Wadle, Elmar, Französisches Recht in Deutschland
Wadle, Elmar, Französisches Recht in Deutschland. Acht Beiträge zur Geschichte des 19. Jahrhunderts (= Annales Universitatis Saraviensis 132). Heymanns, Köln 2002. VIII, 168 S.
Da eine Gesamtgeschichte der Einflüsse des französischen Rechts auf die deutsche Rechtsentwicklung im Verlauf des 19. Jahrhunderts noch immer fehlt, ist die Aufsatzsammlung von Wadle sehr zu begrüßen. Der Band enthält sieben bereits an anderer Stelle erschienene Abhandlungen und einen Originalbeitrag über die „Französische Revolution und die Modernisierung der Rechtsordnung“ (S. 1ff.). Aufgrund der Theorien des Vernunftrechts und der Aufklärung brachte die Revolution eine Trennung von Staat und Gesellschaft. Nach der Auflösung der ständischen Bindungen verkörperte das neue Sozialmodell eine Gesellschaft von gleichen Staatsbürgern, deren Rechte auf der Freiheit und Gleichheit beruhten. Gleichheit verlangte Einheitlichkeit insbesondere auch des Rechts, die durch die national abgegrenzte neue französische Rechtsordnung entstand. In einem eigenen Abschnitt „Egalitäres Recht“ weist Wadle auf „grundlegende Bauelemente der neuen Rechtsordnung“ hin: einheitlich gestaltete Rechtsubjektivität, Anerkennung des Privateigentums sowie Vertragsfreiheit (S. 12). Letztere spielte auch im Eheschließungs- und Ehescheidungsrecht durch die Anerkennung der vertraglichen Ehescheidung bereits im Jahre 1792 eine entscheidende Rolle. Für die deutsche Auseinandersetzung mit dem franz. Recht sind, wie Wadle in dem Beitrag „Französisches Recht und deutsche Gesetzgebung im 19. Jahrhundert“ (S. 41ff.) darlegt, mehrere Zeitstufen zu unterscheiden (S. 48ff.). In der revolutionären Zeit bis 1798 fasste das französische Recht in den linksrheinischen Territorien nur sehr begrenzt Fuß, während seit dieser Zeit in den neu entstandenen vier rheinischen Departementen das innerfranzösische Recht voll übernommen wurde. In der Rheinbundzeit kam es auch im Großherzogtum Berg, im Königreich Westfalen und in den hanseatischen Departements zu einer umfassenden Übernahme französischen Rechts, während in den süd- und mitteldeutschen Staaten - eine Ausnahme machte nur Baden mit der Übernahme des Code Napoléon - das französische Zivilrecht (insbesondere der Code Napoléon) im wesentlichen nur Gegenstand einer breiten Rezeptionsdiskussion war.
In der dritten Epoche (1815-1866) festigte sich in den ehemaligen französisch-rechtlichen Gebieten, in Berg und teilweise auch in Baden einerseits die Position des beibehaltenen französischen Rechts, das die rechtspolitischen Diskussionen in den Einzelstaaten nachhaltig mitbestimmte, bis es mit der Rechtsvereinheitlichung seit der Reichsgründung sukzessive die unmittelbare Geltung verlor. Der Beitrag: „Die Anfänge der Zivilstandsregister“ (S. 77ff.) enthält „Notizen zur Einführung des französischen Rechts in Deutschland unter besonderer Berücksichtigung der Saargegend“. Der Aufsatz: „Ehescheidung vor dem Standesbeamten“ (S. 99ff.) behandelt das revolutionäre Scheidungsrecht und seine Praxis in Saarbrücken. In beiden Aufsätzen geht Wadle von der Rechtsentwicklung in Frankreich aus mit einer detaillierten Kennzeichnung des französischen Scheidungsgesetzes von 1792. Die Einführung der Zivilstandsregister im Mai 1798 verlief zumindest in den kleineren Gemeinden nicht ohne Schwierigkeiten, die wohl erst 1801 mit dem Erscheinen eines „Vollständigen Handbuchs für Maire und Adjunkten“ (S. 97) überwunden wurden. Vor dem Erlass des Code civil kam es in Saarbrücken nur zu zwei erfolgreichen Ehescheidungsverfahren, wobei zu berücksichtigen ist, dass auch im Rheinland nach der französischen Herrschaft die Zahl der Ehescheidungen im Vergleich zu den Gebieten, in denen das preußische Allgemeine Landrecht galt, gering war. In dem Beitrag: „Vom französischen zum rheinischen Recht“ (S. 19ff.) geht Wadle dem Recht als Instrument und Indikator politisch-sozialen Wandels nach; ausgehend von zwei Schriften Friedrich Georg Rebmanns aus dem Jahre 1814, in denen dieser als politisches Programm für Deutschland die Grundsätze herausstellte, die man später als „Rheinische Institutionen“ bezeichnete (u. a. Öffentlichkeit der Rechtspflege und die damit verbundenen milderen Verfahrensformen, insbesondere Geschworenengerichte; Religionsfreiheit; Abschaffung der Feudalabgaben usw. und Ausformung der bürgerlichen Eigentumsverhältnisse). In Anlehnung an die Thesen Alfons Bürges (in: Das französische Privatrecht im 19. Jahrhundert, 1991) stellt Wadle fest, dass im Rahmen der neuen Eigentumsordnung, die in Art. 544 C. N. ihren Ausdruck fand, „noch keine Prävalenz des Privateigentums gegenüber den öffentlichen Ansprüchen“ zu erkennen sei. Noch sei die Eigentumskonzeption nicht vom Individuum als einem privatautonomen Rechtssubjekt hergeleitet und sie sei nicht fundiert in der Idee der persönlichen Freiheit (S. 34f.). Wenn der C. N. noch nicht den unmittelbaren Übergang zu einer aus dem Geist des Liberalismus geprägten Privatrechtsordnung bewirkte, so konnte der C. N. auf deutscher Seite früher als liberale Kodifikation wahrgenommen werden, da man die in Frankreich bestehenden öffentlich-rechtlichen Beschränkungen insbesondere des Eigentums nicht wahrnahm, vielmehr ein Teil von ihnen im Rheinland bald eingeschränkt wurde. Die Einführung des französischen Rechts im Rheinland hatte mit der Zerstörung fast sämtlicher Strukturen des Ancien régime zu einem sozialen Wandel geführt, der Ausdruck einer neuen sozialen Realität war, die nach dem Selbstverständnis der Rheinländer auf den französischrechtlich-rheinischen Institutionen beruhte. Diesen Institutionen geht der Beitrag über Siebenpfeiffer nach (S. 63ff.), der in seiner Zeitschrift „Rheinbayern“ 1830 einen Aufsatz über „Die Institutionen Rheinbayerns“ veröffentlichte und hier u. a. folgende Grundsätze herausstellte: Freiheit der Personen und des Eigentums; Gleichheit vor dem Gesetz; Trennung der Justiz von der Verwaltung; Gerichtsordnung und Verfahren; administrative Justiz. Wie Rebmann ist auch er an den Idealen und Zielen der Französischen Revolution und nicht an den von ihm generell als verfassungswidrig angesehenen Kaiserdekreten diktiert.
In dem bereits erwähnten Beitrag S. 41ff. beschreibt Wadle die Forschungslage hinsichtlich der Einflüsse des französischen Rechts auf Deutschland im 19. Jahrhundert Ob man mit Coing (S. 43) von einer „zweiten Rezeption“ sprechen sollte, ist fraglich, da die Rechtsentwicklung in Deutschland durchaus eigenständig verlief, wenn auch unter steter Berücksichtigung der „führenden Rolle des französischen Rechts“. Den Höhepunkt seines Einflusses erreichte das französische Recht zwischen 1848 und 1870; noch 1869 erhielt Bayern eine Zivilprozessordnung unter sehr starker Anlehnung an den rheinisch-französischen Zivilprozess. Nach der Reichsgründung hatte das rheinisch-französische Recht seine Vorbildfunktion verloren. Zwar dürften den Zeitgenossen die Einflüsse des französischen Rechts auf die Reichsjustizgesetze bewusst gewesen sein. Jedoch wurden sie in der Öffentlichkeit kaum mehr ausdrücklich thematisiert, so dass die rheinisch-französischrechtlichen Traditionen im modernen deutschen Recht lange Zeit im Hintergrund blieben und zunehmend verdrängt wurden. Erst in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts wurden sie gleichsam wieder neu entdeckt. Dies gilt allerdings nicht für die gewerblichen Schutzrechte, für deren Herausarbeitung die französische Rechtsentwicklung schon zur Revolutionszeit eine neue Epoche eingeleitet hatte: In dem Beitrag „Der Einfluss Frankreichs auf die Entwicklung gewerblicher Schutzrechte in Deutschland“ (S. 113ff.) geht Wadle dem nachhaltigen Einfluss nach, den das französische Recht auf die Entwicklung der gewerblichen Schutzrechte in Deutschland gehabt hat. Das Musterschutzgesetz von 1876 sowie das Markenschutz- und das Patentgesetz von 1877 sind das Ergebnis einer detaillierten Auseinandersetzung mit dem französischen Recht, auch wenn sie mehr durch Eigenständigkeit als durch Abhängigkeit geprägt waren (S. 135). Diese Eigenständigkeit beruhte in erster Linie auf dem Widerwillen der deutschen Gesetzgebung und zunächst auch der Wissenschaft gegen jede Überdehnung des Eigentumsbegriffs, der für die Anerkennung der Schutzrechte durch den französischen Gesetzgeber maßgebend gewesen war. Erst Josef Kohler hat mit seiner Lehre vom „geistigen“ oder „industriellen“ Eigentum den entscheidenden Beitrag zur Verankerung der gewerblichen Schutzrechte im dogmatischen Gebäude des deutschen Privatrechts geleistet (S. 145). Der letzte Beitrag betrifft die Zurückweisung der französischen Judikatur zum unlauteren Wettbewerb infolge der vom Reichsgericht wohl zu Unrecht propagierten Spezialität des Markenschutzgesetzes. Erst das BGB (§ 826) und die Neufassung des UWG von 1909 brachten einen grundlegenden Wandel im Kampf gegen den unlauteren Wettbewerb. - Insgesamt verdeutlicht der Band, dass die Einflüsse des französischen Rechts auf die deutsche Rechtsentwicklung zu Beginn des 19. Jahrhunderts relativ gut erforscht sind, während für die spätere Zeit - von den Arbeiten Wadles für das Recht des gewerblichen Rechtsschutzes abgesehen - Detailuntersuchungen noch immer fehlen (so u. a. für das materielle und formelle Strafrecht mit Ausnahme der Schwurgerichtsfrage und für das Zivilprozeßrecht). Aufzufüllen sind diese Lücken nur, wie Wadle S. 45ff. feststellt, mit den Methoden einer innerdeutschen, zum Teil innerstaatlichen Rechtsvergleichs und der vergleichenden Rechtsgeschichte.
Kiel Werner Schubert