Gehler, Michael, Der lange Weg nach Europa

. Österreich vom Ende der Monarchie bis zur EU, Bd. 1 Darstellung: Österreich vom Ende der Monarchie bis zur EU, Bd. 2 Dokumente: Österreich von Paneuropa bis zum EU-Beitritt. Studienverlag, Innsbruck 2002. 1449 S. Besprochen von Peter Meier-Bergfeld. ZRG GA 121 (2004)

Gehler, Michael, Der lange Weg nach Europa. Österreich vom Ende der Monarchie bis zur EU, Bd. 1 Darstellung: Österreich vom Ende der Monarchie bis zur EU, Bd. 2 Dokumente: Österreich von Paneuropa bis zum EU-Beitritt. Studienverlag, Innsbruck 2002. 1449 S.

 

Im kräftigen Blau, der Europafarbe, legt der junge Innsbrucker Historiker zwei „Ziegel“ vor: Darstellung (691 Seiten) und Dokumente (758 Seiten) über Österreichs „langen Weg nach Europa“. Man darf es gleich anfangs sagen: eine gewaltige Leistung, die zum Teil Produkt der Aktivitäten des 1992 in Nordtirols Hauptstadt gegründeten „Arbeitskreises Europäische Integration“ ist, unterstützt von der Österreichischen Forschungsgemeinschaft, der Alexander von Humboldt-Stiftung und dem „Zentrum für Europäische Integrationsforschung“ der Universität Bonn unter ihrem Leiter Ludger Kühnhardt.

 

Diese enge Zusammenarbeit zwischen österreichischen und deutschen Forschern und Forschungsinstitutionen belegt indirekt auch die Hauptthese dieser gut aus den Quellen belegten Mammutarbeit: Österreichische Politik hinein in die europäische Integration ist zum guten Teil dem Wunsch, ja dem unbedingten Willen austriakischer Politiker nach 1945 zu verdanken (oder anzulasten), Deutschland zu entkommen. Österreichs Reaktion auf die europäische Integration sei „auch infolge von Identitätsdefiziten als Fluchtmechanismus“ (S. 390) zu begreifen. Und Gehler fügt hinzu: „Der Status der Alpenrepublik wurde nach 1918 wie nach 1945/55 im Lichte seiner Beziehungen zu Deutschland gesehen und definiert.“ Genau das war auch der Grund für die „Sanktionen“ der vierzehn anderen Mitgliedstaaten der Europäischen Union, an denen die deutsche Politik wegen ihrer „fast schon sklavisch zu nennenden Bindung der bundesdeutschen an die französische Politik“ sofort teilnahm. Man stelle sich aber vor, so Gehler, eine freigewählte österreichische Bundesregierung wäre auf Druck aus Berlin zurückgetreten. Gehler konstatiert an anderer Stelle – ein bisschen höhnisch-hämisch –: „Deutsche Interessen werden am besten offenbar dadurch vertreten, indem sie nicht oder durch andere vertreten werden“ (S. 468). Jedenfalls wollten die Linkskatholiken in der Österreichischen Volkspartei und die österreichischen Sozialisten unter den Fittichen Europas den Adlerschwingen aus Deutschland entfliehen, halb gewollt und halb durch die Alliierten gezwungen. Gelungen ist das nicht, denn heute ist der deutsche Wirtschafts-, Kapital-, Sprach-(Fernsehen) und Kultureinfluss (Buchbranche, Zeitungen) größer denn je. Die Verflechtung der seit dem 1. 1. 1957 wieder zu Deutschland gestoßenen Wirtschaft des Saarlandes mit dem übrigen Deutschland ist zum Beispiel geringer als die Verflechtung der Wirtschaft Österreichs mit Deutschland. Einzig der Wirtschaftseinfluss Österreichs in Ost- und Südosteuropa ist teilweise sogar größer als der Deutschlands. Da wirken alte Beziehungen aus der Doppelmonarchie. Im Grunde hatte sich das aber genauso schon Friedrich Naumann mit seinem „Mitteleuropa-Buch“ (1915) vorgestellt und gewünscht. Die „Mitteleuropa-Konzeption“ des früheren Vizekanzlers Erhard Busek (ÖVP), (vgl. sein Buch „Projekt Mitteleuropa“, 1986) war allerdings anders, wie Gehler auch ausführlich referiert. Sie war auf die Flucht vor Deutschland und auf Ausschluss Deutschlands bei dieser Bewegung nach Ost- und Südosteuropa aufgebaut, was – nachdem er das Buch gelesen hatte – den damaligen Bundeskanzler Kohl zu einer Demarche in Wien veranlasste; sollte das Buch Buseks „zur Regel der Europapolitik Österreichs werden, so werden sich die Wege trennen“. Es gebe dann auch keine deutsche Unterstützung für den österreichischen Beitrittswunsch (S. 337), vor allem weil Buseks Überlegungen auf dem Weiterbestand der Teilung Deutschlands beruhten. Bürgermeister Zilk (SPÖ) ließ dann am Tage der Wiedervereinigung 1990 die deutsche Flagge am Wiener Rathaus aufziehen. Sein Kanzler Vranitzky, heute Berater der Westdeutschen Landesbank, hatte noch in letzter Minute durch einen „Staatsbesuch“ das Regime Egon Krenz’ stützen wollen. Dennoch hat Deutschland – trotz der Enteignung des deutschen Eigentums in Österreich nach 1945 – unter Kohl Österreichs Beitrittsanliegen immer mehr als unterstützt. Dass die Freiheitliche Partei Österreichs jahrzehntelang für den Beitritt Österreichs zu „Europa“ war, erklärt sich (und erklärt Gehler richtig) aus der Auffassung der deutschnationalen FPÖ, der Beitritt zu EWG/EG/EU sei doch so etwas wie ein halber Beitritt zum „Reich“.

 

Immer ist es den Siegermächten, das stellt Gehler klar heraus, darum gegangen, Österreich und Deutschland das Selbstbestimmungsrecht vorzuenthalten. Das Anschlussverbot von 1955 im Staatsvertrag galt lange Jahre (unter Kreisky und noch danach) auch als absoluter Hindernisgrund für eine europäische Integration Österreichs. Ja, der österreichische Vizekanzler Pittermann (SPÖ) bezeichnete noch 1960 die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft als „faschistischen Bürgerblock“. In vielen Dokumenten des zweiten Bandes Gehlers belegt der Autor (nun offene, seinerzeit geheime Quellen benutzend), wie etwa Kreisky gegenüber de Gaulle oder zu Chrusštschow vielfach erklärte, Österreich könne nicht in „Europa“ mitmachen, da das einen indirekten Anschluss an Deutschland bedeute. Und diese höchstrangigen ausländischen Gesprächspartner (Garantiemächte des Staatsvertrages) bekräftigten das ein ums andere Mal oder verlangten das von sich aus. Noch 1918 kommt das erste Veto der Siegermächte gegen den Anschluss, 1931 zum Plan für einen deutsch-österreichischen Zollvertrag ein zweites Mal (Beneš und Briand bringen das zu Fall), der Churchill-Plan eines süddeutschen Staates 1945 (aus Baden, Württemberg, Bayern und Österreich) scheitert an den übrigen Alliierten, und im Staatsvertrag endlich wird bis zum Verbot des Kaufs deutscher Zivilflugzeuge und der Beschäftigung deutscher Piloten das Anschlussverbot noch einmal festgeklopft. 1989 tritt die Sowjetunion noch dem Beitrittsansuchen Österreichs an die Europäische Gemeinschaft diplomatisch entgegen, ja der belgische Außenminister (Mark Eyskens) empfiehlt 1989 (!) eine Prüfung des Beitrittsgesuches durch die Sowjetunion! Die Kommunistische Partei Österreichs bekräftigt am 3. 5. 1991: „Ein EG-Anschluss würde auf einen neuen Anschluss an Deutschland hinauslaufen.“ Österreichs Versuche mittels Efta und Europäischem Wirtschaftsraum eine österreichische, also „halbe“ Lösung des Problems zu erreichen scheitern, Ersatzlösungen (vom bayerischen Ministerpräsidenten Alfons Goppel und dem österreichischen Landeshauptmann Wallnöfer initiiert) wie die Arge Alpe dümpeln auch heute noch vor sich hin. „Mit halben Mitteln auf halben Wegen zu halber Tat“ (Grillparzer) ging es nicht. Das Veto im Veto war dann die Absage der Alliierten (vor allem Italiens) an das Selbstbestimmungsrecht der Südtiroler, das Veto im Veto im Veto die Bemühungen der Wiener Regierung, die bis in die siebziger Jahre starke Hinneigung der Südtiroler zu Bayern zu konterkarieren. Nur bei Schwäche der potentiellen Vetomächte hat das alles nicht funktioniert, 1938 nicht und nicht mehr 1991, als im September Gorbatschow gegenüber Kanzler Vranitzky erklärte: „Sie können selbst und frei entscheiden!“ Noch 1960 und 1963, als Österreich einen Assoziierungsantrag an die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft stellte, verhinderten italienisches Veto und französische Abneigung gegenüber der „zweiten deutschen Stimme“ den Erfolg (vgl. S. 345; sehr gute Grafik!). Gehler kommt zu dem Fazit: „Die Aufsicht der Siegermächte über Österreich war seit 1918 erprobt. Seit dieser Zeit stand das Land im Grunde unter Kuratel der Großmächte.“ (S. 351) Österreichs Unabhängigkeit habe „ein Fremdfundament“ (ebenda): „In den zwanziger und dreißiger Jahren war Österreichs Souveränität vielfach fremdbestimmt, d. h. beschnitten und reduziert. 1938 wurde sie ausgelöscht, nach 1945 sehr eingeschränkt, nach 1955 immer noch beschränkt.“ (S. 351) Dasselbe gilt natürlich vice versa auch für den zweiten Mindersouverän, dem der Anschluss ja auch immer wieder verboten war: Deutschland.

 

Österreichs „Anschluss“ an „Europa“ war erst möglich, als die „deutsche Frage“ erledigt war, die Neuformulierung der Präambel des Grundgesetzes Deutschland für saturiert erklärte, die Sowjetunion tot und Deutschland durch Maastricht, durch einen „verstärkten Integrationsrahmen“ (nett gesagt auf Seite 401) fest eingebunden war: „Dieser Integrationsrahmen bildete dann die Voraussetzung für eine hinsichtlich deutschlandpolitischer Implikationen bedenkenlosere Bereitschaft der übrigen Mitglieder zur Aufnahme Österreichs“ (S. 401).

 

Die kapitalistische Modernisierung Österreichs, die unter dem Banker und Kanzler Vranzitzy begonnen hat, und zugleich die wirtschaftliche Anziehungskraft der EG/EU lassen dann Österreich in Wahrheit keine große Wahl mehr. Auch an der Donau begann die Wirtschaft die Politik zu dominieren. Vor der Volksabstimmung 1994 über den EU-Beitritt aber, Gehler belegt auch das minutiös, wurde „das Volks abgestimmt“ aufs „Ja-Sagen“. Gehler nennt das eine „ans Unerträgliche grenzende Propagandaschlacht“. (S. 327) Österreich zog eher überredet als überzeugt nach Brüssel, wo ja – vor Jahrhunderten – die Habsburger schon einmal regiert haben. Es wurde statt einer offenen Debatte eine Kampagne gestartet (S. 328), unter anderem mit dem Argument, die Renten seien sonst in Gefahr, die Renten, die gegenwärtig – acht Jahre nach dem Beitritt – um bis zu 40 Prozent gekürzt werden, weil sie sonst in große Gefahr geraten würden. Raffinierterweise wurden alle wirklichen Probleme des Beitritts, der Souveränitätsverlust, der Verlust des Schillings als Währung, die Neutralität, die Sicherheitsfrage (Nato? WEU?) sorgfältig aus der von einer Wiener Werbeagentur geleiteten Kampagne ausgeklammert.

 

Die eigentliche „Revolution“ (so Gehler) der österreichischen Politik war aber, dass nunmehr mit äußerster Chuzpe behauptet wurde, die eigentliche Souveränität Österreichs sei ja innerhalb der Europäischen Union viel stärker als außerhalb. Das war nun schon ein bedeutsames „renversement des alliances“. Alles, was den Österreichern versprochen wurde, ist seither gescheitert: das Atomkraftwerk Temelin ist nicht abgeschaltet, die Beneš-Dekrete sind nicht beseitigt, und das Transitabkommen wird nicht verlängert. Allerdings: das Bruttoinlandsprodukt ist erheblich gewachsen. Gerade zum Transitabkommen ist den Österreichern (und den Tirolern vor allem) eine ganze Sanddüne in die Augen gestreut worden. Es heißt unmissverständlich in einer offiziellen Verlautbarung der Kommission vom 1. 8. 1991: „Österreichs Vorstellung vom erlaubten Verschmutzungsgrad“ (beim Transit am Brenner) sind „mit dem Besitzstand der Gemeinschaft unvereinbar“. Noch 2003 hat die österreichische Bundesregierung dem Volk das glatte Gegenteil erklärt – und das seit 12 Jahren. Zynischerweise haben die EU-Vierzehn bei ihren „Sanktionen“ auch mit einem „Warenboykott“ gegen Österreich gedroht. Da war auf einmal die Freiheit des Warenverkehrs nicht mehr die oberste Maxime, in Fragen der Verpestung und Verlärmung der engen Tiroler Täler schon.

 

Zu allen diesen Themen bietet Gehlers Dokumentenband eine ungeheure Fundgrube. Vom Paneuropa-Plan Coudenhove-Kalergis (, der übrigens die Ostjuden nach Rhodesien verschicken wollte, da „deren Wesensart dem Westeuropäer sehr fremd ist“, vgl. Dok. 8) über die Europa-Ideen des – zerstrittenen – österreichischen Exils (von den Monarchisten Otto von Habsburgs bis zu Austro-Kommunisten) über Efta/EWR bis hin zur innereuropäischen Diskussion 1994/95 reicht die große Auswahl an vielfach bisher unveröffentlichten Akten und Urkunden. 28 Grafiken und 25 Fotoseiten, einige Karikaturen (im Band 1) runden das Bild ab.

 

Zu kritisieren wäre vor allem die Unterbelichtung der drängenden Interessen der Exportindustrie an der Integration (der Diplomatiehistoriker Gehler hat da weniger Zugang) und einige Einzelheiten: auf der Seite 242 im Dokumentenband muss es „Kontinent“ statt „Kontakt“ heißen, „undatierte Presseausschnitte“, „unbenannte Gewährsleute“ sind (als Belege) nicht zuzuordnen, das letzte (12.) Kapitel über die Sanktionen kommt eher als angeklebter, zu langer Leitartikel mit Wiederholungen und Widersprüchen (S. 455 gegen S. 457) daher. Schwerer wiegt die Nichtdiskussion des Maastricht-Urteils des deutschen Bundesverfassungsgerichtes, das eben die Kompetenz-Kompetenz der EU verbietet, die falsche Behauptung, die CDU sei nicht solidarisch mit der ÖVP in der Sanktionenfrage gewesen (im Sommer 2000 gab es eine große Solidaritätsveranstaltung in Berlin, die CSU stand eh auf Wiens Seite gegen die neue „Brüssel-Doktrin“) und bei der unglaublichen Fülle der zitierten Literatur fällt doch auf, dass das wesentliche, vom Wiener Historiker Lothar Höbelt herausgegebene Buch „Republik im Wandel“, 2001) fehlt, wiewohl Höbelt sonst zitiert wird. Schließlich sind die aufgelisteten Fragen am Ende der Kapitel doch keine „didaktischen Hilfen“ zur Arbeit mit den Quellen.

Gehler verschweigt durchaus nicht, dass der EU-Beitritt bessere Wachstumsraten und höhere Exportchancen und Exportanteile für Österreich geschaffen hat. Aber dass der „Sonderfall Österreich“ doch ziemlich „eingenordet“ wurde, viel an Charme und Eigenständigkeit verloren hat, das sieht er auch – mit etwas Wehmut. Österreich ist nicht mehr „die kleine Welt, in der die große ihre Probe hält“, es ist nur noch Teil der ganz großen globalisierten Welt, Unterabteilung EU – mit dem größten Nettozahler Deutschland.

 

Gratwein                                                                                            Peter Meier-Bergfeld