Tischler, Matthias M., Einharts Vita Karoli
Tischler, Matthias M., Einharts Vita Karoli. Studien zur Entstehung, Überlieferung und Rezeption (= Monumenta Germaniae Historica-Schriften 48). Hahnsche Buchhandlung, Hannover 2002. LXX, VI, 1828 S., 8 Abb.
Die monumentale Arbeit ist die erweiterte Fassung einer von Walter Berschin betreuten Heidelberger neuphilologischen Dissertation. Sie ermittelt die älteste maßgebende Überlieferung und Aufnahme der Lebensbeschreibung Karls des Großen in der Karolingerzeit. Besondere Bedeutung misst sie der Frage nach Entstehung und Verhältnis der beiden Redaktionen A und B bei.
Der Untersuchung stellt der Verfasser ein umfangreiches Quellen- und Literaturverzeichnis voraus. Dem folgt der Überblick über die Handschriften in der Form der Handschriftensiglen. Insgesamt werden dabei 136 Handschriften aufgelistet.
Der Verfasser beginnt seine Beschreibung des Forschungsstands unter der Vorstellung, dass keine Herrscherlebensbeschreibung im gesamten Mittelalter von so zentraler form- und geschichtsbildender Kraft gewesen sein dürfte wie Einharts Karlsbiographie. Gleichwohl fehlte bislang eine genaue Zusammenstellung aller Handschriften auf aktuellem Standt. Angesichts der fortgeschrittenen weltweiten Erschließung des Handschriftenbestands drängte sich die Notwendigkeit einer kritischen Überlieferungsgeschichte ohne weiteres auf.
Dabei ist es leicht verständlich, dass eine im Grund auf Einschätzungen des 17. Jahrhunderts zurückgehende Beurteilung von Handschriftenverhältnissen sorgfältiger Überprüfung in der Gegenwart nicht mehr standhalten kann. Damit wird auch die Ausgabe zweifelhaft. Ihrer Verbesserung kann die Ermittlung der Textgeschichte nur zum Vorteil gereichen.
Deswegen wendet sich der Verfasser als nächstes der Überlieferung zu. Dabei stellt er als erstes die Handschriften der Vita Karoli zusammen (134), wobei sich ergibt, dass von den 123 sicheren Handschriften und Handschriftenfragmenten 105 dem Mittelalter angehören. Danach versucht er die Aussonderung der Überlieferung der althochdeutschen Monatsnamen und Windnamen des Kapitels 29 (16) sowie der Grabinschrift des Kapitels 31 (1 bzw. 3) und die Zuordnung sonstiger Nennungen.
Im Anschluss hieran befasst er sich mit den Textredaktionen und stellt mit einleuchtenden Beobachtungen die Handschrift Vatikan, Biblioteca Apostolica Vaticana, Vat. Reg. lat. 339 aus dem Besitz des Kanzlers Grimalt von Sankt Gallen als ältesten erhaltenen Vertreter der originalen, nicht interpolierten offiziellen Ausgabe der Vita Karoli fest, deren sonstige Überlieferung sich für ihn auf westfränkisch-französische Handschriften beschränkt. Als Entstehungszeit der Vita erkennt er unter subtilen Erwägungen das von einer Reformaufforderung Ludwigs des Frommen gekennzeichnete Jahr 828. Das Ludwig dem Frommen 828 vom Aachener Pfalzbibliothekar Gerward überreichte Widmungsexemplar, von dem sich die Recensio B ableitet, erweist er als bereits durch Abänderungen und Fehler geprägt (z. B. versehentliche Auslassung des Namens Roland in Kapitel 9). Als ihre ältesten noch erhaltenen Zeugen stuft er die Handschriften Wien, Österreichische Nationalbibliothek Cod. 473 (Worms um 859), Montpellier, Bibliothèque de l’Ecole de Médecine Ms. 360 (Auxerre 1. Hälfte 10. Jahrhundert) und Saint-Omer, Bibliothèque municipale Ms. 776 (Saint-Bertin um 1000) ein. Nach detaillierten, spannend und überzeugend formulierten Einzeluntersuchungen kommt er zu dem Schluss, dass aus dem Aachener Widmungsexemplar bald bis zu fünf Abschriften für Empfänger in unmittelbarer Nähe des Verfassers und des Aachener Kaiserhofs hervorgegangen sind, die von Reims (Ebo?), Sachsen, Grimalt? (, der Reichenau und Metz) aus auf unterschiedliche Gegenden Europas ausgestrahlt haben dürften (Rezensionen B1, B1a, E, B3, B2, B2a, Handschriftenstemma S. 588/589). Demgegenüber wird die Kompendienüberlieferung (Rezension A1a) auf Handschriften in Lorsch und Mainz zurückgeführt.
Danach untersucht der Verfasser ebenso sorgfältig die auch von der von Pertz für seine Edition bevorzugten, tatsächlich aber zweifach kontaminierten und auch leicht überarbeiteten Handschrift Wien, Österreichische Nationalbibliothek Cod. 529 (Trier frühes 10. Jahrhundert) vertretene offizielle Ausgabe (Rezensionen A, A2, A2a, A3, A3a, Handschriftenstemma S. 1312/1313) und die ( um 875?) überarbeitete offizielle Ausgabe (Rezensionen A5, A5a, C, Handschriftenstemma S. 1658). Als Ergebnis hält er fest, dass die gesamte Überlieferung von wenigen auf Einharts Originalhandschrift fußenden karolingischen Abschriften ihren Ausgang genommen hat. Neben der vornehmlich deutschen Überlieferung stehen dabei besondere westfränkische Überlieferungszentren. In dieser besonderen Überlieferungslage erkennt er schließlich auch die Widerspiegelung einer wachsenden Entfremdung zwischen den traditionellen Domschulen des Reichs und den aufsteigenden Universitäten West- und Südeuropas im Hochmittelalter.
Den Beschluss der Untersuchung bildet die sorgfältige Editionsgeschichte der Vita Karoli. Sie weist auf alle bisherigen Schwächen und Fehler ausführlich hin. Von daher liegt nach dieser beeindruckenden Forschungsleistung nichts näher als eine auf die kritische Überlieferungsgeschichte gestützte kritische Ausgabe der Vita Karoli Einharts. Möge sie dem Verfasser bald und überzeugend gelingen.
Innsbruck Gerhard Köbler