Geistliche Staaten

in Oberdeutschland im Rahmen der Reichsverfassung. Kultur – Verfassung – Wirtschaft – Gesellschaft. Ansätze zu einer Neubewertung, hg. v. Wüst, Wolfgang, red. v. Weber, Andreas Otto (= Oberschwaben – Geschichte und Kultur 10). bibliotheca-academica Verlag, Epfendorf 2002. 464 S. 20 Abb. Besprochen von Gerhard Köbler. ZRG GA 121 (2004)

Geistliche Staaten in Oberdeutschland im Rahmen der Reichsverfassung. Kultur – Verfassung – Wirtschaft – Gesellschaft. Ansätze zu einer Neubewertung, hg. v. Wüst, Wolfgang, red. v. Weber, Andreas Otto (= Oberschwaben – Geschichte und Kultur 10). bibliotheca-academica Verlag, Epfendorf 2002. 464 S. 20 Abb.

 

Zu den bekanntesten Eigentümlichkeiten des Heiligen Römischen Reiches zählt das bunte Nebeneinander weltlicher und geistlicher Herrschaften. Zwar muss auch heute noch zur Bemessung ihres jeweiligen Gewichts anscheinend eine bloße Schätzung für die Zeit vor der Reformation von fünf Sechstel oder sechs Siebtel zu einem Sechstel oder einem Siebtel genügen, doch ist die Bedeutung der geistlichen Territorien als solche allgemein anerkannt. Umso auffälliger ist das Fehlen von Untersuchungen, die sich den geistlichen Staaten im Reich vor allem vergleichend und auf breiter archivalischer Grundlage zuwenden.

 

Dem will der vorliegende Sammelband zumindest für Oberdeutschland abhelfen. Schon auf dem Umschlag eröffnet er einen freien Blick auf ein einzelnes prächtiges Stift. In seinen insgesamt siebzehn Einzelbeiträgen erweitert er ihn durch eine Vielzahl eindrucksvoller Facetten.

 

Zunächst führt der Herausgeber allgemein in die gesamte Problematik ein. Danach werden in einem ersten Abschnitt die Beziehungen zum Reich, zum Kreis und zur Germania Sacra behandelt, wobei schon deutlich wird, dass mit Oberdeutschland vor allem Oberschwaben und damit in erster Linie der Südwesten angesprochen wird. Dabei beschreibt Bettina Braun den Stand der Forschung über die geistlichen Fürsten im Rahmen der Reichsverfassung 1648-1803. Peter Hersche versucht eine Bilanz über die südwestdeutschen Klosterterritorien am Ende des 18. Jahrhunderts. Wolfgang E. Weber äußert sich zur Wahrnehmung und Einschätzung der geistlichen Staaten in der politiktheoretisch-reichspublizistischen Debatte des 17. und 18. Jahrhunderts. Sabine Ullmann untersucht die geistlichen Stände als Kommissare und Parteien am Reichshofrat in der Regierungszeit Kaiser Maximilians II. und Thomas Hölz die Politik geistlicher Staaten in Schwaben der frühen Neuzeit.

 

Im zweiten, Reformen, Staatsaufbau, Kollegium und Institutionen erfassenden Abschnitt erörtert Konstantin Maier die Entwicklung des Konstanzer Wahlkapitulationswesens, Wolfgang Wüst die Personalunionen zwischen Stiftsstaaten, Peter Kissling die Policeyreformationen am Beispiel des Fürststifts Kempten in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts und Richard Ninness die reichsritterschaftliche Familienvernetzung im Hochstift Bamberg. Der dritte Abschnitt fragt nach dem geistlich-weltlichen Dualismus, wobei Peter Claus Hartmann das Verhältnis der Mainzer Kurfürsten und Reichserzkanzler zu den oberschwäbischen Reichsprälaten von 1648 bis 1806, Ulrich Eisenhardt die Beziehungen zwischen Hofgericht und Offizialat, Walter Laube die Chronistik der Abtei Kempten, Ralph Schuller die Jubiläen und Rainer A. Müller die Kaisersäle in Wettenhausen, Kaisheim, Salem und Ottobeuren in den Blick nimmt. Den Abschluss bildet der vierte Abschnitt mit Betrachtungen der Wirtschaftspolitik durch Frank Göttmann und der Weinwirtschaft durch Andreas Otto Weber, die das Fehlen protoindustrieller Ansätze deutlich werden lassen.

 

Die damit geschaffene, vor allem auch innere Bestandsaufnahme erbringt eine Fülle neuer Fragestellungen und Einsichten. Die geistlichen Staaten zeichnen sich nicht nur durch ihre besondere Loyalität zum sie schützenden Reichsverband aus, sondern stellten als Wahlstaaten mit herrschaftsbeschränkenden Wahlkapitulationen und Kompromissen in Kapiteln, Konventen und Kollegialorganen auch einen Staatstyp eigener Prägung dar, dem freilich nicht die Zukunft gehörte. Eine umfangreiche Gesamtbibliographie (Andreas Otto Webers) und ein Personen- und Ortsregister runden den gelungenen, zu weiteren Forschungen anregenden Band angenehm ab.

 

Innsbruck                                                                                                       Gerhard Köbler