Burkhardt, Anika, Das NS-Euthanasie-Unrecht
Burkhardt, Anika, Das NS-Euthanasie-Unrecht vor den Schranken der Justiz - eine strafrechtliche Analyse (= Beiträge zur Rechtsgeschichte des 20. Jahrhunderts 85). Mohr Siebeck, Tübingen 2015. XXXIII, 677 S. Zugl. Diss. jur., Tübingen 2013. Besprochen von Werner Augustinovic.
Dank einer bemühten, seit den 1990er Jahren durch die Erschließung von Archivmaterial der ehemaligen Deutschen Demokratischen Republik (DDR) bereicherten historischen Forschung kann der Ablauf der unter dem Titel der „Euthanasie“ systematisch ins Werk gesetzten nationalsozialistischen Krankentötungen (Aktion T4, Kindereuthanasie, Wilde Euthanasie) heute ungeachtet gewisser begrifflicher Unschärfen im Wesentlichen als gut erforscht gelten. Die bald nach Kriegsende einsetzende strafrechtliche Verfolgung der in welcher Funktion auch immer daran Beteiligten (Funktionäre, mittlere Verwaltungsbeamte, Ärzte, Pflegepersonal, untergeordnetes Funktionspersonal) eröffnete nicht nur erhellende Einblicke in die konkreten Abläufe dieses Geschehens und führte zur wichtigen Feststellung der Tatsachen, sondern warf zugleich grundlegende rechtliche Fragen auf, die den Gegenstand der vorliegenden Untersuchung bilden.
Anika Burkhardt zufolge sind es 151 Euthanasie-Verfahren, die zwischen März 1946 und Dezember 1988 vor westdeutschen und ostdeutschen Gerichten einer rechtskräftigen Entscheidung zugeführt wurden; 77 Verurteilungen - das Spektrum des verhängten Strafmaßes reicht von kurzfristigen Freiheitsstrafen bis zur Todesstrafe - oder Verfahrenseinstellungen stehen 74 Freisprüchen gegenüber. Die sachliche Zuständigkeit der deutschen Gerichtsbarkeit für die Verfahren ergab sich aus dem Umstand, dass die Straftaten von deutschen Staatsangehörigen an deutschen Staatsangehörigen begangen worden waren, sodass im Westen in erster Instanz Strafkammern und Schwurgerichte am Landgericht, in zweiter Instanz die Oberlandesgerichte (später der Bundesgerichtshof) urteilten, wohingegen in der sowjetischen Besatzungszone politische Sonderstrafkammern an den Landgerichten tätig wurden. Als Rechtsgrundlagen standen das alliierte Kontrollratsgesetz (KRG) Nr. 10 und das deutsche Strafgesetzbuch (StGB) zur Verfügung; während sich die westdeutsche Euthanasie-Rechtsprechung überwiegend auf das Strafgesetzbuch (Tatbestände § 211 - Mord, § 212 - Totschlag) stützte, lag den ostdeutschen Entscheiden ausschließlich alliiertes Recht (Tatbestand Art. II Nr. 1 lit. c KRG Nr. 10 - Verbrechen gegen die Menschlichkeit) zugrunde. Nur im Anwendungsbereich des Strafgesetzbuchs hatten die Richter über die Beteiligungsform, also die Unterscheidung zwischen Täterschaft (das nationalsozialistische Euthanasieprogramm als die als Mord qualifizierte Haupttat) und Beteiligung (Beihilfe) zu befinden. In Folge der Dominanz der sogenannten subjektiven Abgrenzungstheorie (das Abstellen auf innere - und somit nicht nachprüfbare - Vorgänge) und des Einflusses von Verjährungsregelungen lasse sich im Ergebnis festhalten: „Die beiden Berufsgruppen der K[anzlei]d[es]F[ührers]-Funktionäre und der mittleren Verwaltungsbeamten, die als die Hauptverantwortlichen des Euthanasie-Programms führende Aufgaben wahrnahmen, wurden ausschließlich wegen Teilnahme abgeurteilt. Bei der Ärzteschaft wurde häufiger Täterschaft angenommen, wohingegen beim Pflegepersonal Aburteilungen wegen Teilnahme dominieren“ (S. 614). Kritisch äußert die Verfasserin dazu: „Die Einstufung vieler Angeklagter als Gehilfen und die Milde der verhängten Strafen widerspricht […] dem Ergebnis, das bei ‚normalen‘ Verbrechen gefunden worden wäre, wenn man davon ausgeht, dass die Euthanasie-Rechtsprechung keine Sonderregelungen für die Aburteilung der angeklagten Euthanasie-Verbrechen aufstellte, sondern diese anhand des ‚normalen‘ Strafrechts erfolgte. […] Denn durch die Annahme von Beihilfe statt von Täterschaft gelangte die Euthanasie-Rechtsprechung zwar zu einem im Einzelfall möglicherweise tatgerechten und tätergerechten Urteil, nahm jedoch auch eine ungleichmäßige und unberechenbare Rechtsanwendung in Kauf. Damit verkehrte sie aber die mit der absoluten Strafdrohung des § 211 StGB bezweckte Rechtssicherheit und Rechtsgleichheit in ihr Gegenteil“ (S. 370f.).
Den historischen Gegebenheiten widersprechende, substantielle Ungereimtheiten ortet Anika Burkhardt auch im Rahmen ihrer dogmatischen Beurteilung möglicher Rechtfertigungsgründe: „Eine Bestrafung der Angeklagten konnte die Euthanasie-Rechtsprechung nur dadurch erreichen, dass sie den Führererlass und den Euthanasie-Gesetzesentwurf für unbeachtlich erklärte. Dies gelang durch einen Rückgriff auf überpositive Rechtsgrundsätze. Damit legte die Rechtsprechung aber einen Maßstab an die Rechtspraxis im Dritten Reich an, der diesem fremd war. Der Rückgriff auf übergesetzliches Naturrecht leugnete das positive nationalsozialistische Recht. […]. Zwar bestreitet niemand, dass die willkürliche Massentötung unschuldiger Menschen […] ein grober Verstoß gegen das überpositive Recht war. Dennoch schuf die Euthanasie-Rechtsprechung durch die isolierte und ex post vorgenommene Rückprojektion rechtsstaatlicher Maßstäbe auf das Unrechtssystem des Dritten Reichs ein niemals real existierendes Rechtsystem. Indem sie bei der Bestrafung der Euthanasie-Täter zur Tatzeit geltende Regelungen wegen ihres angeblichen Verstoßes gegen das übergesetzliche Naturrecht außer Acht ließ, praktizierte sie eine verdeckte Rückwirkung“ (S. 445). Damit habe die Judikative, der es nicht erlaubt sei, das Rückwirkungsverbot zu umgehen, ihre Kompetenzen überschritten. Hier sei der Ball vielmehr beim Gesetzgeber gelegen, der sich jedoch „seiner Verantwortung für die strafrechtliche Aufarbeitung des nationalsozialistischen Unrechtssystems entzogen hatte“ und es unterlassen habe, adäquate Normen (etwa analog dem „offen rückwirkenden“ alliierten KRG Nr. 10, für das im Gegensatz zum deutschen Recht, in dem bei korrekter Anwendung „eine Bestrafung […] am Vorliegen eines wirksamen Rechtfertigungsgrunds gescheitert“ wäre, „die Frage nach der Rechtswidrigkeit der Euthanasie-Verbrechen im Dritten Reich belanglos“ gewesen sei, dessen Anwendung deutschen Gerichten in den westlichen Besatzungszonen aber mit Zurücknahme der alliierten Ermächtigungen ab September 1951 nicht mehr gestattet war) zu etablieren. Durch das Versagen der Legislative waren die Gerichte gezwungen, auf das auf Individualstraftaten zugeschnittene Strafrecht des Strafgesetzbuchs zurückzugreifen, mit dementsprechend „begrenzte(n) Möglichkeiten, über Ausweichbewegungen und Auslegungskunststücke zu der von ihnen als tat- und schuldangemessenen Strafe zu gelangen. […]. Diese Ausgleichsbewegungen sind oft – und in einigen Fällen sicherlich zu Recht – kritisiert worden, denn durch sie konnten möglichst geringe Strafen oder sogar ein Freispruch erlangt werden“ (S. 618).
Die hier herausgegriffenen, grundsätzlichen Aspekte können nur einen Bruchteil der Fragen andeuten, welche die Verfasserin in ihrer höchst fundierten, von Jörg Kinzig betreuten Dissertation der näheren Betrachtung unterzieht. Nach einer Einleitung (Überblick über die Euthanasie-Rechtsprechung, methodischer Ansatz, Forschungsstand, Gang der Untersuchung) entwickelt sich der Inhalt ihrer Arbeit über vier Kapitel. Kapitel 1 beschäftigt sich mit dem Euthanasie-Programm als solchem und seiner rechtlichen Verankerung, in Kapitel 2 kommen die Tatbeiträge der angeklagten Personen- und Berufsgruppen im Rahmen der Zentralverwaltung, der Aktion T 4, der Kindereuthanasie und der Wilden Euthanasie zur Sprache. Der rechtlichen Analyse sind die Kapitel 3 und 4 vorbehalten: Während das erstgenannte eine verfahrensrechtliche Analyse der Euthanasie-Rechtsprechung vornimmt (Alliierte Militärgerichte, sachliche Zuständigkeit der deutschen Gerichte, strafprozessuale Besonderheiten, Verjährung), erörtert letzteres ihre materiell-rechtlichen Gegebenheiten (Rechtsgrundlagen, Beteiligungsform, Rechtfertigungsgründe, Schuldausschließungs- und Entschuldigungsgründe, „stiller Widerstand“). Eine prägnante, acht Seiten starke Zusammenfassung der Ergebnisse, ergänzt um ein Fazit im Umfang von zwei Druckseiten, beschließt den inhaltlichen, von 19 Diagrammen und einer Tabelle visuell unterstützten Teil der Arbeit. Im Anhang findet sich zudem auf 23 Druckseiten chronologisch fortlaufend eine nützliche tabellarische Übersicht der untersuchten 151 westdeutschen und ostdeutschen Euthanasie-Verfahren (Gericht und Datum der rechtskräftigen Entscheidung, Namen der Angeklagten, Tatort, Euthanasieform, Berufsgruppe, Schuldspruch, Strafspruch).
Im Gesamten liefert Anika Burckhardt eine konzise Analyse der deutschen Euthanasie-Strafverfahren und ihrer rechtsdogmatischen Problematik. Sowohl der Umfang als auch die Qualität der Arbeit überschreiten deutlich das Maß, das gemeinhin an juristische Dissertationen angelegt wird. Ausweislich des mehr als 2000 Fußnoten umfassenden Anmerkungsapparates stützt die Verfasserin ihre Aussagen und Schlussfolgerungen in erster Linie auf die Auswertung der Feststellungen in den Gerichtsurteilen, die sie durch die Einbeziehung der umfangreichen historischen und rechtshistorischen Fachliteratur weiter kontextualisiert. Trotz der von ihr konstatierten Unvollkommenheit der juristischen Aufarbeitung des Euthanasie-Komplexes nimmt sie resümierend auch deren gesellschaftspolitische Verdienste wahr: „Eine herausragende Leistung“ sei allein „die Feststellung des Geschehenen mit den strengen Beweismitteln des Strafprozesses“, mit dem „strafrechtlichen Unwerturteil wurden eine Distanzierung zum nationalsozialistischen Unrechtssystem und eine Ächtung der Verbrechen erreicht“, die arbeitsteilig organisierten Täter wurden der schützenden Anonymität des Kollektivs entrissen und „erlangten durch die Strafverfahren ein Gesicht“ (S. 619). Da sich mit Schloss Hartheim in Alkoven bei Linz eine der sechs zentralen NS-Tötungsanstalten der Aktion T 4 auf österreichischem Boden befand, wäre es naheliegend gewesen, auch die die dortigen Vorgänge ahndenden österreichischen Verfahren zu untersuchen und vergleichend einzubeziehen; dies bleibt aber zukünftigen Arbeiten vorbehalten.
Kapfenberg Werner Augustinovic