Otto von Bismarck, Schriften 1888-1890
Otto von Bismarck, Schriften 1888-1890 (= Otto von Bismarck, Gesammelte Werke, Neue Friedrichsruher Ausgabe, Abteilung 3 1871-1898, Schriften, Band 8), bearb. v. Hopp, Andrea. Schöningh, Paderborn 2014. XCIV, 679 S. Besprochen von Werner Augustinovic.
Die Jahre 1888 bis 1890 waren für das Deutsche Kaiserreich der Hohenzollern Jahre eines mehrfachen personellen Wandels an der Spitze. Im Dreikaiserjahr 1888 verstarb zunächst am 9. März der regierende Kaiser Wilhelm I. wenige Tage vor Vollendung seines 91. Lebensjahres, am 15. Juni sein bereits todkranker Sohn nach nur 99 Tagen Regierung als Kaiser Friedrich III. Somit folgte in Gestalt des erst 29jährigen Kaisers Wilhelm II. die dritte Generation der Dynastie auf dem vakant gewordenen Thron. Dessen Vorstellung eines aktiven persönlichen Regiments unterschied sich grundlegend von der Politik seines Großvaters, der das operative Geschäft praktisch in die Hände des Reichsgründers und Kanzlers Otto von Bismarck delegiert hatte. Die Gegensätze zwischen dem jungen Kaiser, der nicht gewillt war, sich von Bismarck weiterhin bevormunden zu lassen, und dem erfahrenen Staatsmann wurden zunehmend unüberbrückbarer und führten nach nicht einmal zwei Jahren zum endgültigen Bruch: Am 20. März 1890 wird Otto von Bismarck offiziell seiner Regierungsämter entbunden. Ein entsprechender Entwurf und sein vom 18. März datierendes, an den Kaiser gerichtetes Entlassungsgesuch sind folglich auch die beiden letzten hier abgedruckten Schriftstücke seiner Kanzlerschaft (Dok. Nr. 552 und 553).
In Anbetracht dieses Rahmens bedarf es keiner besonderen Betonung, dass dieser achte Band der dritten Abteilung („Schriften“) der von der Otto-von-Bismarck-Stiftung publizierten „Neuen Friedrichsruher Ausgabe“, der historisch-kritischen Edition der umfangreichen schriftlichen Hinterlassenschaft des „Eisernen Kanzlers“, mit interessantem Material aufwarten kann. Er folgt dem 2011 von Ulrich Lappenküper zusammengestellten sechsten Band, der die Zeugnisse der Jahre 1884 und 1885 erfasst; die bislang noch vorhandene Lücke für 1886/1887 wird der offensichtlich noch in Arbeit befindliche siebente Band zu schließen haben. Wie im Rahmen der Edition Usus, hat Andrea Hopp, Leiterin der Otto-von-Bismarck-Stiftung Schönhausen, als verantwortliche Bearbeiterin des achten Bandes den aus über 3000 Dokumenten ausgewählten, bisher zu 70 Prozent unveröffentlichten 553 Schriftstücken eine fast zwanzig Seiten starke Einleitung vorausgeschickt, die mit Verweisen auf jene die wesentlichen politischen Entwicklungsstränge für den in Betracht stehenden Zeitraum herauspräpariert. Aufgeschlossen wird der Band, wie auch seine Vorgänger, über ein durch Regesten aufgewertetes Dokumentenverzeichnis und ein genaues Personenregister, das eine unkomplizierte Identifizierung vor allem der Absender und Adressaten der Schreiben erlaubt.
Altersbedingte Beschwerden haben es Otto von Bismarck, der zu der in Frage stehenden Zeit die Ämter des Reichskanzlers, des preußischen Ministerpräsidenten, des Außenministers und des Handelsministers in seiner Person kumuliert hatte, zunehmend schwerer gemacht, den täglichen Arbeitsanfall zu bewältigen. Er bediente sich daher verstärkt eines Kreises von Mitarbeitern, die nach seinen Vorgaben und Weisungen entsprechende schriftliche Verfügungen zu erstellen hatten. Solche Bearbeitungen Dritter stehen nun vermehrt neben Dokumenten aus Bismarcks eigener Feder.
Thematisch zeigt sich ein leichtes Übergewicht der die Außenpolitik tangierenden Schriftstücke gegenüber den Äußerungen zu innenpolitischen Problemen. Zusammen präsentieren sie einen Reichskanzler, der wie in früheren Jahren als skrupelloser Realpolitiker bereit war, alle erlaubten und grenzwertigen Mittel für die Erreichung der Ziele einzusetzen, die er im Sinne des Reichswohls für vorrangig erachtete. In der Außenpolitik war dies in erster Linie die Wahrung des Status quo im Hinblick auf die Vermeidung eines Zweifrontenkrieges in einem mühsam ausbalancierten europäischen Staatensystem. Das bedeutete vor allem die Pflege guter Beziehungen zum Habsburgerreich, aber die strikte Einschränkung des Casus foederis auf einen unmittelbaren Angriff auf die Donaumonarchie; die Demonstration von Stärke und Friedenswillen zugleich gegenüber einem als unberechenbar eingeschätzten Russland und die Ablenkung dessen Interessen auf den asiatischen Raum; das Hintanhalten des französischen Revanchismus durch Drohgebärden, verbunden zugleich mit der akribischen Suche nach potentiell sich bietenden Möglichkeiten zur partiellen Entschärfung dieses fundamentalen Gegensatzes; großzügige Rücksichtnahme auf und gutes Einvernehmen mit England besonders in den Fragen der für Britannien vitalen Kolonialpolitik. Ein Erlass vom 21. August 1888 hält fest, „Kapitän Schröder habe ein ‚wenig erfreuliches Bild‘ von Englands militärischer Einsatzfähigkeit im Kriegsfall gezeichnet. Bismarck sei daher in der Überzeugung bestärkt worden, dass Englands Sicherheit gegen Überfälle Frankreichs ‚ausschließlich in seinem guten Verhältnis zu Deutschland' bestehe. Wäre England zusammen mit Deutschland, Österreich und Italien als starker Partner auf der Seite der friedliebenden Mächte, wäre jeder Versuch der ‚kriegslustigen Mächte‘ Russland und Frankreich aussichtslos“ (Dok. Nr. 164, Regest). Die Erhaltung des Friedens verlange auch den nötigen Takt und Zurückhaltung bei nationalistischen Demonstrationen; so wäre etwa „eine Feier des 25jährigen Jubiläums der Erstürmung der Düppeler Schanzen ein politischer Fehler. Im Sinne eines friedlichen Zusammenlebens liege es im deutschen Interesse, wenn die Erinnerung an den Krieg von 1864 in Dänemark – wie von 1866 in Österreich – möglichst in Vergessenheit geriete. Bei Frankreich bräuchten ähnliche Rücksichten nicht genommen werden, weil auf Frieden und Verständigung in diesem Fall nicht zu rechnen sei“ (Dok. Nr. 268, Regest). Als die geplante Verbindung der Tochter Friedrichs III., Viktoria, mit dem früheren Fürsten von Bulgarien, Alexander von Battenberg, Bismarcks europäisches Ordnungssystem zu irritieren drohte, torpedierte er erfolgreich die geplante Eheschließung (vgl. dazu die zahlreichen Dok. Nr. 92-95, 98/99, 104, 288, 330).
Was Frankreich in der Außenpolitik für Bismarck vorstellte, nämlich den unversöhnlichen Feind schlechthin, von dem alles Übel ausging, das war ihm im Inneren die Sozialdemokratie. Ihr unterstellte er grundsätzlich ein kriminelles Wesen, das es durch Sondergesetze zu bekämpfen gelte, denn: „Ebensowenig wie man den Landesverrath oder den Diebstahl durch allgemeine, auch für die ehrlichen Leute geltende Gesetze wird treffen können, wird dies bei den, auf die Durchführung verbrecherischer Umsturztheorien im Sinne der Socialdemokratie gerichteten Bestrebungen der Fall sein. Diese Umsturzbestrebungen und die Ziele, welche sie verfolgen, sind an sich strafbar und bedingen die Nothwehr von Seiten der staatlichen und gesellschaftlichen Ordnung. Es ist eine schüchterne Verdeckung dieser Thatsache, wenn die Gesetzgebung sich den Anschein geben wollte, als wären die socialdemokratischen Bestrebungen nicht an sich verbrecherischer Natur, sondern nur insoweit sie unter die Kategorie anderweitiger criminalistisch definirter Verbrechen fielen“ (Dok. Nr. 154; Unterstreichung im Original). Den mit der Forderung der österreichischen Sozialdemokraten nach einer Verkürzung der Arbeitszeit und der Abschaffung der Kinderarbeit verknüpften Hinweis auf die Verelendung der Arbeiterschaft bezeichnete Bismarck als „notorisch unwahr“ (Dok. Nr. 291), die Schweiz attackierte er anlässlich der „Affäre Wohlgemuth“ mehrfach scharf: „Ziel der ‚diplomatischen Aktion‘ in der Schweiz sei es nicht gewesen, Genugtuung für die ‚schlechte Behandlung eines ungeschickten Polizeibeamten‘ zu erlangen. Vielmehr sollte die ‚starke Position der deutschen Sozialdemokratie‘ dort erschüttert werden. Die von dieser Seite drohende Gefahr sei nur wenig geringer als jene durch die französische bzw. russische Armee“ (Dok. Nr. 409, Immediatbericht an Wilhelm II., Regest). Die Differenzen in der Sozialistengesetzgebung bildeten schließlich ein entscheidendes Element im endgültigen Zerwürfnis zwischen dem Kanzler und dem Kaiser.
Als anschauliches Beispiel dafür, wie weit Bismarcks grundsätzliche Haltung generell von modernen aufgeklärten, egalitären Maßstäben entfernt war, seien hier die Argumente zitiert, mit welchen er Kaiser Wilhelm II. die „Reformbedürftigkeit […] unseres […] öffentlichen Unterrichtswesens“ glaubhaft zu machen suchte: „Unsere höheren Schulen werden von zu vielen jungen Leuten besucht, welche weder durch Begabung noch durch die Vergangenheit ihrer Eltern auf einen gelehrten Beruf hingewiesen werden. Die Folge ist die Ueberfüllung aller gelehrten Fächer und die Züchtung eines staatsgefährlichen Proletariats Gebildeter. […] Um dem vorzubeugen, würde es sich in erster Linie empfehlen, die Zahl der gelehrten Schulen und deren Besuch zu beschränken […]. Eine Erhöhung des Schulgeldes auf den Gymnasien und der Studiengelder auf den Universitäten würde ich für nützlich halten […]. Ich halte dies insofern für einen Vortheil, weil dadurch Elemente fern gehalten werden, welche später nicht im Stande sind, den durch ihren Bildungsgrad bedingten Zuschnitt ihres Lebens materiell durchzuführen, also der Unzufriedenheit verfallen“. Bismarck unterlässt nichts, den Kaiser zum Handeln im intendierten Sinn zu bewegen, so durch das Anbieten eines einfachen Verfahrens, wenn er damit schließt, „daß die erwähnten Uebertreibungen kein Ergebniß gesetzlicher Bestimmungen sind, sondern nur auf einer Reihe von widerruflichen Ministerialrescripten beruhen“ (Dok. Nr. 549, Unterstreichung im Original). Festzuhalten ist, dass in einem technisch fortschrittlichen, sich mit rasanter Dynamik entwickelnden Industriestaat, wie ihn das Deutsche Reich zu jener Zeit vorstellte, eine derart restriktive Bildungspolitik nur als kontraproduktiv wahrgenommen werden kann. Dem Junker Bismarck war hingegen mehr an einer Stärkung der Aristokratie durch Integration des besitzenden Bürgertums gelegen: „Ich halte es im allgemeinen für eine Aufgabe unserer Politik, den Uebergang in den Adelsstand zu erleichtern […]. Im Interesse des Adels selbst liegt es, sich die Existenzen, deren Wohlhabenheit einigermaßen dauerhaft begründet ist, zu assimiliren“ (Dok. Nr. 108).
Naturgemäß rührt die überwiegende Zahl der Schriftstücke an rechtliche Materien, weshalb auch dieser Band der Bismarck-Edition für den rechtshistorisch Forschenden von großem Wert ist. Aus der breiten Palette des Gebotenen seien daher einige wenige Hinweise herausgegriffen. Zahlreiche Äußerungen betreffen den „Fall Geffcken“: Der Hamburger Diplomat und Staatsrechtslehrer Heinrich Geffcken hatte anonym und unautorisiert Auszüge aus dem Kriegstagebuch Friedrichs III. in der Presse publiziert, worauf Bismarck von „Fälschung“ sprach und unter Entfaltung eines „Verschwörungsszenarios“ die Erhebung einer Klage verlangte und auch erreichte. „Im Januar 1889 verwarf das Reichsgericht die Klage als unbegründet. Dieser Ausgang, durch den Bismarck sich als gewissenloser Taktiker bloßgestellt fand, erwies sich für ihn als ein herber Rückschlag“ (S. XXIVf.). Dass in diesem Gericht „liberale Tendenzen von Gewicht sind“ (Dok. Nr. 202), hatte er schon zuvor moniert; der Einweihung des Reichsgerichtsgebäudes in Leipzig blieb er folglich nicht nur selbst fern, sondern konnte auch den Kaiser zur Absenz bewegen (Dok. Nr. 232 u. 178). Hinsichtlich des im Entwurf vorliegenden Bürgerlichen Gesetzbuchs würde es, so Bismarck, „ für eine ersprießliche Förderung des Werks von hohem Werthe sein, wenn die Regierungen vorbehalts dieser späteren Beschlußfassung und um dieselbe vorzubereiten, schon jetzt sich von den bezeichneten Gesichtspunkten aus über den Entwurf zu äußern gewillt wären“ (Dok. Nr. 401). An anderer Stelle wiederum wendet er sich gegen eine Forderung Gustav Schmollers, „daß auch die Tagelöhner freie Besitzer werden müßten, mit dem Argumente, daß in diesem Fall die Großgrundbesitzer genöthigt sein würden, wieder neue Tagelöhner anzubauen, welche dann nach einer gewissen Zeit wieder das Recht haben würden, freie Besitzer zu werden; daraus ergäbe sich dann ein Zirkel, der nothwendig zur schließlichen Vernichtung des Großgrundbesitzes führen würde“ (Dok. Nr. 15). Die Interessen des Grundbesitzes müssten Bismarck zufolge zudem in der Steuergesetzgebung stärker berücksichtigt werden, wo er sich nicht nur erlaubte „anzuregen, ob nicht die objektive Steuerpflicht dahin zu beschränken sein möchte, daß die Gehälter der Staatsbeamten von direkten Staatssteuern freibleiben“, sondern die Reform der direkten Steuern auch nicht beginnen wollte „ohne die Abschaffung der Zuschläge zur Grund- und Gebäudesteuer für Kreis-, Gemeinde- und ähnliche Zwecke sicher zu stellen“ (Dok. Nr. 306). Dem Reichsstrafgesetzbuch wiederum warf er vor, es sei „durch die parlamentarische Mitarbeit erheblich verschlechtert worden, und steht weit hinter unserem alten Preußischen Criminalrecht zurück, weil in ihm nicht sowohl der allein berechtigte Gedanke des Schutzes der Gesellschaft, als vielmehr die unklaren Gerechtigkeits- und Humanitätstheorien, unter deren Herrschaft der damalige Reichstag stand, zum Ausdruck gelangt sind“ (Dok. Nr. 485), und gibt damit zweifellos einen rechtshistorisch bemerkenswerten Einblick in sein Strafrechtsverständnis. Zahlreich und deshalb im Einzelnen hier nicht aufzuführen sind die Stellen, die Fragen der Geschäftsordnung und Signaturrechte der Ressortchefs zum Gegenstand haben, wobei Bismarck mit dem Argument seiner Gesamtverantwortlichkeit als Reichskanzlers keine Geschäftstätigkeit jenseits seiner finalen Kontrolle zulassen wollte. Besonders hervorzuheben ist abschließend die ebenfalls große Anzahl an Dokumenten, die explizit die Rechtsbeziehungen in den überseeischen deutschen Schutzgebieten wie Kamerun und Togo (Dok. Nr. 130), Samoa (Dok. Nr. 313) oder den Marschall-Inseln (Dok. Nr. 534) thematisieren und dem im Bereich des Kolonialrechts Forschenden reichhaltiges Material an die Hand geben. Assoziative Bezüge zur gegenwärtigen Situation am Horn von Afrika mögen sich einstellen, wenn man liest, „die Regierung Seiner Majestät des Kaisers hat […] zunächst in Gemeinschaft mit England und Italien über die zu den Besitzungen des Sultans von Zanzibar gehörige Küste des ostafrikanischen Festlandes eine Blockade verhängt, und sich gleichzeitig an andere bei der Erschließung Afrika’s für christliche Kultur und Gesittung interessirte Nationen Europa’s gewandt, um durch gemeinschaftliche Maßregeln den Raubzügen und Verwüstungen der arabischen Sklavenjäger entgegenzutreten“ (Dok. Nr. 302).
Die Summe der Dokumente erweist, dass Bismarcks auf große Erfahrung gestützte, aber stets von seinem reaktionären, mit Ressentiments beladenen Denken gekennzeichnete, pragmatische Diplomatie des Bewahrens und Erhaltens mit dem Anbrechen des letzten Jahrzehnts des 19. Jahrhunderts an ihre Grenzen gelangt war. Die politischen Kräfte, die in seiner Nachfolge Oberwasser gewannen, verspielten sein Erbe bald, sodass sein Gründungswerk seinen Tod (1898) gerade zwei Jahrzehnte überdauern sollte.
Kapfenberg Werner Augustinovic