Kröll, Thomas, Italiens Weg in den Faschismus
Kröll, Thomas, Italiens Weg in den Faschismus. Eine verfassungsrechtliche Studie und zugleich ein Beitrag zu Fragen der Staats- und Verfassungslehre. Jan Sramek, Wien 2014. XII, 371 S. Besprochen von Werner Schubert.
Das Werk Thomas Krölls – eine umfassend überarbeitete Wiener Dissertation von 2002 – beschäftigt sich „aus dem verfassungsrechtlichen Blickwinkel“ mit dem Umbau „der konstitutionell-parlamentarischen Monarchie des Königreichs Italien zu einer faschistischen Diktatur von Benito Mussolini“ (S. V). Kröll stellt zunächst das am 31. 10. 1922 geltende Verfassungsrecht des Königreichs Italien dar (S. 7-168). Dieses beruht auf dem Statuto fondamentale del Regno vom 4. 12. 1848, das König Karl Albert des Königreichs Sardinien „aus eigener Machtvollkommenheit“ diesem aufoktroyierte, das auch nach der Abdankung Karl Alberts zugunsten seines Sohnes Vittorio Emanuele II. in Kraft blieb und mit der Proklamation des Königreichs Italien im März 1861 dessen Verfassung wurde. Vorbilder des Statuto waren die französischen Verfassungen von 1814 und 1830 sowie die belgische Verfassung von 1831 (S. 19ff., 23ff.). Nach der Präambel der Verfassung verordnete der König die Verfassung „als ewiges und unwiderrufliches Statut und Grundgesetz der Monarchie“ (S. 332f.). Gleichwohl hat die überwiegende Meinung, die Staatsrechtspraxis und die ständige Rechtsprechung das Statut „als flexible, durch einfache Gesetze abänderbare Verfassung“ angesehen (S. 317). Bis 1922 wurden auf diese Weise mindestens 20 Bestimmungen direkt oder indirekt geändert (S. 37), wenn auch die Verfassung als solche unverändert blieb.
Nach Erläuterung der Verfassungsprinzipien (S. 46ff.) behandelt Kröll die Grundlagen der Rechte der Krone, des Parlaments (Senat und Abgeordnetenhaus), die Gesetzgebung, die Vollziehung (Regierung, die vom König ernannt wurde) und die Gerichtsbarkeit. Der Senat setzte sich zusammen aus vom König in verfassungsmäßig nicht bestimmter Zahl auf Lebenszeit ernannten Mitgliedern (Art. 33ff. der Verfassung). Die Abgeordnetenkammer bestand aus 535 Abgeordneten, die von Wahlkollegien nach dem Verhältniswahlrecht entsprechend einem Wahlgesetz gewählt wurden. Die Abgeordnetenkammer tagte nach Sessionen, mit deren Ablauf die Diskontinuität der parlamentarischen Arbeiten eintrat (S. 83). Die Sanktion und Promulgation der Gesetze erfolgte durch den König, der bis 1922 drei Mal die Sanktion verweigerte (S. 93). In dem vom König sanktionierten Kabinett war der Präsident des Ministerrats nur primus inter pares. Außer den Gesetzen gab es von Anfang an auch zahlreiche delegierte Verordnungen, die auf einem Ermächtigungsgesetz beruhten, und Notverordnungen mit Gesetzeskraft, die dem Gesetzgeber zur Umwandlung in ein Gesetz vorzulegen waren. Die Gerichtsverfassung war durch eine delegierte Verordnung geregelt (S. 139ff.). Der Senat als Hoher Gerichtshof war zuständig für die Sanktionierung der Staatsschutzdelikte (S. 140ff.).
Vor dem Hintergrund des Ende Oktober 1922 geltenden Verfassungsrechts behandelt Kröll im dritten Abschnitt die faschistischen Verfassungsreformen (leggi fascistissime, S. 139-315). Seit dem Verfassungsgesetz 1939/129, das die Kammer der Abgeordneten durch die Camera dei Fasci e delle Corporatione (Kammer der Bünde und Korporationen) ersetzte, kann man – so Kröll – nicht mehr von einer „materiellen Kontinuität der Verfassung“ (S. 319) sprechen. Durch ein Gesetz von 1929 wurde der Oberste Rat der faschistischen Nationalpartei (PNF) als grundsätzlich beratendes Verfassungsorgan geschaffen. Bereits 1923 war durch ein neues Wahlgesetz das Mehrheitswahlrecht eingeführt worden, wonach, wenn eine Wahlliste 25% der abgegebenen Stimmen auf sich vereinigte und die Mehrheit der Stimmen im nationalen Wahlkollegium erlangt hatte, diese Liste zwei Drittel der 535 zu vergebenden Mandate erhielt (S. 211). Nach einem weiteren Wahlgesetz von 1928 wurde die Zahl der Abgeordneten auf 400 reduziert. Gewählt wurde nach einer vom Großen Rat erstellten Liste, die nur im Ganzen gebilligt und abgelehnt werden konnte. 1925 hatte die Abgeordnetenkammer bereits das Recht verloren, die Tagesordnung aufzustellen. Damit war auch das Recht zur Gesetzesinitiative erheblich eingeschränkt (S. 275). Der Diskontinuitätsgrundsatz wurde aufgehoben; eine geheime Abstimmung war nicht mehr möglich. Seit einem Gesetz vom Dezember 1925 bestimmte der Regierungschef – Benito Mussolini – die Richtlinien der allgemeinen Regierungspolitik, war also nicht mehr nur primus inter pares im Verhältnis zu den anderen Ministern (S. 251ff.). Nach einem Gesetz von 1928 waren die sog. Verfassungsgesetze (Gesetze mit Verfassungscharakter) vom Großen Rat zu begutachten. Bereits mit einem Gesetz von 1926 war das Verordnungsrecht neu geregelt worden (Erlass von Durchführungsverordnungen, autonomen bzw. unabhängigen und Organisationsverordnungen sowie von Delegierten und Notverordnungen; S. 260ff.). Dies führte zu einer weiteren deutlichen Stärkung der Regierung und der Krone. Nach der Einführung der Kammer der Bünde und Korporationen (1939) konnten Gesetze bereits durch Kammerausschüsse gebilligt werden (S. 279). Durch ein Gesetz von 1926 war für bestimmte Delikte die Todesstrafe wieder eingeführt worden (S. 307f.). Das 1926 geschaffene Sondertribunal für die Verteidigung des Staates unterstand dem Kriegsminister; die Richter mussten dem Militär angehören (S. 305ff.). Die Unabsetzbarkeit und Unversetzbarkeit der Richter wurde gelockert (sog. Freistellung von Richtern; S. 298ff.). Das Werk Krölls wird abgeschlossen mit einer Zusammenfassung („Schlussfolgerungen“, S. 317ff.) und einem Abdruck der Verfassung vom 4. 3. 1848 in italienischer Fassung mit deutscher Übersetzung (S. 331ff.). Das „Stichwortverzeichnis“ (S. 359-371) dürfte den reichhaltigen Inhalt des Werks hinreichend erschließen.
Mit den Untersuchungen Krölls liegt eine umfassende Darstellung der Verfassung von 1848, wie sie sich 1922 dargestellt hat, und dessen fast vollständige Derogierung durch den Faschismus vor. Kröll hat hierzu umfassend die staatsrechtliche Literatur insbesondere aus der Zeit von 1925 bis 1942 und außer den die Verfassung umformenden Gesetze auch die Gesetzesmotive herangezogen. Erwünscht wäre es gewesen, wenn Kröll noch auf die staatsrechtlichen Grundlagen der Republik von Salò und auf den „Fall des faschistischen Regimes“ (S. 318) aus verfassungsrechtlicher Sicht eingegangen wäre. Auch wäre es von Interesse gewesen zu erfahren, wie sich die deutsche und österreichische verfassungsrechtliche Literatur ab 1925 mit den verfassungsrechtlichen Grundlagen des faschistischen Staats auseinandergesetzt hat. Im Übrigen lädt das Werk ein zu einem Vergleich des faschistisch-italienischen Staats- und Verfassungsrechts mit dem Staatsrecht des Nationalsozialismus, der sich in größerem Umfang der überkommenen Verfassung als Italien entledigt hat. Insgesamt erschließt das Werk Krölls nicht nur wichtige Aspekte des Verfassungsrechts der Diktaturen in der Zwischenkriegszeit, sondern ermöglicht mit seinem detaillierten Einblick in das Zustandekommen der italienischen Gesetze und Dekrete in der Zeit zwischen 1850 und 1943 einen schnellen Zugriff auf die Gesetzesmaterialien.
Kiel
Werner Schubert