Hoheitliches Strafen in der Spätantike

und im frühen Mittelalter, hg. v. Weitzel, Jürgen (= Konflikt, Verbrechen und Sanktion in der Gesellschaft Alteuropas, Symposien und Synthesen 7). Böhlau, Köln 2002. VII, 266 S. Besprochen von Mathias Schmoeckel. ZRG GA 121 (2004)

Hoheitliches Strafen in der Spätantike und im frühen Mittelalter, hg. v. Weitzel, Jürgen (= Konflikt, Verbrechen und Sanktion in der Gesellschaft Alteuropas, Symposien und Synthesen 7). Böhlau, Köln 2002. VII, 266 S.

 

Anzuzeigen ist ein wichtiges Buch. Hermann Nehlsen hatte schon 1983 in seinem Aufsatz zur Entstehung des öffentlichen Strafrechts ein anderes Bild der Strafrechtspflege des frühen Mittelalters entworfen, wonach es in den germanischen Staaten auch hoheitliche Elemente der Strafrechtspflege gab, soweit dies den Gesellschaften opportun und durchführbar erschien. Damit wurde das traditionelle Bild entmythologisiert und stärker historisiert. Seither ist das Thema jedoch nur wenig bearbeitet worden, umso mehr wirken etablierte Meinungen zu dieser Epoche. Aus diesem Grund ist es ein verdienstvolles Werk, dass Jürgen Weitzel ausgesuchte Kenner der Materie versammelt hat, um ein neues Verständnis der frühen Strafrechtsgeschichte vorzubereiten.

 

Nach der Einleitung Jürgen Weitzels beginnt Detlef Liebs mit einer Darstellung des spätrömischen Straf- und Strafverfahrensrechts. Er zeigt dabei die Verrohung und Brutalisierung des Strafrechts auf, welche die Übernahme der Herrschaft durch germanische Könige erst möglich machte. Einleuchtend ist, dass gerade aufgrund des christlichen Einflusses die Strafhöhe und –folgen abschreckender gestaltet wurden. Beeindruckend sind an diesem Beitrag sowohl der umfassende Überblick als auch der Reichtum der Aspekte, welche Liebs liefert. Allenfalls hätte wäre noch die Einbeziehung des Militärstrafrechts interessiert gewesen, welche W.-E. Voss 1995 vorgestellt hat.

 

Nach dieser römisch-rechtlichen Grundlegung stellt Gerhard Dilcher das langobardische Recht, seine Gesetzgebung und insbesondere sein Strafrecht vor. Es handelt sich um eine gesetzesnahe Darstellung, die der Materie durch die stärkere Berücksichtigung der Stellung der Frau ein neues Profil zu verleihen versteht. Dilcher betont die Eigenständigkeit des langobardischen Rechts und es ist keine geringe Leistung, dass damit seit E. Osenbrüggen nunmehr eine neue überblicksartige Darstellung der Materie vorliegt. Eine größere Kenntnis des römischen Rechts legt m. E. Luitprands Abneigung gegen den Zweikampf nahe und der Ausschluss des Fehderechts für eine Römerin, die einen Langobarden geheiratet hat, muss nicht unbedingt Ausschluss des Personalstatuts sein, so dass insgesamt vielleicht doch noch eine stärkere Vermengung der Rechtstraditionen vermutet werden könnte.

 

Jürgen Weitzel verfolgt die Tradition des Straftatbestands der Majestätsverletzung (crimen laesae maiestatis). Die maiestas, welche in der Spätantike Gott bzw. dem Kaiser zusteht, taucht in den germanischen regna nur sporadisch auf. Sie wird von den römischen Rechtssammlungen erwähnt und ebenso von Gregor von Tours und Isidor von Sevilla. In der Gesetzgebung wurde das Delikt erst wieder durch Karl den Großen zur Stabilisierung seiner Herrschaft im Jahr 801 behandelt. Natürlich sieht Weitzel, dass ab 800 erstmals wieder eine kaiserliche Majestät im Westen existiert. Dennoch verwundert es ihn, dass trotz entsprechender Definitionen Isidors die königlichen Majestäten des Westens keinen vergleichbaren Schutz für sich in Anspruch nehmen. Weitzel folgert daraus, dass diese majestas-Vorstellung nicht zu der Welt des germanischen Adels gepasst habe, in der Eid und fidelitas an Stelle der römischen Herrschaft und strikter Unterordnung getreten waren. Könnte es aber nicht sein, dass sich majestas allein auf die kaiserliche Majestät bezog? Die entgegenstehenden Ausführungen von Isidor und Gregor sind vielleicht juristisch ungenau und eher moralisierender Natur. Die Tatsache, dass Papst Leo III dieses Delikt auch zu seinem Schutz in Anspruch nahm, ist ein Beleg für die These Matthias Bechers, der Papst habe Weihnachten 800 als Augustus einen Mitkaiser bzw. Caesar gekrönt. Insgesamt gibt dieser Artikel einen gewichtigen Aufschluss über das Strafrecht der germanischen Königreiche, insofern er zeigt, inwieweit doch in dieser Hinsicht eine hoheitliche Strafverfolgung möglich war.

 

Im umfangreichsten Beitrag greift Harald Siems die alte These an, dass der Diebstahl aufgrund seiner Heimlichkeit ein im Vergleich zum Raub mit Gewalt schwerwiegenderes Delikt gewesen sei, da hierin das Meinwerk eines Neiding bzw. Entarteten gesehen worden sei. Jedenfalls überraschend ist die Gedankenführung dieses Beitrags, da Siems auf der Suche nach solchen Differenzierungen zwischen der germanischen und der römischen Rechtsauffassung zunächst die Traditionslinien des Ius commune durchforstet. Eine solche Differenzierung kann er jedoch nicht entdecken, obwohl er den gesamten Reichtum seiner Bibliothek in einer schier überwältigenden Dichte und Fülle darbietet. Nur zum Schluss und eher kurz werden dann die Quellen der germanischen Zeit vorgestellt, aus welchen sich ebenfalls nicht die gesuchte Differenzierung ergeben. Erst dann zeigt Siems, dass die Lehre zunächst durch den Lübecker Appellationsgerichtsrat Cropp 1825 begründet wurde. Mit der Widerlegung dieser alten Lehre leistet Siems eine längst fällige Klarstellung, die deutlicher und überzeugender nicht hätte ausfallen können. Allein schon dieser Beitrag lässt den Band insgesamt als wichtig und unverzichtbar für rechtshistorische Bibliotheken erscheinen.

 

Hans Martin Weikmann untersucht danach die „Capitulatio de partibus Saxonia“ von 782. Mit dieser Gesetzgebung wollte Karl der Große die unterworfenen Sachsen befrieden und bei ihnen das Christentum durchsetzen. Insofern enthüllt es ein bemerkenswertes Beispiel hoheitlicher Strafrechtspflege. Diese sachkundige Darstellung erhärtet wieder einmal Nehlsens Einschätzung, dass auch in dem frühen Mittelalter sich sehr wohl hoheitliche Strafrechtspflege finden lässt, wenn dies den Königen machbar und opportun erschien.

 

Georg Oesterdiekhoff unternimmt es dann, Ordale und Erfolgshaftung mittels eines strukturgenetischen Ansatzes zu erklären. Auf Jean Piaget aufbauend geht er davon aus, dass die Sicht der Welt sich mit der Entwicklung der Psyche ändere. So sähen Kinder die gesamte Welt belebt, erst durch die moderne Schulbildung lernten sie das formal-operationelle Denken. Mit diesem hochinteressanten, jedoch nicht vollständig erklärten Ansatz will Oesterdiekhoff rechtshistorische Phänomene erklären, die er der älteren rechtshistorischen Literatur entnimmt. So erklärt er die Entwicklung des Schuldprinzips aus der Erfolgshaftung, da letztere auf animistischen Vorstellungen beruhe, während das Schuldprinzip eine formal logische Denkweise voraussetze. Schon Weitzel bezweifelt jedoch in seiner Einleitung (S. 7) die pauschale Annahme eines Erfolgsstrafrechts für die germanische Zeit. Nach Oesterdiekhoff setzen Gottesurteile ein animistisches Weltbild voraus, durch die Entwicklung der Menschen seien sie zugunsten eines materiellen Beweisverfahrens zurückgedrängt worden. Die Ordale der germanischen Zeit sind jedoch m. E. kein Ausfluss eines Animismus, sondern eines Monotheismus in einer Form, welche die Allmacht Gottes verkennt. Der einförmigen Linie der Entwicklung vom formalen zum materiellen Beweis habe ich öfters zu widersprechen versucht. Sie wird auch von den meisten Beiträgen dieses Werks nicht mehr vertreten.

 

Thomas Huck beschäftigt sich dann mit der Einleitung von Verfahren und dem Beweisverfahren in fränkischer Zeit. Sein Beitrag ist insbesondere wegen der Einbeziehung der Chroniken lesenswert. Er geht davon aus, dass auch das fränkische Verfahren der Wahrheitsermittlung diente und nicht nur formaler Natur gewesen sei. Er zeigt, dass man mit diesem Verständnis zu einem kohärenten Bild des Verfahrens gelangen kann. Leider fehlt die Einbeziehung der rechtshistorischen Literatur nach Heinrich Brunner; insbesondere wäre es interessant gewesen, den Einfluss des Kirchenrechts, den Jörg Müller gezeigt hat, mit zu berücksichtigen.

 

Schließlich wirbt Christoph H. F. Meyer für ein neues Verständnis für das frühmittelalterliche Fehdewesen. Beeindruckend sind seine Quellen- und Literaturkenntnisse; der Materie gewinnt er neue Facetten ab, indem er auch die Bußbücher heranzieht. In seinem elegant geschriebenen Beitrag will Meyer zeigen, dass die formalisierten Verhältnisse von Fehde und Freundschaft gleichermaßen notwendige Zustände der frühmittelalterlichen Gesellschaft waren. Die Fehde habe durch die Möglichkeit der Auseinandersetzung zu einer größeren Nähe in der Gesellschaft geführt. Sie habe dabei sowohl die Entstehung neuen Rechts bewirkt als auch die Bildung von Koalitionen gefördert. Diese Funktionen der Fehde zu verstehen sei den römischen und in der spätantiken Tradition stehenden Autoren jedoch schwergefallen, da in ihnen die für sie fremde germanische Konzeption des freien Kriegerverbandes zum Ausdruck kam. Diese im Kern schon von Franz Wieacker vertretene Auffassung wird mit einem einmal mehr, einmal weniger deutlichen Rekurs auf Carl Schmitt vertieft.

 

Die Beiträge widmen sich verschiedenen Jahrhunderten sowie Völkern und arbeiten mit unterschiedlichen Methoden, nicht alle fragen nach einem hoheitlichen Strafen. Sie leisten jedoch für diese wenig bearbeitete Zeit Darstellungen, die den aktuellen Forschungsstand wiedergeben. Einige neue Erkenntnisse sind geradezu grundlegend wie etwa der Zweifel am Erfolgsstrafrecht oder die Widerlegung der besonderen Schwere der Heimlichkeit des Diebstahls. Es handelt sich daher insgesamt um ein grundlegendes Buch.

 

Bonn                                                                                                  Mathias Schmoeckel