Rehder, Andreas, Die Verfassung der Freien Hansestadt Bremen von 1920

– Ein Stadtstaat zwischen Tradition und Pragmatismus (= Schriften zum Landesverfassungsrecht 6). Nomos, Baden-Baden 2016. 407 S. Besprochen von Werner Schubert.

Rehder, Andreas, Die Verfassung der Freien Hansestadt Bremen von 1920 – Ein Stadtstaat zwischen Tradition und Pragmatismus (= Schriften zum Landesverfassungsrecht 6). Nomos, Baden-Baden 2016. 407 S.  Besprochen von Werner Schubert.

 

Die Verfassung Bremens von 1920 ist bisher noch nicht Gegenstand einer umfassenden Monografie gewesen (vgl. S. 23f.), die auch die Vorgeschichte sowie die Zeit unmittelbar nach dem zweiten Weltkrieg mit einbezieht. Es ist deshalb zu begrüßen, dass sich Andreas Rehder in seiner unter Fabian Wittrock (Universität Münster) entstandenen Dissertation dieser Thematik angenommen hat. Die Untersuchungen Rehders stehen unter drei Leitmotiven (S. 21f.): Zunächst wird herausgearbeitet, „inwieweit die Bremische Nationalversammlung die ihr durch die Reichsverfassung eingeräumten Verhandlungsspielräume bei der Konstituierung der Verfassung realisiert“ hat. Zweitens werden „partielle Bezüge zur Weimarer Verfassung“ hergestellt, „die zum Ziel haben herauszufinden, ob Bremens Zwischenkriegsverfassung teilweise fortschrittlicher, das heißt funktionsfähiger oder demokratischer war“. Drittens geht es um die Frage, „inwieweit die bremische Landesverfassung auf die Strukturen und den Inhalt der Landesverfassung Bremens von 1947 Einfluss übte“ (S. 21f.). Nach der Einführung (S. 19ff.) folgt ein Überblick über die staats- und verfassungsrechtliche Entwicklung Bremens von 1814 bis 1918 (S. 27-71). Die Verfassungsbestrebungen unmittelbar nach der Franzosenzeit zwischen 1814 und 1820 sowie zwischen 1830 und 1837 hatten keinen Erfolg. Der Senat bestand aus auf Lebenszeit gewählten Senatoren (Großkaufleute und Juristen) und dem Bürgermeister. Die Bürgerschaft umfasste 400-600 Bürger, die der kleinen Bremer Honoratiorenschicht angehörten (S. 31). Die revolutionäre Verfassung vom 21. 3. 1849 (Gewaltenteilung zwischen Bürgerschaft und Senat; unmittelbare Grundrechte; S. 35ff.) war nur drei Jahre in Kraft und wurde aufgrund einer Intervention des Deutschen Bundes 1854 durch eine neue Verfassung abgelöst, die mit Änderungen (Neupublikation 1875 und 1894) bis 1918 in Kraft blieb (S. 50ff.). Die Bürgerschaft wurde nach einem 8-Klassen-Wahlrecht gewählt, bei dem die drei ersten Klassen 59% der Abgeordneten stellten (ab 1875 Anpassung des Wahlrechts an das Reichstagswahlrecht; S. 66f.). Auch wenn nach der Verfassung ein gemeinschaftliches Wirken von Senat und Bürgerschaft vorgesehen war, blieb die Prädominanz der auf Lebenszeit gewählten Senatoren bestehen.

 

Nach einem Überblick über die Ereignisse von 1917 bis April 1919 geht Rehder ein auf die Entstehung der Verfassung vom 18. 5. 1920 (S. 97ff.) und analysiert diese umfassend (S. 102-252). Nach der Wahl zur Bremischen Nationalversammlung am 10. 2. 1919 wurde von dieser ein Gesetz zur vorläufigen Ordnung der Staatsgewalt erlassen (S. 349). Der Senat bestand aus 18 Mitgliedern. Die aus 200 Abgeordneten bestehende Nationalversammlung (S. 92ff.) wählte zunächst eine 13köpfige Verfassungsdeputation, die unter dem Vorsitz Theodor Spittas (DDP) auf der Grundlage eines nicht näher gekennzeichneten Vorentwurfs Spittas den Entwurf zu einer Verfassung vorlegte, die im Mai 1920 von der Nationalversammlung verabschiedet wurde (S. 104). Die nun folgende Detailanalyse der Verfassung beruht außer auf der zeitgenössischen Literatur weitgehend auf den Verhandlungen zwischen dem Senat und der Nationalversammlung und den unveröffentlichten Protokollen der Verfassungsdeputation von 1919/1920. Ein Grundrechtskatalog, wie er noch in der Verfassung von 1849 zu finden war, fehlt im Hinblick auf den Grundrechtsteil der Weimarer Verfassung. Nach zwei Bestimmungen über den bremischen Staat im Allgemeinen bringt die Verfassung einen Abschnitt über den Volksentscheid (§§ 3-9), für den fünf Anwendungsfelder vorgesehen waren (S. 118ff.). In dem einzigen Plebiszit der Weimarer Zeit votierte das Volk für den Senat und gegen die Bürgerschaft (S. 255ff.). Der Landtag (Bürgerschaft; §§ 10-34) bestand aus 120 Mitgliedern (§ 10), die eine Aufwandsentschädigung erhielten, konnte sich – anders als der Reichstag – selbst auflösen (§ 17) und war auch, wenn auch gegenüber früher, eingeschränkt an der Verwaltung beteiligt (S. 192ff.). Nach § 28 konnte die Bürgerschaft eine „zu ihrer Zuständigkeit gehörende Angelegenheit vor endgültiger Stellungnahme zur Vorbereitung und Begutachtung an einen gemeinschaftlichen Ausschuss“ (beratende Deputation) verweisen. Von Interesse wäre es gewesen zu erfahren, welche Deputationen es gab und wie sich deren Arbeiten praktisch gestaltet haben.

 

Die Landesregierung (Senat) bestand aus 14 Mitgliedern, die von der Bürgerschaft auf unbestimmte Zeit mit der Mehrheit der abgegebenen Stimmen gewählt wurden. Der Bürgermeister, von den einer Präsident des Senats war, wurde durch den Senat in geheimer Abstimmung ermittelt (§ 45). Nach der neuen Verfassung war der Senat ein „abhängiges Vollzugsorgan der Bürgerschaft“ (S. 345), hatte jedoch auch gegenüber der Bürgerschaft einige Mitwirkungsrechte bzw. -pflichten (S. 159ff.). Das destruktive Misstrauensvotum der Bürgerschaft (S. 177ff.) hatte zur Folge, dass der Senat zwar zurücktreten musste, jedoch bis zur Wahl eines neuen Senats die Geschäfte weiterzuführen hatte (§ 54). Die weiteren Abschnitte des Werkes betreffen die Gesetzgebung, die Verwaltung und die Rechtspflege. Ein wichtiger Teil der Verwaltung war die Finanzverwaltung (S. 199ff.), die insoweit eingeschränkt war, als die Finanzdeputation (ab 1928: 14 Vertreter der Bürgerschaft, maximal 7 Vertreter des Senats) den Haushaltsplan aufzustellen hatte (§ 62). Der Abschnitt über die Rechtspflege umfasst nur drei Bestimmungen (§§ 68-70); die rechtsgelehrten Mitglieder der Gerichte waren nach § 69 von einem Ausschuss zu wählen, der aus Mitgliedern der Bürgerschaft, des Senats und der Gerichte gebildet wurde. Eine vergleichbare Regelung bestand bereits im 19. Jahrhundert (S. 216). Hinweise auf das dafür erforderliche Gesetz sowie die Praxis der Richterwahl fehlen. Bremen erhielt nach einem Gesetz vom 6. 1. 1924 eine Verwaltungsgerichtsbarkeit, zu der man gerne einige Einzelheiten erfahren hätte. Der Staatsgerichtshof für das Deutsche Reich war zugleich das bremische Verfassungsgericht (S. 215). Der vierte Abschnitt der Verfassung behandelt die öffentlich-rechtlichen Körperschaften. Hierzu gehören die Gemeinden und Kreise (S. 217ff.). Insoweit bestand hinsichtlich der Verwaltung der Stadt Bremen (für 268.000 von 320.000 Einwohnern des Gesamtstaats) Personalunion mit dem Senat; die Bürgerschaft wurde aus den Abgeordneten der Stadt Bremen gebildet. Zu einer Trennung des Staatsvermögens vom Stadtvermögen ist es nicht gekommen. Dagegen bestand für Bremerhaven und Vegesack eine Magistratsverfassung (nach einem Gesetz von 21. 5. 1922; S. 225ff.). Für die 14 Landgemeinden Bremens erging 1923 eine Landgemeindeordnung und 1926 eine Kreisordnung (S. 230ff.). Von den Staatsanstalten „zur Förderung des Handels, der Gewerbe, der Landwirtschaft, sowie zur Vertretung der Angestellten und Arbeiter“ (§§ 79ff.) sind von besonderem Interesse die Angestellten- und Arbeiterkammer (S. 238ff.), deren Verhältnis zu den Arbeitnehmerkammern der Reichsverfassung erörtert wird (S. 242ff.).

 

Im Anschluss an die Analyse der Verfassung behandelt Rehder das Bremer Verfassungsleben zwischen 1920 und 1932 (S. 253ff.). Berichtet wird u. a. über die Wahlen zur Bürgerschaft, die Zusammensetzung des Senats und über Verfassungsänderungen. Im letzten vor 1933 gewählten Senat stellten die antidemokratischen Kräfte (NSDAP, DVNP und KPD) 50 Abgeordnete (42% der Sitze) in der Bürgerschaft. Der Senat aus Sozialdemokraten und den beiden liberalen Parteien blieb bis März 1933 im Amt. – Die Machtergreifung und die Initiierung der Gleichschaltung in Bremen erörtert Rehder S. 286-311. Die Verfassung wurde zwar nicht ausdrücklich beseitigt, jedoch durch das Ermächtigungsgesetz des Reichs, zwei Bremer Gleichschaltungsgesetze, zwei Gesetze zur Vereinfachung der Verwaltung und durch ein Landesverwaltungsgesetz praktisch außer Kraft gesetzt (zu Verfassungsresiduen S. 308ff.).

 

Der letzte größere Teil der Untersuchungen behandelt die Verfassung von 1920 als Grundstein für die Verfassung von 1947 (S. 312ff.), zu der bereits eine Monografie von Wolfgang Winge (1993) vorliegt. Die verfassungsorganisatorischen Bestimmungen der Verfassung von 1920 wurden im Wesentlichen übernommen. Allerdings ist die direkte Demokratie abgeschwächt (S. 324ff.). Nach jeder Wahl der Bürgerschaft ist eine neue Regierung zu bilden. Neu sind die Einschränkung des Kollegialitätsprinzips unter den Senatoren, das konstruktive Misstrauensvotum und die Schaffung eines Staatsgerichtshofs. Insgesamt ist „in der historisch gewachsenen Anatomie der Zwischenkriegsverfassung zugleich die staatsorganisatorische Grundstruktur der Verfassung von 1947 zu sehen“ (S. 341). Das Werk wird abgeschlossen mit einer knappen Schlussbetrachtung und einem Quellenanhang, der u. a. den Text der Verfassung von 1920 einschließlich der Änderungsgesetze, der Gesetze und Verordnungen von 1933 und eine Synopse der Verfassung von 1920 und des staatsorganisatorischen Teils der Verfassung von 1947 (S. 373ff.). Die Darstellung hätte an Farbe gewonnen, wenn Rehder auch noch die wichtigsten an der Verfassungsgebung beteiligten Personen (u. a. Theodor Spitta) und die Regierenden Bürgermeister von 1919 bis 1933 biografisch vorgestellt hätte. Insgesamt liegt mit dem Werk von Rehder eine detaillierte Erschließung der Bremer Verfassung von 1920 einschließlich ihrer Vorgeschichte und der Folgewirkung auf die Verfassung von 1947 vor, ein Werk, das die Einordnung der Bremer Verfassung in das Verfassungsleben der Weimarer Zeit ermöglicht.

 

Kiel

Werner Schubert