Gehler, Michael, Der lange Weg

nach Europa. Österreich vom Ende der Monarchie bis zur EU, Bd. 1 Darstellung: Österreich vom Ende der Monarchie bis zur EU, Bd. 2 Dokumente: Österreich von Paneuropa bis zum EU-Beitritt. Studienverlag, Innsbruck 2002. 1449 S. Besprochen von Anita Ziegerhofer-Prettenthaler. ZRG GA 121 (2004)

Gehler, Michael, Der lange Weg nach Europa. Österreich vom Ende der Monarchie bis zur EU, Bd. 1 Darstellung: Österreich vom Ende der Monarchie bis zur EU, Bd. 2 Dokumente: Österreich von Paneuropa bis zum EU-Beitritt. Studienverlag, Innsbruck 2002. 1449 S.

 

1992 veröffentlichte der deutsche Historiker Wolfgang Mommsen den Sammelband „Der lange Weg nach Europa“; darin stellten Historiker aus Polen, Ungarn, der Tschechoslowakei und Russland aus ihrer jeweiligen nationalen Sicht den Weg nach Europa dar. Österreichische Historiker kamen nicht zu Wort, immerhin man befand sich damals in der Verhandlungsphase für einen Beitritt zur Europäischen Union, hatte den Vertrag von Porto unterzeichnet und sich dadurch verpflichtet, nicht nur die wirtschaftliche Vereinigung zu bejahen, sondern auch der in Gründung begriffenen Europäischen Union und somit der politischen Vereinigung beizutreten. Ein möglicher Grund, warum österreichische Historiker bei Mommsen nicht zu Wort kamen, könnte auch darin gelegen sein, dass sich diese teilweise nur oberflächlich mit der Frage der europäischen Integration auseinander setzten. Zehn Jahre danach hat sich die Situation schlagartig geändert wie die Bibliographie des vorliegenden Werkes beweist (61 Seiten!).

 

Sieben Jahre nach Abschluss der Beitrittsverhandlungen Österreichs mit der Europäischen Gemeinschaft bzw. der Europäischen Union veröffentlichte der Innsbrucker Zeithistoriker Michael Gehler ein zweibändiges, umfassendes insgesamt 1449 Seiten umfassendes Werk über den österreichischen „langen Weg nach Europa“. Im „kurzen 20. Jahrhundert“ (Eric Hobsbawm)“ bahnte sich Österreich den Weg durch das Dickicht europäischer Integration: vom Zerfall der Monarchie, übertüncht durch den langen Schatten des Staates (Ernst Hanisch), über das kontrollierte und fremdbestimmte Dezennium hinweg, später im Spannungsfeld zwischen Neutralität, Souveränität und Integration. Gehler scheute sich nicht, diesen „langen Weg“ nachzuskizzieren, wiewohl er eingestehen musste, dass dieses komplexe Thema eine große Herausforderung für den Historiker, ja für alle mit der Thematik befassten Wissenschafter sei. In zwölf Kapiteln versucht der Autor erstmals Österreichs „Europa-Politik“ darzustellen, zu analysieren und zu interpretieren. Dabei zeigte sich, dass der österreichische Integrationsprozess keineswegs linear verlief, sinngemäß von Paneuropa oder Mitteleuropa nach Unionseuropa. Vielmehr markieren eher Rückschläge, Hindernisse, Enttäuschungen und Kompromisse den Weg als große spontane Erfolge.

 

Eingebettet in die europäische Geschichte und - wo notwendig - auch in die Weltgeschichte beginnt Gehler mit der Darstellung der österreichischen Integrationspolitik in der Zwischenkriegszeit. Dabei erkennt man sehr klar, dass die Erste Republik zwischen Paneuropa und Mitteleuropa oszillierte, man wollte alle Türen offen halten, wohl nur so erklärt sich beispielsweise die Sympathie von Bundeskanzler Seipel für beide Europa-Ideen, wiewohl er im Herzen doch Mitteleuropäer war. Wenngleich Donaueuropa und Paneuropa und zusätzlich die Anschluss-Thematik das zwischenkriegszeitliche Österreich dominierten, unterlässt Gehler es nicht, beispielsweise auf das legitimistisch und sozialistisch intellektuelle Österreich eines Ernst Karl Winter oder Alfred Klahr einzugehen. Tatsächlich allerdings musste Österreich den Europaplänen des Nationalsozialismus weichen. Sein Schicksal innerhalb Europa war bereits 1936 besiegelt. Gehler rechtfertigt seine zwischenkriegszeitliche Schau u. a. damit, dass sich die politischen Eliten der damaligen Zeit nach 1945 größtenteils in hohen Regierungsfunktionen wiederfanden, Leopold Figl, Karl Renner, Adolf Schärf oder Bruno Kreisky, um nur einige zu nennen. Das ist, wenn man an Konrad Adenauer, Alcide de Gasperi, Paul-Henri Spaak, Robert Schuman und nicht zuletzt an Jean Monnet denkt, eine „europäische“ Signatur. Im Vergleich mit der Zweiten Republik war die „Europafreundlichkeit“ in der Ersten Republik nicht so stark ausgeprägt: doch auch hier stößt man auf ein gesamteuropäisches Phänomen, das die Annahme bestätigt, dass Europa abermals einen Zweiten Weltkrieg über sich ergehen lassen musste, um endgültig „reif“ für die Abgabe von (Teil-) Souveränität zu sein. Während Paneuropa teilweise noch nach 1945 in der österreichischen Geschichte einen Platz eingenommen hatte und sich der Gründer der Bewegung, Richard Nikolaus Coudenhove-Kalergi, einen Ehrenplatz unter den Europaarchitekten recht und schlecht sichern konnte, gab der Mitteleuropa-Plan nur zu manch oberflächlichen Diskussionen Anlass. Zur innerparteilichen Konfrontation zwischen ÖVP-Generalsekretär Erhard Busek und Außenminister Alois Mock kam es diesbezüglich 1989; ersterer hatte just in dem Jahr, in dem Österreich den Antrag auf Beitritt in die EU stellte, ein Buch mit dem Titel „Mitteleuropa“ veröffentlicht, worin eine klare Abgrenzung zu Deutschland festgelegt wurde. Dies war eine der bitteren Begleiterscheinungen auf dem langen Weg nach Europa; immerhin äußerte sich der deutsche Bundeskanzler Helmut Kohl darüber abschätzig: würde dieses Buch Ausdruck der Europa-Politik Österreichs sein, wolle man ein derartiges Land nicht in die Gemeinschaft aufnehmen.

 

Den beiden Kapiteln über die Zwischenkriegszeit schließt sich ein eigenes Kapitel an, das der Zeit während des österreichischen Exils gewidmet ist. Es zeigt, wie die Europa-Pläne österreichischer Intellektueller ebenso an partei-ideologischen Barrieren scheiterten wie die Schaffung einer österreichischen Exilregierung.

Mit dem Gruber-De Gasperi–Abkommen (1946) leitet Gehler von der Exilzeit zu den Anfängen der europäischen Integration über. Gehlers langjährige Forschungen über die Außenpolitik Grubers und überhaupt über die österreichische Südtirol-Politik finden hier als ein Modell eines möglichen „europäischen“ Weges ihren Niederschlag, wenngleich der Autor daran erinnert, dass Europa im Sinne eines vereinten Europa damals noch nicht existierte, geschweige denn, das herkömmlich verstandene Europa dem österreichischen Außenminister zur Seite stehen konnte bzw. wollte.

 

Während die europäische Integration mit der Absichtserklärung von Schuman am 9. Mai 1950 praktisch einsetzte und durch Gründung der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl 1952 erstmals realisiert wurde, musste Österreich vorerst Verhandlungen um seine Unabhängigkeit führen, die schließlich im Staatsvertrag 1955 mündeten, allerdings mit der Auflage, sich zu einer immerwährenden Neutralität im militärischen Sinne vertraglich zu bekennen. Wirtschaftlich konnte sich Österreich der OEEC angliedern und bald mit den weiteren europäischen Neutralen unter Federführung Großbritanniens 1960 die Europäische Freihandelsassoziation EFTA, jenen illustren Kreis der „Sieben“, gründen. Die Europapolitik der Vierziger- und Fünfzigerjahre umschreibt Gehler mit der von Außenminister Karl Gruber getätigten Aussage „auf sanften Pfoten gehen“.

 

Detailverliebt und aufdeckerisch seziert Gehler weiter den Weg nach Brüssel: Österreichs Europapolitik wurde nun attraktiver und konkreter. Der EFTA-Beitritt wird als Sonderweg beschrieben, ein (erster) Alleingang eines neutralen Staates nach Brüssel zur Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft war damals vor allem aus innenpolitischen und außenpolitischen Gründen nicht möglich. Darüber hinaus weist Gehler darauf hin, dass die Europapolitik von Bundeskanzler Josef Klaus möglicherweise zur konzilianteren Haltung der Sowjetunion gegenüber Österreich geführt hat. Mit dem Beitritt zur EFTA und mit dem Freihandelsabkommen mit der EWG von 1972 begann ein europapolitischer Synergieeffekt, der schließlich mit der Großen Koalition seit 1987 konkrete Formen annahm und mit der Aufnahme Österreichs in die Europäischen Union mit 1. Jänner 1995 vorerst endete. Dieser Prozess wird von allen Seiten, parteipolitisch, aus der Sicht der Verbände und Interessensvertreter, ökonomisch und sozialgeschichtlich minutiös genau beleuchtet, kein nationales oder internationales Ereignis wird vergessen. Paradigmatisch wird die „Europa Region Tirol-Südtirol-Trentino“ vorgestellt, um so dem europapolitischen Themenbereich eines „Europa der Regionen“ gerecht zu werden.

 

Die vorliegende Darstellung der österreichischen Integrationspolitik verleitet schließlich den Autor zur These, dass Österreich sich so weit wie möglich und nützlich immer darum bemüht hat, am Integrationsprozess teilzunehmen. Der Ansicht des Autors, dass der EU-Beitritt Österreichs Kontinuität aufweise, trat allerdings der Wiener Historiker Thomas Angerer entgegen. Er vertrat zunächst den Standpunkt, dass der Beitritt eine Zäsur in der österreichischen Integrations/Europapolitik bedeute. Damit war eine österreichische Historiker-Kontroverse eröffnet. Gehler forderte im Zuge der Debatte, die gängigen termini technici zu ändern, beispielsweise plädierte er für den Begriff „variable Integration“ anstelle von „alter“ oder „neuer“ Integration. Dasselbe gilt auch für die Untersuchung des Begriffes „Souveränität“, welche er – abstrakt gesehen – als reine Fiktion bzw. als Mythos demaskierte. Welche europäischen Staaten waren nach 1945 wirklich „keiner weiteren, fremden Bindung oder Derogationsmöglichkeit unterliegenden Herrschaftsgewalt“ ausgesetzt? Man denke unabhängig von Österreich an Frankreich, Deutschland oder gar an die Staaten in Ost- und Mitteleuropa. Die Kontroverse mündete schließlich in einem Kompromiss; aus der Sicht Gehlers ist Österreichs Integrationspolitik ambivalent und Angerer umschreibt jetzt die Integrationspolitik als ein Mittelding zwischen Kontinuität und Diskontinuität.

 

Das Abschlusskapitel enthält die Darstellung der Politik Österreichs als EU-Mitglied seit dem Beitritt. Auch hier entgeht dem ganzheitlichen Blick des Autors kein wichtiges national- und international-politisches Thema (Stichwort: Sanktionen, Temelin, 11. September 2001, EU-Erweiterung, Konvent).

 

Titel und Untertitel des Buches sind präzise gewählt, sodass hier bereits vorweg genommen wird, was der Zeithistoriker mit seinem zweibändigen Opus bezweckt. In sein Werk konnten seine langjährigen Forschungsarbeiten (Europa, Gruber de Gasperi, Christdemokratie im 20. Jahrhundert oder Tiroler Landesgeschichte) kompakt, umfassend und souverän einfließen, nicht zuletzt zählt Gehler zu den ersten Historikern, die sich mit dem Themenkreis Österreich und Europa auseinander setzten. Das Buch ist geprägt vom scharfen, analytischen Geist des Zeithistorikers und ähnlich konzipiert wie ein bereits vorliegendes Studienbuch „Österreich. Erste und Zweite Republik“ desselben Verlags. In erster Linie handelt es sich um eine historiographische Darstellung, garniert mit einer würzigen Historikerkontroverse und mit einem zum Zeitpunkt des Verfassens aktuellen Ausblick! Der Umfang des Werkes mag auf den ersten Blick abschrecken, doch auch hier hat der Autor einen guten Weg gefunden, seine Leserschaft für seine detailgetreue und beinahe minutiös analysierte Darstellung einzunehmen; fast allen Kapitel wird eine Bilanz angefügt, durch die man sich relativ schnell über das vorher Dargestellte informieren kann. Personenregister, Integrationsbibliographie, chronologische Darstellung von 1945 bis 2002 zähmen das umfassende Konvolut, basierend auf Daten, Fakten, Namen, nationalen und internationalen Zeitungsartikeln, Primär- und Sekundärquellen, Zeitzeugen-Interviews etc. Der Versuch, die komplexen Bereiche Innenpolitik, Außenpolitik und Europapolitik vor dem Kontext des globalen Wandel zu fassen, erscheint gelungen.

 

Der 758 Seiten umfassende Dokumente-Band enthält insgesamt 286 Dokumente, die nicht nur die Marksteine oder Schlüsseltexte auf dem Weg nach Europa darstellen, sondern auch teilweise vergessene Materialien wieder zutage fördern. Die Dokumente nach 1945 nehmen naturgemäß deshalb einen größeren Raum ein, weil Begriff und Prozess der Integration erst in dieser Zeit voll in Gang gesetzt wurden. Ziel und Zweck des zweiten Bandes ist es laut Aussage des Autors, das vielschichtige Verhältnis Österreichs zu Europa dokumentarisch darzustellen.

 

Gehler weist schließlich auch auf die Problematik hin, die die Zeitgeschichte in sich birgt, nämlich den Gegenwartsbezug, der Anlass gibt, so manche gefasste Meinung und Darstellung zu modifizieren. Wenn einleitend Mommsens „Weg“ zitiert wurde, dann deshalb, um auch darauf aufmerksam zu machen, dass der Weg noch nicht zu Ende ist, dass das vereinte Europa ein Prozess ist: Ungarn, Polen und Tschechoslowakei wurden 1992 in diesem Sammelband berücksichtigt wie auch Russland, die erst genannten Länder werden bald ihren langen Weg nach Europa abgeschlossen haben, für Russland beginnt er vielleicht erst. Österreich findet sich allmählich in der Europäischen Union zurecht und hat sich beispielsweise im sicherheitspolitischen Bereich vom „Sonderfall“ zum „normalen Anlassfall“ entwickelt. Österreichs Integrationspolitik ist auch im Fluss, viel Politik und Diplomatie muss weiterhin betrieben werden, um an der aktuellen Europapolitik erfolgreich teilzunehmen. Für den Zeithistoriker und nicht zuletzt auch den Rechtshistoriker bedeutet dieses Faktum eine große Herausforderung, er muss aufmerksam die Ereignisse beobachten, und gleichzeitig mit Politikwissenschaftern, Journalisten oder Diplomaten an einer seriösen Darstellung arbeiten. Mit Gehlers Buch liegt erstmals eine gesamtheitliche Darstellung der österreichischen Außen- und Europapolitik von 1918 bis 1995 vor, die als wichtige Grundlage für die weitere Entwicklung der Forschung angesehen werden kann.

 

Graz                                                                                       Anita Ziegerhofer-Prettenthaler