordnet werden (S. 117f.): Injurien-, Schuld-, Unzuchtprozesse, Prozesse um Besitz und Besitzschutz, Pfändungs-, Diebstahlsprozesse, Sonn- und Feiertagsverletzungen, Verstöße gegen Verlobungs-, Hochzeits- und Tauffeiervorschriften, ständische Privilegien von Zünften, Kirche und Obrigkeit, Verwaltung und Polizei. Bis auf die letzten beiden Bereiche hat die Verfasserin die Reihenfolge nach der auftretenden Häufigkeit der Materien geordnet. So ging es in jedem dritten Prozeß (auch) um Injurien, in jedem vierten Prozeß um Schuldsachen. Die Verfasserin konstatiert eine auffallende Häufigkeit von Ehrverletzungen, was angesichts der immensen Rolle dieser Delikte im Rechtsleben der Frühen Neuzeit nicht überrascht. Ein Hinweis auf die inzwischen reichhaltige moderne Literatur zu diesem Problemkreis wird jedoch vermißt (z. B. Verletzte Ehre. Ehrkonflikte in Gesellschaften des Mittelalters und der Frühen Neuzeit, hg. von Klaus Schreiner/Gerd Schwerhoff, Weimar/Wien 1995; Ehrkonzepte in der Frühen Neuzeit. Identitäten und Abgrenzungen, hg. von Sibylle Backmann u. a., Berlin 1998). Gerade in diesem Abschnitt gelingt es der Verfasserin überzeugend, die sozialen Strukturen der Gerichtsgemeinschaft für ihre Fragestellungen fruchtbar zu machen (Selbstanzeigen, kaum Flucht aus dem Gerichtsbezirk, verwandtschaftliche Beziehungen, die Feststellung von rechtlichen Gewohnheiten etc.). Nur relativ wenige Prozesse wurden als Inquisitionsprozesse geführt (Ehebruch, Diebstahl).
Der siebente Abschnitt (VII. Die Entscheidungen des Gerichts: Gesprochenes Recht und die Schwierigkeiten seiner Durchsetzung) behandelt die Ergebnisformen des gerichtlichen Verfahrens (Urteile und Vergleiche) und erörtert die zahlreichen Schwierigkeiten bei deren Exekution. Urteile wurden im Protokollbuch niedergeschrieben und anschließend verlesen. Bemerkenswert ist die Erkenntnis, daß „Bezugnahmen auf das angewendete Recht ... dabei stets allgemein und vage...“ blieben (S. 216). Als Adressaten der Aktenversendung kommen die Juristenfakultäten Frankfurt/Oder, Erfurt, Helmstedt und Leipzig vor (S. 232f.), nicht aber die Juristenfakultät der 1694 (anders S. 287) gegründeten kurbrandenburgischen Reformuniversität Halle (S. 287).
Entehrende Strafen hat das Gericht kaum verhängt. Lediglich die Gefängnisstrafe spielte in diesem Zusammenhang eine Rolle.
Im Rahmen des achten Abschnitts (VIII. Die lokale Gerichtsverfassung: Das Gesamtgericht im institutionellen Kontext) betrachtet die Verfasserin das schulenburgische Patrimonialgericht als Teil der Gerichtsverfassung auf lokaler Ebene. Hier, wie schon in anderen Passagen der Arbeit, stört etwas der Begriff „Gerichtsinstanz“. Es wird dem Leser nicht ganz klar, ob damit „Gericht“, „Instanz“ oder gar beides gemeint ist. Die Verfasserin skizziert knapp „Gütergerichte“ (Gerichte der als „Amtleute“ bezeichneten schulenburgischen Gutsverwalter), „Dorfgerichte“ (Gerichte der dörflichen Gemeinden), „Kirchengericht“ (Pfarrer und Konsistorium), „Altmärkisches Quartalgericht“(erste Instanz für eximierte Personen, zweite Instanz über dem Patrimonialgericht) sowie noch einmal das Gesamtgericht in seiner Eigenschaft als „höheres Strafgericht“.
In ihrem Fazit (IX.) bewertet die Verfasserin die Tätigkeit des schulenburgischen Gesamtgerichts und der Gerichte in der lokalen Gesellschaft als tendenziell positiv. Für das konkret untersuchte Gericht konstatiert sie sogar „große räumliche Nähe, Verfügbarkeit und soziale Integration, ... niedrigen Kosten, kurze Verfahrensdauer, laienfreundlichen Ablauf des unbestimmt-summarischen Prozesses, ... effizient, neutral und ‚gerecht‘“ (S. 297). Das sind immerhin Qualitäten, an denen sich sogar moderne Gerichte orientieren könnten! Die häufige Inanspruchnahme des Gerichts durch die bäuerliche Bevölkerung verweise „auf ein hohes Maß an Verrechtlichung der ländlichen Gesellschaft in der Frühen Neuzeit“ (S. 298). Abgesehen davon, daß das Gericht ein wichtiges und wirkungsvolles „Forum der dörflichen Öffentlichkeit“ war, fungierte es als „Notariat“ und „Rechtsdurchsetzungsgarant“ (S. 298). Hinsichtlich der zuletzt genannten Funktion sind aber Zweifel anzumelden, hat doch die Verfasserin selbst an anderer Stelle (S. 239ff.) die immensen Vollzugsdefizite des Gerichts herausgearbeitet. Mit seiner Konfliktlösung trug es jedenfalls zur Gestaltung der sozialen Ordnung bei. Demgegenüber kam dem auf gemeindlicher Autonomie beruhenden Gericht („Dorfgericht“) kaum noch Bedeutung zu. Die Konfliktregulierung hatte das herrschaftliche Gericht übernommen. Innerhalb der lokalen Gerichtsverfassung genoß das schulenburgische Gesamtgericht seitens der Gerichtsuntertanen eine Bevorzugung, weil es (im Unterschied zu den Gerichten der Gutsverwalter) zumeist unabhängig und neutral agierte. Bei Streitigkeiten zwischen Gutsherrschaft und Untertanen wurde zudem das „bauernfreundliche“ Altmärkische Quartalgericht bemüht. Somit entsprach diese Art von Justiz weitestgehend den Interessen der dörflichen Bevölkerung – und das weit vor den bürgerlichen Reformen des 19. Jahrhunderts.
Das „Literaturverzeichnis“ listet archivalische Quellen (in stattlicher Anzahl), gedruckte Quellen und Literatur auf. Abgesehen davon, daß manche neuere Arbeiten zur historischen Kriminalitätsforschung nicht gesehen wurden, haben sich wenige Ungereimtheiten in die bibliographischen Angaben eingeschlichen. Die Beiträge des Symposions für Adalbert Erler sind unter dem Titel „Recht, Gericht, Genossenschaft und Policey. Studien zu Grundbegriffen der germanistischen Rechtshistorie“ erschienen (anders S. 311, 326). Bei Ebel (S. 312) muß es richtig heißen „Ebel, Wilhelm“. Der letzte Band des HRG ist 1998 vollendet worden (anders S. 315).
Auf das Ganze gesehen hat die Verfasserin eine Forschungsleistung vorgelegt, die zu weiteren Untersuchungen dieser Art animieren sollte. Freilich mußte sie bereits Bekanntes und Unstreitiges bestätigen; anderes aber erweitert unzweifelhaft die wissenschaftlichen Erkenntnisse über den Rechtsalltag in den Dörfern der Frühen Neuzeit. Die Arbeit bietet im übrigen viele Details zur rechtlichen Volkskunde (Gerichtsorte, Gemeindebier, Festkultur, Rügebräuche u. a.). Auch unter diesen speziellen Aspekten verdient die Dissertation von Jenny Thauer – keineswegs nur bei Rechtshistorikern – Beachtung.
Halle an der Saale Heiner Lück