Hofmann, Markus, Über den Staat hinaus.

*Hofmann, Markus, Über den Staat hinaus. Eine historisch-systematische Untersuchung zu F. W. J. Schellings Rechts- und Staatsphilosophie (= Zürcher Studien zur Rechtsgeschichte 37). Schulthess, Zürich 1999. Besprochen von Ingo Mittenzwei. ZRG GA 118 (2001)

MittenzweiHofmann20000914 Nr. 10127 ZRG 118 (2001)

 

 

Hofmann, Markus, Über den Staat hinaus. Eine historisch-systematische Untersuchung zu F. W. J. Schellings Rechts- und Staatsphilosophie (= Zürcher Studien zur Rechtsgeschichte 37). Schulthess, Zürich 1999. 239 S.

Die von Marcel Senn, Zürich, betreute Dissertation spürt einem anspruchsvollen und schwierigen Thema nach, an das sich trotz der Fülle der vorhandenen Forschungsliteratur zu Schelling bislang nur wenige gewagt haben. Der Grund dafür liegt darin, daß sich Schelling in seinem umfangreichen Werk anders als sein Zeitgenosse Hegel nirgends zusammenhängend zu rechtspolitischen Fragen geäußert hat. So blieb dem Verfasser nichts anders übrig, als die Grundfragen der Rechtsphilosophie - Warum gibt es Recht? Was ist und woran erkennt man richtiges Recht? Wie wird es durchgesetzt? Was zeichnet den gut eingerichteten Staat aus? - an das Gesamtwerk Schellings heranzu­tragen und seine verstreuten, bisweilen in anderem Kontext geäußerten Stellungnahmen, soweit möglich, zu systematisieren.

Anders als Alexander Hollerbach in seiner umfassenden, historischen Quellenstudie (Der Rechtsgedanke bei Schelling. Quellenstudien zu seiner Rechts- und Staatsphilosophie, Frankfurt am Main 1957) bemüht sich der Verfasser, anhand der Problemkomplexe Subjekt (S. 33-107), Natur (S. 108-130), Geschichte (S. 131-186) und Religion (S. 187-210) die systematischen Verflechtungen in Schellings philosophischer Argumentation zu rekon­struieren und zu erhellen. Dabei steht der Begriff des Subjekts im Mittelpunkt der frühen Auseinandersetzung Schellings mit dem Recht. Im Wege der aneignenden Interpretation von Fichtes „Begriff der Wirtschaftslehre“ (1794) versucht er schon als junger Mann in seiner “Neue(n) Deduc­tion des Naturrechts“ (1796) das Recht der individuellen Freiheit neu zu begründen, ohne allerdings - wie ein Jahr später Kant - eine Grundlegung des Rechts zu beabsich­tigen. Die traditionellen Gegenstände der Naturrechtslehre, wie z. B. Staat, Vertrag oder Eigentum sind für ihn noch kein Thema; bemerkenswert ist nur die jugendliche Radikalität der Deduktion.

Die Hinwendung zur Subjektphilosophie ist kennzeichnend für die Rechtsphilosophie des Deutschen Idealismus; das Prinzip „Subjekt“ bildet zusammen mit der Freiheitslehre den Ausgangspunkt des Rechtsgedankens. Der Verfasser geht deshalb der Frage nach, was das Subjekt überhaupt ist, welche Probleme eine Subjektphilosophie aufwirft und was sich daraus für das Verständnis des Rechts ergibt. Seine Ausführungen sind kenntnisreich und lassen immer neue Gesichtspunkte in einem sowohl historisch, als auch systematisch schwierigen Gedankenzusammenhang aufblitzen. Im Ergebnis führen die frühen Überle­gungen Schellings auf der Grundlage subjektiver Freiheit allerdings noch nicht zu dem erstrebten Ziel, ein tragfähiges, subjektphilosophisches Fundament für eine freiheitliche Gesellschaft zu schaffen, so daß er schon wenige Jahre später nach einem neuen Ansatz zu suchen beginnt, um die Kluft zwischen Subjekt und Objekt zu überwinden.

Im zweiten Problemkomplex „Natur“ nähert sich der Verfasser Schellings Rechts- und  Staatsauffassung von dessen Naturphilosophie her, die er in den ersten Jahren des 19. Jahrhunderts entwickelte. Thema der Darstellung sind hier die ethischen, rechts- und staatsphilo­sophischen Implikationen derselben als einer ebenfalls vom Motiv der Freiheit durchzo­genen und als Gegenentwurf zu den Idealen der Aufklärung sowie den Konsequenzen der aufkommenden Naturwissenschaft interpretierbaren Identitätsphilosophie.

Die schwierigen Gedanken Schellings, mit denen die Einheit von Natur und Vernunft bzw. von Natur und denkendem Subjekt begründet werden, um den Gegensatz von subjektiver Freiheit und natürlicher Notwendigkeit zu  überwinden, führen im Ergebnis zur Annahme, daß die Natur selbst Subjekt ist und sich als solches selbst organisiert. Die Idee eines lebendigen Organismus, eines sich selbst begreifenden und bildenden „Natur­wesens“ wird von jetzt an zur Grundlage des Staats- und Gesellschaftsverständnisses Schellings. Da der Organismus durch die Idee des Ganzen final bestimmt ist und sich in ihm alle Teile und das Ganze auf einen Zweck hin richten, macht erst sein Begriff es möglich, die Natur auf dem fundamentalen Grundsatz des frei handelnden Individuums (einer Vernunftidee) ruhend zu begreifen und als Resultat eines vernünftigen Willens anzusehen. Parallel zur Idee des Organismus soll die Idee des Staates entwickelt werden, weil nur in einem organischen Staat die Bestimmung des Menschen zu Religion, Wissenschaft und Kunst produktiv gelebt werden kann.

Die Frage nach dem Sinn und Zweck der Welt führt Schelling von der Naturphilosophie weiter zur Geschichtsphilosophie. Subjekt der Geschichte ist nicht der einzelne Mensch, sondern die Gattung, bzw. deren Fähigkeit, Geschichte zu machen. Dem Recht kommt dabei die Aufgabe zu, eine Entwicklung in der jeweiligen historischen Gesellschaft zu ermöglichen, indem es sowohl Sicherheit für die Gegenwart als auch Offenheit für die Zukunft gewährleistet. Der Blick zurück auf das überlieferte Recht eröffnet folglich die Möglichkeit, den vernünftigen Lauf der Geschichte zu rekonstruieren und in die Zukunft zu verlängern. Schelling wird damit zum „Philosoph der Rechtsgeschichte“ (Schönfeld); seiner Auffassung nach dient Geschichte letztlich der allmählichen Realisierung der Rechtsverfassung innerhalb einzelner Gesellschaften und der Staaten untereinander. Wie man sich das im Einzelnen vorzustellen hat, wird vom Verfasser im ständigen Vergleich mit den Positionen seiner Zeitgenossen sorgfältig nachgezeichnet.

Im letzten Problemkomplex nähert sich der Verfasser von der Religionsphilosophie her dem Rechts- und Staatsverständnis Schellings. Nach seiner Auffassung schließt Schelling in seinen späten Schriften Gott als Legitimationsgrundlage für Recht und Staat, die das Faktum der Beschränkung des freien Willens ausdrücken, aus. Andererseits wird das Individuum in eine objektive Ordnung eingefügt, die seinen Platz in Gesellschaft und Staat bestimmt. Letztes Residuum des anfangs hoch geschätzten Prinzips der individu­ellen Freiheit bleibt die Gott suchende Kontemplation; hier ist der Einzelne frei, seiner Bestimmung gemäß Religion, Wissenschaft und Kunst nachzugehen. Den politischen Forderungen seiner Zeit steht der alte Schelling fremd gegenüber. Sicherlich auch ein Grund, warum die Diskussion in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts achtlos über seine Rechts- und Staatsphilosophie hinweggegangen ist und sie erst im 20. Jahrhundert wieder größeres Interesse fand.

Köln                                                                                                              Ingo Mittenzwei