Le Goff, Jacques, Geschichte ohne Epochen?

Ein Essay, aus dem Französischen von Jöken, Klaus. Zabern/Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt 2016. 188 S. Besprochen von Werner Augustinovic.

Le Goff, Jacques, Geschichte ohne Epochen? Ein Essay, aus dem Französischen von Jöken, Klaus. Zabern/Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt 2016. 188 S. Besprochen von Werner Augustinovic.

 

„Faut-il vraiment découper l’histoire en tranches?“ – Soll man wirklich die Geschichte in Scheiben schneiden? Ja, wird man wohl antworten, wissend, dass die Geschichte zwar ein Kontinuum darstellt, sich aber in ihrem allumfassenden Wesen dem menschlichen Geist erst durch Strukturen erschließt, die wir in ihr auszumachen glauben. Periodisierungen ziehen Grenzen aufgrund gravierender Veränderungen, die wir gerne als Paradigmenwechsel bezeichnen, und dennoch haftet all diesen Einteilungen letzten Endes auch etwas Unorganisches, Willkürliches an.

 

Das In-Frage-Stellen scheinbarer Gewissheiten war Jacques Le Goff (1924 – 2014) zeit seines Lebens ein Anliegen, und es ist daher durchaus passend, dass sich der unkonventionelle, der französischen Schule der Annales entstammende europäische Mediävist von Weltgeltung ganz am Ende seines Schaffens mit dem prekären Epochenproblem befasst. In seinem 2013 verfassten Essay behandelt er „das allgemeine Problem des Übergangs von einer Periode zur anderen und untersuch(t) hierzu einen besonderen Fall näher: die vorgebliche Neuheit der ‚Renaissance‘ und ihre Beziehung zum Mittelalter“. Dabei arbeite „dieses Buch die wichtigsten Charakteristiken eines langen westlichen Mittelalters heraus, das von der Spätantike (3. bis 7. Jahrhundert) bis zur Mitte des 18. Jahrhunderts reichen könnte“ (S. 8).

 

Erste Periodisierungsmodelle um die Zahlen vier und sechs, so erläutert der Verfasser, wurzelten im Alten Testament bei dem Propheten Daniel und bei Augustinus, von Dionysius Exiguus leite sich die Festlegung der Chronologie auf Christi Geburt her. Der Begriff des Mittelalters für den Zeitraum „zwischen einer imaginären Antike und einer erdachten Modernität“ (S. 30) tauche erstmalig bei Petrarca und den Humanisten auf. Als sich im 19. Jahrhundert die Geschichte in der westlichen Welt als Lehrfach etabliert hatte, „(waren die Historiker und Professoren,) um sie besser verstehen, alle Abläufe besser begreifen und sie somit unterrichten zu können, […] gezwungen, ihre Unterteilung in Perioden zu systematisieren“ (S. 51).

 

Die Identifikation der Renaissance als selbständige historische Epoche verdanke sich einer Summe verschiedener Merkmale, die diese Zeit angeblich von den Jahrhunderten davor signifikant abheben und von diversen Forschern vom 19. Jahrhundert an bis zur Gegenwart mit unterschiedlichem Fokus beschrieben worden sind. Jacques Le Goff referiert zunächst die Position Jules Michelets, der als Erster die Renaissance in dieser Weise beschrieben hat (1950 ist Lucien Febvre auf diese „Erfindung“ in seinem Aufsatz „Comment Jules Michelet inventa la Renaissance“ näher eingegangen). Ihm folgten unter anderem die Konzeptionen des Kunsthistorikers Jacob Burckhardt, Paul Oskar Kristellers (dieser betone „zu Recht die Notwendigkeit, den Ausdruck ‚Humanismus‘ […] zu definieren. Dabei ist nicht die Rede vom Menschen selbst, seiner Natur, seiner Existenz und seinem Schicksal, sondern von der Tatsache, dass die Gelehrten der Renaissance von den sogenannten ‚Humanitäten‘ durchdrungen waren, das heißt von der Kultur aller großen Denker und Schriftsteller der griechischen und römischen Antike“; S. 75), Eugenio Garins, Erwin Panofskis und Jean Delumeaus. Ihnen allen hält der Verfasser seine Meinung entgegen, dass „die Renaissance, wie wichtig sie war und wie sehr sie eine Individualisierung im historischen Ablauf verdient hätte, […] keine eigene Periode dar(stellt): Sie ist lediglich die letzte Renaissance eines langen Mittelalters“ (S. 88).

 

Mit der profunden Expertise des ausgewiesenen Mittelalter-Historikers belegt der Verfasser anschließend seine These, indem er darlegt, dass zahlreiche Phänomene, welche die epochale Qualität der Renaissance vorgeblich stützen, sich entweder bereits im Mittelalter nachweisen lassen oder aber erst deutlich später zu einem einen grundlegenden Wandel rechtfertigenden Abschluss gelangt sind. Es zeige sich, dass die Vorstellung einer „dunklen Zeit“ zwischen Antike und Neuzeit nicht zutreffe, denn schon das Mittelalter habe „die griechisch-römische Kultur […] oft benutzt und weiterentwickelt“ (S. 89), seien es die artes liberales als Vorgänger der Universitäten, sei es die Fortentwicklung des Lateinischen, das „eine sprachliche Einheit Europas“ (S. 91) begründet habe, oder sei es die durch das Pergament geförderte, weitere Verbreitung der Kulturtechniken des Lesens und des Schreibens. Eine intellektuelle Renaissance mit dem Menschen als „Gegenstand und Mittelpunkt der Schöpfung“ (S. 99) um Bernhard von Chartres und Hugo von Sankt Victor habe das Mittelalter bereits im 12. Jahrhundert erlebt, wohingegen die Hexe „weitaus eher eine Figur der sogenannten Renaissance, beziehungsweise des 17. Jahrhunderts, (war) als des Mittelalters“ (S. 110).

 

Diese und eine Vielzahl weiterer Charakteristika – wie etwa auch die lange Dominanz pflanzlicher Ernährung – führt der prominente Verfasser als Beleg dafür an, dass die seiner Meinung nach fälschlich als eigene Epoche identifizierte Renaissance in Wahrheit nur eine von mehreren Renaissancen gewesen sei, die ein langes Mittelalter durchzögen. Die für die Renaissance reklamierten, epochalen Umbrüche hätten sich erst viel später, teilweise erst im 18. Jahrhundert vollzogen, so die Abkehr von der Monarchie oder die Säkularisierung. Selbst ein so herausragendes Ereignis wie die Entdeckung der Neuen Welt 1492 habe nicht unmittelbar eine radikale Änderung des Wirtschaftens bewirkt und direkt in den Kapitalismus geführt, der erst deutlich später – mit Adam Smiths 1776 publizierter, berühmter Untersuchung über den Reichtum der Völker – seine Ausformung gefunden habe. Stattdessen hebt Jacques Le Goff eine geistesgeschichtliche Leistung hervor, die für ihn den tatsächlichen Umbruch zur Neuzeit markiert: „Ein besonderes Zeichen für den Anbruch einer neuen Periode, die das Mittelalter ablöste, war das Erscheinen der Encyclopédie ou Dictionnaire raisonné des sciences, des arts et des métiers (Enzyklopädie, oder ein durchdachtes Wörterbuch der Wissenschaften, Künste und Handwerke) ab 1751, die auf Anregung von Diderot, D’Alembert, Voltaire, Montesquieu, Rousseau und anderen den Vorrang von Vernunft und Wissenschaft über das christliche Dogma erklärte“, und 1757 „benutzte Mirabeau offenbar zum ersten Mal das Wort ‚Fortschritt‘ (progrès), um ein ‚Voranschreiten der Zivilisation zu einem blühenderen Zustand‘ zu bezeichnen. Die aufstrebende westliche Gesellschaft, die sich in der Französischen Revolution konzentrieren sollte, war nicht nur ein Sieg des Fortschritts, sondern auch des Individuums“ (S. 144f.).

 

Es sind zutreffende und gute Argumente, die der Verfasser für seine These vorbringt, und dennoch muss die Frage gestellt werden, ob die Schlüsse, die er zieht, auch zwingend sind. Denn jede Epochengrenze entspricht in der Realität keinem scharfen Schnitt, sondern ist ein simplifizierendes Konstrukt, das einen vielschichtigen, sich in seinen heterogenen Elementen in verschiedenen Geschwindigkeiten über Jahrhunderte hinziehenden Prozess auf eine einfache Formel vereinigt. Somit sollte auch kein Zweifel bestehen, dass die sich in der Renaissance verdichtenden Veränderungen im Mittelalter Vorläufer besitzen und sich ebenso im weiteren Verlauf der Jahrhunderte weiterentwickelt haben. Man könnte demnach aus guten Gründen auch für eine Übergangsphase plädieren, in der in manchen Bereichen des Lebens noch Züge des Mittelalters dominiert haben, während in anderen schon die Neuzeit Einzug gehalten hat, ganz abgesehen von – auch in Europa – geographisch induzierten Inkongruenzen. Oder, einfacher gefragt: Wann und wo haben wir wirklich schon so wenig Mittelalter und schon so viel Neuzeit, das wir uns unbestreitbar in einer neuen Ära begreifen dürfen? Ferner wird nicht thematisiert, dass Mittelalter und Renaissance sich in der klassischen Periodisierung keineswegs als Begriffe gleicher Ebene präsentieren; dem Mittelalter entspräche hier nämlich als Epoche die Neuzeit, die wiederum in Untereinheiten – darunter chronologisch die erste die Renaissance – gegliedert wird. Und nicht zuletzt birgt Jacques Le Goffs Argumentation auch eine nicht zu übersehende nationale Komponente: Indem er der Renaissance ihren Ausnahmecharakter abspricht und das Mittelalter im 18. Jahrhundert enden lässt, entzieht er dem italienischen Raum die Meriten neuzeitlicher Modernität; nunmehr fällt der Ruhm, Schöpferin der modernen Welt zu sein, der Grande Nation zu.

 

Die Antwort, die der Verfasser abschließend auf seine im Titel aufgeworfene allgemeine Frage gibt, ist übrigens recht unspektakulär: „Man kann […], man muss sogar die Periodisierung der Geschichte beibehalten. […] Mit ihrer Hilfe verstehen wir, auf welche Weise sich die Menschheit in der Dauer, in der Zeit organisiert und entwickelt“ (S. 159f.). Die Rechtsgeschichte berührt die inspirierende, in einen ästhetisch überaus gelungenen Schutzumschlag gekleidete Schrift nur am Rande (S. 139f.), indem sie einmal mit Jacques Krynen darauf hinweist, „dass das Vokabular des mittelalterlichen Kirchenrechts bereits Ausdrücke des modernen Verwaltungsrechts vorwegnahm: so zum Beispiel die Begriffe auctoritas, utilitas publica und privilegium“, und an anderer Stelle mit Jean-Philippe Genet auf die Etablierung des Rechts als „neuer, selbständiger Bereich“ im 17. Jahrhundert aufmerksam macht.

 

Kapfenberg                                                    Werner Augustinovic