Birnbaum, Shlomo/Seligmann, Rafael, Ein Stein auf meinem Herzen
Birnbaum, Shlomo/Seligmann, Rafael, Ein Stein auf meinem Herzen. Vom Überleben des Holocaust und dem Weiterleben in Deutschland. Herder, Freiburg im Breisgau 2016. 176 S. Angezeigt von Gerhard Köbler.
„Alle raus! Schnell! Schnell!“. Sie haben uns entdeckt. Die letzten Tage hat mir mein Vater eingeschärft, ständig mein Versteck im Kleinen Ghetto von Tschenstochau zu wechseln, doch jetzt stürmen zwei SS-Männer die Treppe herunter und „machen uns Beine“, indem sie mit ihren Gewehrkolben wahllos auf uns eindreschen.
Zuvor wurden wir Juden von unseren polnischen Nachbarn drangsaliert. Wir kannten es nicht anders. Doch ab September 1939, als die deutsche Wehrmacht und in ihrem Gefolge die SS-Verbrecher in Polen einfielen, herrschten Angst, Schlechtigkeit, Grausamkeit, Tod fast meine ganze Familie und Millionen Menschen meines Volkes wurden ermordet.
„Damals hat sich ein Stein auf mein Herz gelegt. Und trotz des Guten, das mir später vergönnt war, unsere Heirat, das Aufwachsen unserer Kinder und Enkel – alle Freude und Genugtuung vermochten nicht, diesen Stein abzuschütteln.“ Deswegen hat sich der 1927 geborene Shlomo Birnbaum unter dem Zuspruch seiner Kinder entschieden, seine Erfahrungen durch den in Tel Aviv 1947 geborenen Schriftsteller und Herausgeber der Jewish Voice from Germany der Nachwelt bewahren zu lassen.
Gegliedert ist das schlanke, mit Abbildungen von den Anfängen bis zur Gegenwart ausgestattete Werk in sieben grundsätzlich chronologisch geordnete Kapitel. Sie betreffen den bleibenden Schmerz, die Kindheit, den Krieg, das Große Ghetto, das Kleine Ghetto, die Befreiung, Deutschland und den Anstand. Von ihm hofft der Verfasser nach der dramatischen Schilderung der Gefahren seines vielfach bedrohten und doch unerwartet glücklich ausklingenden Lebens als Jude unter nationalsozialistischer Herrschaft am Ende, dass die Menschen erkennen, wie entscheidend er ist.
Mit seiner Familie lebt er seit seiner Befreiung noch immer in München. Die Menschen hier sind ihm sympathisch. Doch das einst Adolf Hitler und den Antisemitismus bejahende und Millionen Menschen unbarmherzig mordende Deutschland ist nicht zu seiner Heimat geworden.
Innsbruck Gerhard Köbler