Parzinger, Hermann, Abenteuer Archäologie
Parzinger, Hermann, Abenteuer Archäologie. Eine Reise durch die Menschheitsgeschichte. Beck, München 2016. 255 S., 71 Abb. u. Kart. Besprochen von Werner Augustinovic.
In „Die Kinder des Prometheus. Eine Geschichte der Menschheit vor der Erfindung der Schrift“ (2014) hat Hermann Parzinger vor zwei Jahren illustriert und auf nahezu 850 Seiten eindrucksvoll die Leistungen der Archäologie und ihrer Hilfswissenschaften für die Ur- und Frühgeschichtsforschung dargestellt. Dem Konzept dieses ästhetisch sehr ansprechenden Bandes ist auch sein neuestes Werk verschrieben. „Abenteuer Archäologie“ ist zwar deutlich schlanker – der Umfang erreicht nicht einmal ein Drittel der Seitenzahl seines Vorgängers –, ist aber ebenso mit qualitativ hochwertigen Abbildungen ausgestattet und in einer allgemein gut verständlichen Sprache geschrieben. Es steht daher zu vermuten, dass auch diesem Buch im Kreis der an archäologischer Forschung Interessierten Erfolg beschieden sein wird. Dieser mag nicht von ungefähr kommen. Denn Hermann Parzinger, Prähistoriker und Präsident der Stiftung Preußischer Kulturbesitz, besitzt die Gabe, seine Disziplin auf ansprechende und spannende Weise nahezubringen, ohne dabei Gewissheiten suggerieren zu müssen, welche die Quellenbefunde über Gebühr strapazieren. Die Faszination entspringt den beobachteten Phänomenen und gesicherten Fakten selbst, die nicht darauf angewiesen sind, durch überzogene Interpretationen ein sensationelles Profil zu gewinnen. In der Darstellung gehen so profundes Wissen auf dem letzten Stand und Leidenschaft für das Fach eine den Leser mitreißende Synthese ein.
Dem Verfasser geht es darum zu zeigen, dass sich die Aussagekraft archäologischer Befunde mitnichten auf die Zeiten vor der Überlieferung schriftlicher Zeugnisse beschränkt, sondern dass diesen vielmehr universell und bis in die Gegenwart eine erhebliche Bedeutung in der Annäherung an die Realität des geschichtlichen Prozesses zukommt. Wer dächte in Zusammenhang mit dem Thema Archäologie schon an „entartete Kunst“ oder die Konzentrationslager? Und doch vermochte der „Berliner Skulpturenfund“ von 2010 nicht nur „einen Teil der Geschichte deutschen Ungeistes zu erhellen und […] Werke wieder der Öffentlichkeit zugänglich zu machen, die nach dem Willen der NS-Machthaber auf immer hätten verschwinden sollen“, sondern darüber hinaus auch den überraschenden Kontext „ein(es) Versteck(s) jüdischer Mitbürger und ein(es) Depot(s) des Goebbels-Ministeriums in ein und demselben Haus“ offenzulegen (S. 225f.), und in den in Teilen bereits abgerissenen ehemaligen Konzentrationslagern lieferten Ausgrabungen „eine wichtige Basis für die Ausgestaltung dieser Orte als Gedenkstätten […,] erhell[t]en das Schicksal einzelner“ oder führten bisweilen zur Entdeckung unvollständig entsorgter „belastende(r) Unterlagen“ (S. 223). Die materiellen Hinterlassenschaften seien „stets in ihrem kulturellen, historischen und geografischen bzw. kulturgeografischen Kontext zu betrachten“. Diesem uferlosen, die ganze Menschheitsgeschichte abdeckenden Operationsgebiet ist es dann geschuldet, dass es übergreifend „keine ‚Archäologie‘ als Universitätsfach (gibt)“, sehr wohl aber spezialisierte Sparten wie „eine Klassische Archäologie, eine Vorderasiatische, eine Biblische, eine Christliche, eine Byzantinische, eine Provinzialrömische, eine Islamische, eine Chinesische, eine Altamerikanische und eine Naturwissenschaftliche Archäologie und neuerdings auch eine Archäologie des Mittelalters und der Neuzeit“, unter all diesen „am universellsten […] die Prähistorische Archäologie oder Ur- und Frühgeschichte“ (S. 14f.). Zur Urgeschichte zählten Perioden ohne schriftliche Zeugnisse, zur Frühgeschichte jene mit ersten, extern erstellten Schriftquellen (Griechen schreiben über Kelten oder Römer über Germanen). Erst mit der Etablierung einer eigenständigen Geschichtsschreibung treten Völker der Definition zufolge aus der Frühgeschichte heraus.
Nach einem Einleitungskapitel, das sich mit der Archäologie als Wissenschaft befasst und dabei auf ihre historische Entwicklung, einige prominente Vertreter, deren spektakuläre Entdeckungen, aber auch Fehlinterpretationen, auf ideologischen Missbrauch und moderne naturwissenschaftliche Methoden eingeht, beschäftigen sich elf weitere Abschnitte mit der archäologischen Erfassung der Menschheitsgeschichte von ihren Anfängen bis zur Gegenwart; eine Schlussbetrachtung mit zusammenfassenden Bemerkungen zum heutigen gesellschaftlichen Stellenwert archäologischer Forschung (diese könne „in besonderer Weise dazu beitragen, Wissen und Bildung zu vermitteln, sich selbst und die Welt besser zu verstehen und den Respekt zwischen den Kulturen zu fördern“; S. 233) rundet die Darstellung ab. Vier Kapitel beschäftigen sich mit der Steinzeit: zwei davon mit dem Paläolithikum, zwei weitere mit dem Mesolithikum und dem Neolithikum, vor allem mit den bekannten revolutionären Veränderungen in der Lebensweise der Menschen wie der Reproduktion von Nahrung, der Sesshaftwerdung oder den Anfängen der Metallbearbeitung. Die folgenden fünf Kapitel erfassen die Antike und ihre Völker vom Auftreten der ersten Hochkulturen bis zur römischen Kaiserzeit. Das mit dem Niedergang des Imperium Romanum und der Völkerwanderung einhergehende Ausklingen des Altertums sowie das Frühmittelalter sind Gegenstand des vorletzten, die Zeit von den Kreuzzügen bis zur Gegenwart des letzten Kapitels. Somit widmen sich ganze neuneinhalb dieser elf Sachabschnitte der Antike oder noch früheren Epochen, aber nur eineinhalb dem Mittelalter und der Neuzeit - im Hinblick auf das chronologische Schwergewicht archäologischer Forschungen ein vielsagender Befund. Es entsteht jedenfalls der Eindruck, als hinkten die realen Forschungsinvestitionen der vom Verfasser für die Archäologie der späteren Epochen eingeforderten Relevanz doch deutlich hinterher.
Ein Hauptinteresse geschichtlicher Forschung zielt darauf, zu klären, wann sich welche Phänomene erstmalig in der Menschheitsgeschichte nachweisen lassen. Mancher archäologische und historische Befund ermöglicht in diesem Zusammenhang auch vorsichtige rechtsgeschichtliche Ableitungen. Im Kontext der Anfänge der Feldwirtschaft im Neolithikum verweist Hermann Parzinger auf die zunächst übliche gemeinschaftliche Speicherung der Überschüsse, um dann festzuhalten: „Darüber hinaus kennen wir aber auch Siedlungsstellen, in denen jedes Haus über seinen eigenen Speicherbereich verfügte. Man darf hinter solch einem Befund den Anfang des Privateigentums vermuten“ (S. 72). In der frühen Metallzeit offenbarten sogenannte Siedlungshügel, „dass die Hausparzellen immer wieder über die einzelnen Schichten hinweg für Jahrhunderte beibehalten wurden. Möglicherweise lässt sich dies als Hinweis darauf interpretieren, dass sich bereits in der zweiten Hälfte des 5. Jahrtausends v. Chr. in Südosteuropa erste Vorstellungen von Grundbesitz entwickelt hatten“ (S. 87). Für die nach der Mitte des 7. Jahrtausends v. Chr. in Mesopotamien entstandene Hassuna-Kultur ließen sich „bereits Belege frühester administrativer Vorgänge in Gestalt von Ritzungen auf Knochen, die offenbar Rechenoperationen darstellen“, nachweisen, man „kennzeichnete […] mit Stempelsiegeln bereits individuelles Eigentum“, sodass „alle diese Elemente schon Jahrtausende vor der Erfindung der Schrift von einem entwickelten (Privat-)Rechtsverständnis sowie von Normen und Konventionen (zeugen)“ (S. 105). In Mitteleuropa „im großen Stil verhandelt(e)“ Bronzebarren mit einem einheitlichen Gewicht könnten wiederum schon „eine Art prämonetäres Zahlungsmittel“ gewesen sein, was die Frage provoziere: „Gab es um 2000 v. Chr. bereits eine erste harte Metallwährung in Europa?“ (S. 98). Sobald die Kelten dann ab dem 3. Jahrhundert v. Chr. „das älteste Münzgeld Mitteleuropas“ hervorbrachten, „begann auch die Falschmünzerei; insofern ist der Mensch sich zu allen Zeiten gleich geblieben. Für solche Fälschungen ummantelte man einen Bronzekern mit Silber oder Gold, prägte ihn ganz wie üblich und gaukelte dem Geschäftspartner auf diese Weise vor, dass das Stück komplett aus Edelmetall bestünde“ (S. 165f.). An anderer Stelle ist wiederum zu erfahren, dass es sich bei der im Anschluss an die Schlacht bei Kadesch 1274 v. Chr. zwischen Ägypten und dem Hethiterreich geschlossenen Vereinbarung um „den ältesten bislang bekannten und erhaltenen Friedensvertrag der Welt“ handelt, dessen Kopie „als Symbol für den Frieden […] im UNO-Gebäude in New York ausgestellt“ sei (S. 119).
Ganz andere Bereiche, welche die Archäologie mit der Sphäre des Rechtlichen verbinden, sind die weiten Felder der Beanspruchung von Funden, der Raubgräberei, des illegalen Antikenhandels und der Beutekunst. Die weltberühmte Porträtbüste der Nofretete kam im Zuge einer Fundteilung – „damaligem Gesetz folgend hatte der Finanzier der Ausgrabung Anrecht auf die Hälfte der Fundstücke“ – nach Berlin. Später wurden die Umstände dieses Deals in Frage gestellt und dem deutschen Ausgräber bewusste Täuschung unterstellt. „Fakt“ sei aber, „dass die Fundteilung den damals gültigen rechtlichen Regelungen folgte, auch deshalb hat die ägyptische Regierung die Büste nie offiziell zurückgefordert“ (S. 115). Als eine besondere Herausforderung sei die „illegale Archäologie – genauer gesagt, verantwortungslose Raubgräberei – heute weltweit zu einer Bedrohung des kulturellen Erbes der Menschheit geworden. […] Objekte, die aus ihrem Kontext gerissen sind, haben für die Wissenschaft nur mehr geringen Wert, sie sind ihrer Geschichte beraubt“. Der Verfasser fordert daher nachdrücklich „gesetzliche Regelungen für den Antikenhandel […], gerade auch in Deutschland“ (S. 117). Stellvertretend für die Beutekunstproblematik benennt Hermann Parzinger die Schatzfunde aus Troja und den bronzezeitlichen Eberswalder Hortfund, die beide 1945 nach Russland geschafft und bisher nicht restituiert worden sind. „Durch das so genannte Duma-Gesetz von 1998 wurden alle noch in Russland befindlichen deutschen Kulturgüter als Kompensation für die deutschen Kriegszerstörungen zu russischem Eigentum erklärt. Das widerspricht jedoch dem Völkerrecht, auf dessen Einhaltung Deutschland pocht. Politisch und juristisch könnten die Positionen Deutschlands und Russlands gegensätzlicher nicht sein. […] Solange die Frage von der Politik nicht gelöst wird, nehmen deutsche und russische Fachleute eine gemeinsame Verantwortung wahr und widmen sich der wissenschaftlichen Erforschung der einstigen Bestände der Berliner Museen“ (S. 132). In diesen Zeilen ist eine leicht resignative Verbitterung spürbar, die gerade aus der Perspektive des Präsidenten der Stiftung Preußischer Kulturbesitz, der diese Kulturschätze von Weltgeltung natürlich so bald als möglich wieder in Berlin sehen möchte, nur allzu verständlich ist.
Ein besonderes Lob sei abschließend den im überwiegenden Ausmaß farbigen Illustrationen des Bandes ausgesprochen. Das Kartenmaterial ist in seiner Reduktion auf das Wesentliche besonders übersichtlich und aussagekräftig, dazu treten ergänzend monochrome Planskizzen wichtiger Grabungsstätten und farbige Rekonstruktionen von Siedlungen. Zahlreiche hochwertige Fotografien herausragender archäologischer Zeugnisse – darunter der späteiszeitliche „Löwenmensch“ von der Schwäbischen Alb (S. 57), die Himmelsscheibe von Nebra (S. 99) und der Sonnenwagen von Trundholm (S. 118) – sorgen insgesamt für eine erfreuliche visuelle Bereicherung der Lektüre.
Kapfenberg Werner Augustinovic