Kocka, Jürgen, Das lange

19. Jahrhundert (= Gebhardt, Bruno, Handbuch der deutschen Geschichte, Bd. 13). Klett-Cotta, Stuttgart 2001, 187 S. Besprochen von Eva Lacour. ZRG GA 121 (2004)

Kocka, Jürgen, Das lange 19. Jahrhundert (= Gebhardt, Bruno, Handbuch der deutschen Geschichte, Bd. 13). Klett-Cotta, Stuttgart 2001, 187 S.

 

Die neue, zehnte Auflage des 1891 begründeten Gebhardt soll mit 24 Bänden bis 2005 vorliegen. Der dreizehnte Band führt „kurz und knapp“ in das 19. Jahrhundert ein (S. XV). Ereignisse stehen hier nicht im Mittelpunkt, sie sind kaum erwähnt, sondern „Entwicklungen“, Strukturen. Einzelheiten sind von den vier folgenden Bände zu erwarten. Angenehm sind die ausführliche Zeittafel im Anhang, die neben europäischen politischen Ereignissen auch Erfindungen und Kulturelles einbezieht, das Orts- und Sach-, sowie das getrennte Personenregister.

 

Jürgen Kocka ist hier eine konzise Darstellung gelungen, die beim Leser vor allem den Eindruck hinterlässt, die Umrisse der gesellschaftlichen und politischen Prozesse begriffen zu haben, die das 19. Jahrhundert seit der Französischen Revolution und bis zum Beginn des Ersten Weltkrieges von den Zeiten davor und danach unterscheiden. Es war eine Epoche der Industrialisierung, der Herausbildung von Nationalstaaten, der Bevölkerungsexplosion und Bevölkerungswanderung und des Bürgertums. In vier Längsschnittdarstellungen untersucht Kocka diese Themenkomplexe. Dabei hebt er immer wieder die Einbettung der deutschen in die europäische Geschichte hervor.

 

Ein Defizit in der Demokratisierung gegenüber anderen europäischen Staaten vermag Kocka angesichts der ausgeprägten kommunalen Selbstverwaltung und des „kraftvoll entwickelten Vereins- und Verbändewesens“ nicht zu erkennen, lediglich eine „deutliche Blockierung der Parlamentarisierung, der entschiedene Verzicht nicht auf Repräsentation per se, wohl aber auf die parlamentarische Regierungsform bis Oktober 1918“ (S. 144), was im Ergebnis zu einer Verfestigung der „ohnehin ungemein starken bürokratischen Traditionen“ führte; Deutschland blieb „Beamten- und Obrigkeitsstaat“. Das Bürgertum war in Deutschland nicht generell schwach, wenn es Gesellschaft und Staat auch weniger prägte als in Frankreich, den Niederlanden oder der Schweiz. Der Adel blieb in Deutschland stark, dennoch besaß die bürgerliche Kultur Ausstrahlungs- und Anziehungskraft. Die Industrialisierung begann in Deutschland später als in Westeuropa, verlief dann aber schneller. Ebenfalls rascher wuchs die Bevölkerung.

 

Die These eines deutschen Sonderweges weist Kocka zurück. Von einer „Verspätung“ des deutschen Nationalstaates zu sprechen führe „in die Irre“. Eine Eigenart allerdings gesteht er der deutschen Entwicklung zu: Der deutsche Nationsbegriff war „volks- und kulturnational eingefärbt und tendenziell ethnisch definiert“ (S. 143) im Gegensatz beispielsweise zum französischen. Der deutsche Nationalismus gründete weniger in den Prinzipien der Volkssouveränität und Befreiung. Insofern stellte die Gründung eines deutschen Nationalstaates „ein eminentes Problem der europäischen Politik dar“ (S. 148).

 

Nach dieser Zusammenführung mit ihren Denkanstößen darf man auf die folgenden Bände gespannt sein.

 

Anschau                                                                                                                     Eva Lacour